GUARDIANS - Der Verlust. Caledonia Fan
den Spind und ließ seine verschwitzte Trainingskleidung in die Wäschebox fallen. "Streit ist okay, doch wir schlagen uns nicht. Du bist lange genug dabei, um das zu wissen. Wenn es drauf ankommt, müssen wir uns unbedingt aufeinander verlassen können."
Bran sah den zwei Jahre älteren Medizinstudenten an. Glaubte der wirklich, dass es Ethan auf Dauer gelang, sein Temperament im Zaum zu halten? Wenn Hennak ihn weiter provozierte, würde bald eine kräftige Prügelei als die erste ihrer Art in die Annalen der Guardians eingehen.
"Wir hatten schon lange keine Mission mehr", lenkte er ab, um das leidige Thema zu verlassen. Er hob die eigene Trainingskleidung mittels seiner Fähigkeit auf und ließ das Bündel quer durch den Raum bis hinüber zur Wäschebox schweben, in die er es fallen ließ. "Die letzte war Anfang Mai, wenn ich mich nicht irre."
Yonas nickte. Auch er sehnte sich nach Abwechslung. Das Medizinstudium fand er sehr interessant, aber es waren oft eintönige Inhalte dabei. Und sein Klinikalltag als Assistenzarzt war auch nicht sonderlich ereignisreich. Da waren solche Ereignisse wie eine Mission willkommen.
"Wartet nur, bis wir den Auftrag erhalten, uns um den Stealer zu kümmern", meinte Trajan, der Brans letzten Satz gehört hatte.
"Der Stealer? Wer ist das denn?" Eliasz hob neugierig den Kopf.
"Na der Typ, der den Begabten ihre Fähigkeit klaut. Noch nie von ihm gehört?"
Damit hatte Tianas Bruder die Aufmerksamkeit aller im Raum. Die anderen kamen näher.
"Wer soll das sein?"
"Nie gehört, den Namen."
"Klär uns mal auf, Gesetzeshüter!"
Alle redeten durcheinander.
Der dreiundzwanzigjährige Polizist lachte und zog das Shirt über den Kopf, das seine trainierten Armmuskeln und die breite Brust überspannte.
"In Ordnung, aber nicht hier. Lasst uns rausgehen. Ich will Sonne tanken!" Und damit drehte er sich um, ließ die anderen stehen und verschwand aus der Umkleide.
Binnen Sekunden war der gesamte Raum leer. Alle waren Trajan gefolgt. Fast alle.
Niemand hatte bemerkt, dass Ethan noch auf seiner Bank saß. Und keinem war aufgefallen, dass La'ith, der auf dem Korridor neben der geöffneten Tür stand, alles mitbekommen hatte.
Er wollte hineingehen zu dem Zurückgelassenen, stoppte aber vor der Tür. Ethan saß mit dem Rücken zu ihm, den Oberkörper vorgebeugt und die Ellenbogen auf die Knie gestützt. Es war nicht zu erkennen, was er tat, also trat La'ith lautlos zwei Schritte näher und konnte sehen, wie der Guardian sein Handy aus der Tasche genommen und eingeschaltet hatte. Lange starrte Ethan einfach nur auf das Display und verharrte bewegungslos. Nach ein paar Sekunden hob er die rechte Hand und strich mit der Kuppe des Mittelfingers ganz langsam über den Bildschirm, behutsam, als würde er etwas zerbrechen, wenn er es grober berührte.
La'ith zog sich zurück, bevor Ethan ihn entdecken konnte. Er hatte genug gesehen. Und es passte zu dem, was er in der letzten Zeit beobachtet hatte.
"Also, wer ist der Stealer? Was hat es mit dem Namen auf sich?"
"Klingt wie aus einem Comic oder einem Fantasyfilm", meinte einer der jüngeren Schüler belustigt.
"Oh, er hat den Namen nach der Tat. Das erste Mal habe ich kurz nach dem Saint George's Day von ihm gehört, also vor vier, fünf Wochen. Inzwischen ranken sich die wildesten Stories um ihn. Sein Name kommt davon, dass er - wie schon gesagt - Begabten ihre Fähigkeit stehlen kann. Es ist bisher viermal vorgekommen, aber das sind nur die bekannten Fälle. Die Dunkelziffer ist wohl höher. Keiner der Betroffenen hat Anzeige erstattet. Was sollte er auch als gestohlen angeben? Und solange es von der Inneren Sicherheit nicht als kriminelle Aktivität betrachtet wird, ermittelt auch keiner", erklärte Trajan.
"Aber wenn es keine Anzeigen gibt - woher wisst ihr dann davon?"
Der Polizist zuckte mit den Schultern. "So etwas 'schweigt' sich herum. Einer erzählt es dem anderen und irgendwann erfahren auch wir es."
Koll, der schwarzhaarige, wortkarge Ire, hatte sich in den zurückliegenden Jahren nicht verändert. Der Zweiundzwanzigjährige überlegte noch immer erst gründlich, bevor er sprach. Nach Trajans Worten runzelte er die Stirn. "Wie macht der Kerl das?", wollte er wissen.
"Vielleicht hat er selbst eine Gabe, die ihn dazu befähigt? Ich habe zwar noch nie von einer solchen gehört, aber es gibt sicher eine Menge Fähigkeiten, die wir noch nicht kennen", mutmaßte der Polizist. "Wir haben auch keine Ahnung, ob er es gezielt auf bestimmte Gaben abgesehen hat. Die bisher gestohlenen waren Giftimmunität, Wasseratmung, Elektrizität erzeugen und Schwingungen spüren. Und wie gesagt, da das Ganze bislang nicht als besorgniserregend angesehen wurde, ermittelt auch niemand deswegen."
"Soll das heißen, er kann einfach so weitermachen?!" Hennak starrte ihn so empört an, als wäre die Tatenlosigkeit der Polizei dafür verantwortlich.
Trajan grinste.
"Ganz ruhig, Hennak", meinte Koll. "Ich denke, es wird genau so kommen, wie Trajan gesagt hat. Irgendwann wird einer klagen, weil einem Familienmitglied oder Freund die Fähigkeit gestohlen wurde. Besonders wenn diese dafür genutzt wurde, Geld in die Haushaltskasse zu spülen. Und wenn die Polizei an ihre Grenzen stößt, dann bekommen wir den Auftrag."
"Oder wir bekommen ihn sofort", ergänzte Trajan, "denn es ist schwierig für die Polizei. Keiner der Bestohlenen kann beweisen, dass er je über eine Gabe verfügte. Es gibt weder Zeugen des Diebstahls noch Verdächtige und nicht einen einzigen brauchbaren Anhaltspunkt. Ich bin wirklich froh, dass ich kein Ermittler bin."
"Hast du Sadik schon davon erzählt?", wollte Yonas wissen.
"Nein. Meinst du, ich sollte es?"
"Ich denke schon. Dann kann er sich schon mal ein wenig darauf vorbereiten, falls wir doch ins Spiel kommen."
"Ich rede heute Abend mit ihm." Trajan erhob sich und dehnte die Schultern. "Erst geh ich noch eine Runde laufen vor dem Abendessen. Kommt jemand mit? Niemand? Dann los, Jais, auf geht's." Er sah den ehemaligen Teampartner auffordernd an.
Obwohl der junge Däne bereits frisch geduscht war, schnürte er widerspruchslos seine Turnschuhe fester und schloss sich Trajan an, der schon einige Meter Vorsprung hatte.
Wie immer schlug der Polizist die Richtung zum Wald ein. Es war seine Lieblingsstrecke. Sie führte über den Weg, den die Kameraden vor sechs Jahren als Fußpfad selbst geschlagen und später mit reichlich Mühe und Schweiß ausgebaut und befestigt hatten, bis hin zum See. Dort stand die Hütte, in der La'ith lebte, und gleich daneben war dessen Bruder begraben worden.
Trajan legte an Ahmads Grab immer eine kurze Pause ein. Jais respektierte das und er lief jedes Mal einfach weiter, um dem Kameraden ein paar Minuten des Alleinseins zu ermöglichen, obwohl dieser ihn nie darum gebeten hatte. Die Strecke führte um den See herum zum Haupttor am Ende der Nordauffahrt. Bis dahin hatte Trajan ihn eingeholt. Wenn das dem Älteren noch nicht reichte, liefen sie weiter an der Straße entlang, um über das Osttor wieder auf das Grundstück zu kommen. Von dort ging es zu den Wirtschaftsgebäuden, vorbei am Gartenhäuschen und den drei Gedenksteinen und wieder zum Haus. Meistens waren sie pünktlich zurück, so dass sie duschen konnten, bevor der Gong zum Abendessen rief.
Erst nach dem Abendessen war Tamira wieder dazugekommen, Informationen über Clarice im Netz zu suchen. Sie forschte akribisch, doch außer der Vermisstenanzeige war nichts zu finden.
Tiana hatte gesagt, dass zwei weitere Elternpaare die Anmeldung ihrer Kinder von der Schule zurückgezogen hatten. Einer plötzlichen Eingebung folgend wies Tamira ihren Computer an, nach allem zu suchen, was im Internet über deren Sprösslinge zu finden war. Vielleicht gab es ja da etwas Auffälliges zu entdecken oder gar einen Zusammenhang.
Sie begann mit der ältesten Meldung. Das ist wirklich interessant, dachte sie bei sich. Der zwölfjährige Junge aus Guatemala war ebenfalls als vermisst gemeldet worden, nachdem auch er vorher spurlos verschwunden war. Am fünften Mai, drei Tage später, fand