GUARDIANS - Der Verlust. Caledonia Fan
Dem Teenager hatte das Spaß gemacht, selbst wenn es bedeutet hatte, für die mitten in der Nacht von einer Mission heimkehrenden Guardians einen Imbiss bereitzustellen.
Von Anfang an hatte der sanftmütige Junge klargemacht, dass er kein Guardian werden wollte. Jetzt regierte er als ausgebildeter Küchenleiter über sein edelstahl-blitzendes Reich, den spanischen Koch und die beiden Hausmädchen.
Tanyel nickte noch einmal zufrieden vor sich hin beim Anblick des Gesindehauses und wandte sich ab, um in das Haupthaus zurückzukehren und nach der klopfenden Heizung zu schauen.
Derweil saß Rhea in ihrem Zimmer im ersten Stock des alten Herrenhauses und versuchte sich wieder auf das Lernen zu konzentrieren. Es fiel ihr schwer, denn draußen herrschte nicht nur schönstes Wetter, sondern die Stimmen der Schüler in dem Klassenraum gegenüber waren ziemlich störend gewesen.
Vor wenigen Minuten hatte Tamiras Unterricht begonnen und es wurde still auf dem Gang. Rhea trat ans Fenster, öffnete es weit und lehnte sich tief einatmend hinaus. Es war Sommer geworden.
Einen Augenblick erlaubte sie ihren Gedanken, davonzufliegen. Und wie so oft flogen sie zu ihrem Verlobten.
Für sie grenzte es immer noch an ein Wunder, dass Nakoa lebte und sich so gut erholt hatte. Er war vor sechs Jahren bei einer Mission vergiftet worden und um ein Haar gestorben. Issam, der Arzt des Teams, hatte leider recht behalten - Nakoa konnte nach dem langwierigen Heilungsprozess kein Guardian mehr sein. Mit der Erkenntnis dieser Tatsache war ihr Teampartner in ein tiefes Loch gefallen.
Tariq, der damalige Hausherr und Schulleiter, hatte ihm daraufhin angeboten zu studieren und sich in die Unternehmensführung von Genera Medical Developments einzuarbeiten. Zu diesem Zeitpunkt leitete er den Familienkonzern noch selbst. Nakoa war einverstanden gewesen und stand inzwischen kurz davor, leitender Direktor zu werden.
Rhea merkte, dass sie sich vertrödelte, und ging zurück an ihren Schreibtisch. Ihr Psychologiestudium forderte sie, denn Lernen war ihr nie leichtgefallen.
Seufzend sah sie auf die Uhr. Eine Stunde musste sie noch durchhalten, dann würde sie sich einen Kaffee verdient haben. In den acht Jahren, die sie hier in England lebte, hatte sie sich nie an Tee gewöhnen können.
"Du bist zu langsam, Eliasz", knurrte Sadik. "Das muss schneller gehen!"
Der Gemaßregelte schickte lediglich einen kurzen Blick zu seinem Ausbilder hinüber. Mehr traute sich der Blondschopf nicht, denn den vier Jahre älteren Trainingspartner länger aus den Augen zu lassen, würde sich definitiv rächen. Ethan war sagenhaft schnell mit dem Messer. Und es wäre nicht das erste Mal, dass sein Gegner den kalten Stahl der stumpfen Übungswaffe am Hals spürte, während er noch nach einer wirksamen Angriffsstrategie suchte.
Der Sechzehnjährige atmete tief durch. Sadik entging nichts. Er war im Kampftraining gnadenlos und streng und das musste er auch sein. Von den Nahkampffähigkeiten konnte das eigene Überleben oder das von Teamkameraden abhängen. Und deswegen nahm dieses Training mit täglich drei Stunden den Löwenanteil der Zeit ein, den die Guardians und die Anwärter von ihrer Freizeit opferten.
Eliasz konzentrierte sich. An Schnelligkeit konnte er dem Trainingspartner vielleicht nicht das Wasser reichen. Aber dafür war er wendiger als der Ältere. Und das würde er nutzen.
Ethans nächster Angriff lief ins Leere. Eliasz war geschmeidig in die Hocke gegangen und hatte sich dabei blitzartig weggedreht. Gleichzeitig streckte er einen Fuß vor.
Ethan, der ihn in den Schwitzkasten nehmen wollte, torkelte ins Leere und Eliasz' ausgestrecktes Bein brachte ihn zu Fall. Er konnte den Schwung nicht abfangen und stürzte. Es gelang ihm, sich über die Schulter abzurollen, um auf den Rücken zu kommen und nicht auf Bauch und Kinn zu landen. Bevor er sich auf einen Gegenangriff einrichten konnte, saß Eliasz auf seiner Brust und nagelte ihm die Oberarme mit den Knien auf der Matte fest.
Doch einen Sekundenbruchteil später stand Ethan hinter Eliasz und setzte dem jungen Polen das Übungsmesser an die Kehle.
Seufzend hob dieser kapitulierend die Hände.
"Was soll das!", protestierten die anderen, die den Kampf aufmerksam verfolgt hatten. "Fähigkeiten anzuwenden ist im Training nur nach vorheriger Absprache erlaubt!"
Koll und Yonas ballten die Fäuste und schauten aufgebracht zu Ethan hinüber. Der stand noch immer hinter Eliasz und machte keine Anstalten, das Messer von dessen Kehle zu nehmen.
"Ethan!"
Der Ruf des Teamchefs peitschte durch die Trainingshalle. Sadik stand am Rand der Tatami, die bulligen Oberarme vor der Brust verschränkt, und hatte die Stirn gerunzelt.
Was ist mit dem Kerl los, fragte er sich. Zuweilen schien es, als behandelte der Guardian die Gefährten wie echte Gegner. Ja, es war ein Menge Zorn in dem Jungen gewesen, als sein bester Freund vor fast vier Jahren in ein anderes Team kam als er. Ihr Wunsch, zusammenzubleiben, war nicht erfüllt worden und jeder hatte den Frust der beiden verstanden. Doch Bran war damit klargekommen, Ethan nicht.
Sadik als ihr Trainer war sicher gewesen, das würde sich ändern, wenn Ethan für einen jüngeren Guardian die Verantwortung übernahm. Jais hatte die Prüfung im vergangenen Juni bestanden und war ihm zugeteilt worden. Doch obwohl der blonde, langaufgeschossene Däne sich alle erdenkliche Mühe gegeben hatte, war Ethans Verhalten dasselbe geblieben.
Bran versuchte nach wie vor, ihn und seine Ausrutscher zu entschuldigen. Doch auch ihm gingen die Ausreden aus, wenn der Freund wieder mal ein Verhalten an den Tag legte, das eines Guardians unwürdig war.
Sadik nahm sich vor, mit Ethan zu reden. Und er würde seinen Bruder Gaz, den Waffenlehrer der Guardians, bitten, dabei zu sein. Gaz war der Ziehvater des Desaster-Duos und sowohl Bran als auch Ethan hielten viel von ihm.
Ein Blick auf den MFA zeigte Sadik, dass die Trainingszeit um war. "Wir machen für heute Schluss", verkündete er und nickte den Männern zu. Während sie auf die Füße kamen, blieb er stehen und beobachtete, wie Ethan fast widerstrebend das Messer von Eliasz' Hals nahm und wegsteckte. Bran stand gleich darauf neben dem Freund, murmelte etwas und ging zusammen mit ihm hinaus.
Sadik sah es mit verengten Augen und fuhr sich besorgt mit der Rechten durch das militärisch kurz geschnittene, braune Haar. "Bist du in Ordnung?", vergewisserte er sich bei Eliasz.
Der hockte noch immer auf der Tatami und starrte auf den Boden. Jetzt hob er den Kopf.
"Wenn man von meinem angekratzten Selbstbewusstsein mal absieht - ja. Ethan würde mich nie verletzen. Keinen von uns, Sadik. Er ist ein Guardian."
Der Blick aus den graublauen Augen, den Eliasz dem Trainer zuwarf, während er auf die Füße kam, war vorwurfsvoll. Wie konnte der Teamchef an einem von ihnen zweifeln? Obwohl die Zeit im Labor mehr als sechs Jahre zurücklag, hatte Eliasz nichts davon vergessen. Er war eines von den jüngeren Kindern gewesen. Zuerst hatten sie nur Bran gehabt, der sich um sie kümmerte wie ein großer Bruder. Als Ethan dazugekommen war, taten die beiden das zu zweit. Regelmäßig wurden sie hart bestraft für Aufmüpfigkeit und Widerspruch, was meist passierte, wenn sie die Kleinen in Schutz nahmen.
Eliasz würde Ethan immer verteidigen. Selbst wenn der deutlich spürbare Zorn in diesem sich irgendwann unkontrolliert Bahn brach. Falls Sadik es so weit kommen ließ …
Langsam und vorsichtig wurde die schwere Holztür des Büros geöffnet. Zuerst sah Nakoa Rheas Rücken, dann drehte sie sich um und balancierte die beiden dampfenden Kaffeebecher herein.
"Mach eine Pause, ja?", bat sie und schloss die Tür, indem sie ihr mit dem rechten Fuß einen behutsamen Tritt verpasste.
Nakoa musste wider Willen lächeln. Er nickte ihr zu und versuchte das Telefongespräch, das er in makellosem Französisch führte, rasch zu beenden. Nach zwei Minuten war es erledigt.
Er erhob sich aus dem Stuhl hinter dem Schreibtisch, um sich zu seiner Verlobten zu setzen, die in einen der beiden breiten Ledersessel gesunken war.
"Wie kommst du voran?", fragte sie.
Nakoa