Die Beichte - Roland Benito-Krimi 4. Inger Gammelgaard Madsen

Die Beichte - Roland Benito-Krimi 4 - Inger Gammelgaard Madsen


Скачать книгу
etwas – oder war das bloß das Wasser, das die Scheibe hinunterströmte? Gehirn und Finger wollten nicht zusammenarbeiten; es war reine Routine, dass sie Rolandos Nummer wählte. Er ging nicht ran, sie ließ es klingeln. Versuchte es wieder. Ließ es klingeln. Ihr Hals war wie zugeschnürt und ein Schluchzer nach dem anderen entrang sich ihrer Kehle. Saß in dem Auto da vorne immer noch jemand? Sie wünschte es sich – und wünschte es sich auch wieder nicht. Vielleicht könnte dieser Mensch helfen, ihren Motor in Gang zu bringen? Sie nahm den Regenschirm vom Rücksitz, legte die Hand auf den Türgriff und wollte schon öffnen, überlegte es sich aber anders. Sie holte tief Luft und versuchte sich zusammenzureißen. Erwachsen zu sein. Die Nummer des Rettungsdienstleisters Falck war glücklicherweise in der Kontaktliste des Handys gespeichert. Die Stimme der Frau, die den Anruf entgegennahm, erschien ihr wie vom Himmel gesandt – ein freundlicherer Himmel als der dort draußen. Sie versprach, den Pannendienst zu schicken, aber es könne eine ganze Weile dauern, weil der unerwartete Wolkenbruch für eine Menge Notfälle gesorgt habe. Irene erklärte außer Atem, dass es sehr dringend sei, sie müsse so schnell wie möglich nach Hause. »Das sagen alle«, lachte die Frau und wünschte ihr einen guten Abend. Sie sah es nun deutlich durch den Regen. Jemand war auf dem Weg zu ihr. Einer, der aus dem schwarzen Volvo gestiegen war. Ein dunkler Schatten, der immer mehr die Form eines Menschen annahm, je näher er kam.

      Der Puls hämmerte ihr im Hals, dann drehte sie fieberhaft den Autoschlüssel, versuchte es wieder und wieder. Erst der Seufzer, dann ein schleifendes Geräusch … Aber dann kam der Motor. Trotz des Risikos, ihn abzuwürgen, trat sie sofort aufs Gaspedal, das Auto machte einen Satz nach vorn, der dunkle Schatten schaffte es gerade noch wegzuspringen; oder hatte sie ihn gar erwischt? Viel zu schnell fuhr sie zur Parkplatzausfahrt, endlich bekam sie die Scheibenwischer an und konnte sich orientieren. Jemand hupte aggressiv, als sie auf die Straße abbog, ohne sich zuerst zu vergewissern, ob frei war. Draußen zwischen den anderen Autofahrern wurde ihr Atem ruhiger und sie traute sich, in den Rückspiegel zu sehen. Glücklicherweise war nicht viel Verkehr, die meisten blieben bei dem Unwetter zu Hause, sonst wäre ihr gewagtes Manöver wohl nicht ohne Blechschaden ausgegangen.

      Schon ließ der Regen wieder nach, und als sie den Oddervej erreichte, war er vorbei, es klatschten lediglich schwere Tropfen von den frischen Blättern im Marselisborg-Wald. Sie war wieder ruhig. Wollte lachen. Prustete los. Wenn Rolando wüsste, wie dumm sich seine Polizistenfrau doch anstellte. Trotzdem japste sie erschrocken nach Luft, als das Handy auf dem Beifahrersitz neben ihr zu hopsen, zu tanzen, zu brummen anfing. Es war Rolando. Die Befreiung, die sie beim Klang seiner Stimme verspürte, verbannte endgültig alle Schrecken aus ihrem Körper. Vor Erleichterung hätte sie beinahe geweint.

      »Du hast angerufen. Entschuldigung, aber ich hab es jetzt erst gesehen, ich bin noch nicht dazu gekommen, dich …«

      »Das ist völlig okay, Rolando. Ich wollte nur anrufen, um zu sagen, dass ich ein bisschen später komme, aber jetzt bin ich gleich zu Hause.«

      »Dann bin ich ja einmal vor dir zu Hause. Ich brutzele uns schon mal was zu essen. Soll ich einen Wein aufmachen?«

      »Ja, tu das unbedingt, Schatz.«

      Ein tiefer Seufzer rückte alles wieder gerade. Die Normalität war wiedergewonnen, einmal abgesehen von der Tatsache, dass Rolando heute ausnahmsweise vor ihr zu Hause war. Sie brachte den Mut auf, die SMS-Nachrichten zu überfliegen, während das Auto fast von selbst den Weg nach Hause fand. In allen stand das Gleiche. Wieso gehst du nicht ran, Bitch?!!!

      Reflexartig schaute sie in den Rückspiegel und sah die Lichter dicht hinter sich. Es war der schwarze Volvo vom Parkplatz, aber nun konnte sie glücklicherweise den Giebel der Villa und den Wipfel der Blutbuche sehen. Sie beschleunigte, bis kurz bevor sie in die Einfahrt bog, fuhr eilig in die Garage und machte den Motor aus. Rolando schaute aus dem Küchenfenster. Gott sei Dank, er war zu Hause. Der schwarze Volvo glitt langsam auf der Straße vorbei und verschwand.

      13

      Es war exakt 00:00 Uhr, als sie von einem Geräusch geweckt wurde. In dem alten Kloster gab es viele Geräusche, aber an die meisten davon war sie gewöhnt. Als sie sich im Bett aufrichtete und lauschte, wusste sie nicht genau, was sie geweckt hatte, doch es schien ihr ein lauter, unmenschlicher Schrei gewesen zu sein. Sie legte sich auf das Kissen zurück und starrte hinaus in die Dunkelheit. Vielleicht ein Traum? Einer jener Träume, in denen es einem so vorkommt, als sei man wach. Nur das Trommeln des Regens gegen die Scheibe war zu hören. Aber war das nicht ein Klopfen an der Tür? Rasch setzte sie sich wieder auf und knipste das Licht an. Wieder klopfte es vorsichtig und kurz darauf steckte die Postulantin ihren Kopf herein. Als sie sah, dass sie Licht anhatte, lief sie zum Bett und machte Anstalten, sich unter der Decke zu verkriechen.

      »Was ist denn los, Schwester Laura?«

      »Hast du das denn nicht gehört? Der Schrei!«, japste das Mädchen mit kugelrunden Augen.

      »Ich weiß nicht, irgendwas hat mich geweckt. Ich habe gedacht, es sei nur ein Traum …«

      »Das war ein Schrei. Alle Schwestern haben ihn gehört, sie sind bei Schwester Anna versammelt.«

      »Mutter Helene auch?«

      »Nein, sie hat ihn wohl nicht gehört – da drüben.«

      Mutter Helenes Zimmer war das älteste und lag dort, wo der Ostflügel begann. Dort wohnten auch zwei der ältesten Nonnen, die meistens für sich waren und sich nicht viel unter die Jungen mischten. Man sah sie im Sommer im Park herumspazieren; ein Vorbild dafür, wie man wird, wenn man Gott ein Leben lang treu gedient hat. Aufrecht und majestätisch schritten sie in ihren Nonnentrachten einher, und ihre Gesichter strahlten so viel Ruhe und Lebensweisheit aus, dass Margaretha überzeugt war, selbst nie so weit zu kommen.

      »Das kann kein Schrei gewesen sein. Das war bestimmt nur der Wind.«

      »Aber das Unwetter ist doch vorbei.« Lauras Stimme klang zittrig, als friere sie.

      »Nicht ganz. Es ist draußen immer noch windig. Geh jetzt einfach wieder ins Bett.«

      »Darf ich nicht hierbleiben? Die anderen machen mir nur noch mehr Angst. Sie reden über Gespenster im alten Flügel und Schwes­ter Anne-Marie sagt, dass dort ein alter Mönch wiedergeht und dass einige ihn gesehen haben. Das eine Auge fehlt ihm und …«

      »Schwester Anne-Marie hat eine lebhafte Fantasie, natürlich spukt es dort nicht.« Sie hob die Decke an und Schwester Laura kroch zitternd darunter. Ihre Haut war kalt und Margaretha nahm sie instinktiv in den Arm, um sie zu wärmen. Es dauerte nicht lange, bis sich das Geräusch von Schwester Lauras ruhigem leisem Schnarchen mit dem Prasseln der Regentropfen an der Scheibe vermischte. Aber sie hatte Recht. Das große Unwetter war vorbei, es konnte nicht der Wind gewesen sein.

      Schwester Lauras Kälte wanderte in Margarethas Körper. Sie konnte eine Gefahr in der Dunkelheit spüren. Eine andere Präsenz. Etwas Erschreckendes und Lähmendes. War das Gottes Zorn darüber, dass sie einen anderen Menschen in ihrem Bett liegen ließ, jetzt, wo sie ihm doch bald geweiht werden sollte? Aber seine Liebe war doch nicht fleischlich. Sie roch Schwester Lauras Haar und spürte ihre rechte Brust an ihrem Arm. Oder war es wegen der verbotenen Wärme und des pochenden Gefühls, das sich plötzlich in ihrem Schoß ausbreitete?

      Sie versuchte, ihre Gedanken auf den vergangenen und den kommenden Tag zu lenken. Es passierte immer eine Menge, wenn Pater Josef zu Besuch war. Er umarmte die jungen Mädchen in seiner Güte, und es war wohl in Ordnung, dass er das tat. Mutter Helene sah lächelnd zu, und sie war doch sonst immer voller Ermahnungen schon bei den kleinsten Anzeichen unschicklichen Verhaltens. Wie konnte Pater Josef nur so leben? Wie konnten das alle Priester? Männer haben ein Verlangen, sie hatte das so oft gehört, ehe sie ins Kloster gekommen war. Einen Trieb, den sie nicht steuern konnten. Es musste Gottes Kraft sein, die verhinderte, dass auch Priester diesen Trieb hatten. Damit sie nicht darunter leiden mussten. Gott gab sie ihnen, diese Kraft, als Belohnung für ihre Gelübde, für ihre ewige Treue zu ihm. Sie musste wohl einfach nur fest genug glauben, dann würde er endlich auch sie auf die gleiche Weise belohnen.

      Schwester Laura drehte sich mit einem kleinen Seufzer im Bett. Sie spürte ihren warmen Atem an ihrem Hals, der Atem war ruhig und rhythmisch. Ohne die


Скачать книгу