Die Beichte - Roland Benito-Krimi 4. Inger Gammelgaard Madsen

Die Beichte - Roland Benito-Krimi 4 - Inger Gammelgaard Madsen


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nie herausgefunden, was bei der Beerdigung ihrer Mutter passiert ist?«

      »Das geht mich ja nichts an«, wich Anne aus. Sie legte immer Wert darauf, ihre Quellen zu schützen, und für einen Kriminalreporter könnte Kamillas mysteriöser Vater leicht eine spannende neue Aufgabe werden.

      »Natürlich geht das die neugierige, allwissende Journalistin Anne Larsen etwas an.« Er klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. Im hellen Licht, das durch das Fenster fiel, zeichneten sich auf seiner winterblassen Haut die Sommersprossen deutlich ab. Verschmitztes Vergnügen lag in diesen grünen Augen. Sie ließen ihn immer erscheinen, als amüsiere er sich, auch wenn der Rest des Gesichts ernst blieb. Mal abgesehen von dem Tag, an dem er ihr die Ohrfeige verpasst hatte. Da hatten sie vor Wut geleuchtet. Aber diese Backpfeife hatte sie damals wohl auch verdient gehabt.

      »Ich bin keine Journalistin mehr, Nicolaj.« Sie stellte sich der Wahrheit. »Ich bin bis jetzt arbeitslos gewesen. Gerade heute habe ich eine neue Stelle angetreten. Eine ganz neue Tätigkeit. Als Reinigungskraft bei einer privaten Firma.«

      »Putzfrau! Das kann nicht dein Ernst sein, Anne! Mit deinen Fähigkeiten! Du könntest ohne weiteres selbst eine … Schau doch mich an.«

      »Ich habe den Glauben an die Branche verloren. Du nicht?«

      »Doch, am Anfang ist es mir genauso gegangen. Aber wenn es in der Zeitungsbranche keine Arbeit als Journalist mehr gibt, müssen wir uns eben selbst um neue Arbeit kümmern. Du solltest nicht putzen, so aktiv und engagiert, wie du bist. Denk mal dran, wie viele Verbrechen du mit aufgeklärt hast. Vermisst du das nicht?«

      »Gott, und wie! Aber was hilft das, wenn es keine Stelle für mich gibt?« Sie rührte den Milchschaum in der Tasse um, irritiert darüber, dass sie nicht denselben Mut hatte wie er. Er war nur ein junger Kerl ohne besonders viel Erfahrung: Wie alt mochte er jetzt sein – zwanzig, einundzwanzig? Sie müsste jetzt eigentlich diejenige sein, die bei TV 2 arbeitete und das Tun und Treiben des Vermissten nachverfolgte.

      »Was weißt du sonst noch über diesen Tobias Abrahamsen?«

      »Keiner weiß besonders viel über ihn. Stiller Typ, der seine eigenen Wege geht. Ein paar Klassenkameraden haben ihn letzten Samstag offenbar gegen seine Gewohnheit in die Stadt gelockt und betrunken gemacht. Er ist nicht wieder zu Hause eingetroffen und seither wie vom Erdboden verschluckt.«

      »Seine Familie?«

      »Seine Mutter ist vor drei Jahren gestorben, sein Vater hat vor einem Jahr Selbstmord begangen. Seither hat er bei seiner Oma gewohnt, die sein einziger Vormund ist.«

      »Und warum hat sein Vater Selbstmord begangen?«

      »Keine Ahnung. Glaubst du, das ist wichtig?«

      »Alles ist wichtig, wenn man eine verschwundene Person finden will.«

      »Ich hatte jetzt nicht gerade vor, auch die Vergangenheit der Familie unter die Lupe zu nehmen. Die wirklich interessanten Spuren sind diejenigen, die uns verraten, wo er Samstag Nacht hingegangen ist.«

      »Natürlich. Aber wenn ich du wäre, würde ich trotzdem ein biss­chen auf die Familie schauen. Das macht die Polizei bestimmt auch.«

      »Ja, aber wir sollen doch nicht die Arbeit der Polizei erledigen, nicht wahr, Anne?« Er schaute sie mit einem Blick an, dass sie fast wieder eine Ohrfeige erwartete und sich nicht traute zu erwidern, dass sie da anderer Ansicht sei.

      »Wo in der Stadt sind sie denn gewesen?«

      »Im Fatter Eskild.«

      »Ich wette, er ist in den Fluss gefallen.«

      Nicolaj schaute hinaus auf den Lauf der Aarhus Å. »Das ist es, was für gewöhnlich passiert. Angesichts all der Cafés, Kneipen und besoffenen Menschen wundert es mich fast, dass da nicht noch öfters jemand ein unfreiwilliges Bad nimmt oder gar ertrinkt – bei der schlechten Absperrung.«

      »Tja, je weniger Vorbeugung, desto besser ist es oft. So wissen die Leute wenigstens, dass man leicht hineinfallen kann, und passen auf. Es sind ja auch nicht unbedingt die, die direkt an einer vielbefahrenen Überlandstraße wohnen, die überfahren werden, stimmt’s?«

      Er deutete mit dem Finger auf sie, als habe sie den Nagel auf den Kopf getroffen. »Genau! Aber darf ich jetzt was von deiner neuen Arbeit hören? Was hast du heute gemacht? Wie viele Kloschüsseln hast du geschafft?« Wieder funkelte Vergnügen in seinen Augen.

      »Du solltest dich nicht über Reinigungskräfte lustig machen, Nicolaj. Das ist wirklich harte Arbeit. Im Vergleich zu so vielen anderen machen wir uns für unseren erbärmlichen Lohn echt verdient.«

      »Ich weiß. Meine Mutter ist auch putzen gegangen. Sie hat sich regelrecht zu Tode geschuftet. Deshalb finde ich ja auch, dass du dir eine andere Arbeit suchen solltest.«

      Tue, der Kameramann, stand plötzlich vor dem Fenster und klopfte. Er zeigte auf seine Uhr und gab Nicolaj hektische Zeichen, dass sie weitermussten. Nicolaj leerte seine Tasse und erhob sich.

      »War schön, dich wiederzusehen, Anne, ich muss jetzt los. Wir sehen uns ein andermal.« Er umarmte sie noch einmal, sie atmete den Duft seines Deos ein und erinnerte sich an die gemeinsamen Fahrten in Kamillas Geländewagen. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr das Herz zu einer kleinen Rosine zusammenschrumpfen.

      Er warf eine schicke Visitenkarte auf den Tisch. »Melde dich, wenn du Lust hast.«

      Sie blieb sitzen und sah den beiden neidisch nach, als sie plaudernd Richtung Busstraße gingen.

      12

      Der Regen hatte mitten am Nachmittag begonnen. Jetzt war es halb sechs und das Wasser spritzte aus den Pfützen an ihren Strümpfen hoch, als sie über den Parkplatz lief. Dort standen nur noch wenige Autos. Ihres und zwei andere. Sie hatte länger bleiben müssen und gab der verlängerten Mittagspause die Schuld. Die Regentropfen wurden schwerer und dichter. Der Regenschirm lag im Auto. Wo auch sonst. Sie suchte in ihrer Handtasche nach dem Autoschlüssel, der sich immer versteckte. Rolando machte gerne irgendwelche lustigen Bemerkungen über Damenhandtaschen, aber ihr selbst fiel gerade keine ein. Sie versuchte, die Tasche möglichst wenig zu öffnen. Ihre Kleider war bereits durchnässt und das Haar klebte ihr platt am Kopf, es fing die Regentropfen auf und ließ sie ihr das Gesicht herunterrinnen, sodass sie die Augen zusammenkneifen musste, um kein Wasser hineinzubekommen.

      Der Parkplatz kam ihr plötzlich sehr einsam vor. Der prasselnde Regen und das Rauschen des Windes, der ebenfalls stärker geworden war, waren die einzigen Geräusche. Die Sache in Holstebro. Jene Frau war auf dem Parkplatz vor dem Jobcenter ermordet worden. Mit einem Messer. Endlich trafen ihre Finger den kalten Stahl des Schlüssels, sie zog ihn mit zitternden Fingern aus der Handtasche, er glitt ihr aus der Hand und klatschte in eine Pfütze, sie bückte sich und zog ihn wieder heraus, trocknet ihn an ihrer Jacke ab, schloss auf. Saß da nicht jemand in dem Auto, das dort vorne nahe der Ausfahrt parkte? Hinter den nassen Scheiben konnte man die Silhouette gerade noch so erahnen. Sie riss die Wagentür auf, stieg schnell ein, knallte sie zu und schloss ab. Beobachtete das Auto an der Ausfahrt. Es war ein alter schwarzer Volvo, so wie der, den der Rechtsmediziner Henry Leander fuhr, der aber konnte es nicht sein. Sie versuchte das Nummernschild zu erkennen, das gelang ihr aber nicht; der Regen verschleierte die Sicht. Die Scheibenwischer sollten jetzt angehen. Das Auto sollte anspringen! Der erste Seufzer des Motors übertrug sich auf ihre Nackenhaare. Rolando sprach immer von Ameisen, die in seinem Nacken krabbelten, wenn er angespannt war – fühlten die sich so an? Sie versuchte es erneut. Noch ein Seufzer, dann sprang der Motor kurz an und erstarb sofort wieder.

      »Verdammt!«

      Das Handy war immer noch aus. Es lag ganz oben in der Tasche auf dem Beifahrersitz und wirkte eher wie eine Bedrohung als ein Mittel zur Rettung. Sie starrte es lange an, bis sie es vorsichtig anschaltete, als könne Vorsicht verhindern, was auch immer jetzt passieren würde. Mit Pieptönen ging eine SMS nach der anderen ein, sie wollte schreien. Die Umgebung des Autos war ein einziges graues Durcheinander aus verschwommenen Umrissen. Das Wasser trommelte aufs Dach und lief in Strömen über die Frontscheibe. Sie fühlte sich wie eine panische Maus, gefangen in einer Dose, auf


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