Die Beichte - Roland Benito-Krimi 4. Inger Gammelgaard Madsen

Die Beichte - Roland Benito-Krimi 4 - Inger Gammelgaard Madsen


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den AA-Treffen, wie ihre Sachbearbeiterin es ihr empfohlen hatte, und hatte ihren Lebenswandel entsprechend umgestellt, sodass die Küche glücklicherweise nicht von Bierkäs­ten und leeren Flaschen überquoll wie das letzte Mal, als sie hier gewohnt hatte. Anne war im Grunde froh, dass sie Torstens damaligen Übergriff auf Esben nicht weiter kommentierte. Hatte Esben überlebt? Sie hatte ihn danach nicht mehr sehen dürfen. Seine Eltern hatten es verhindert, und danach waren sie sicherlich umgezogen – oder war sie selbst zuerst geflüchtet? Das musste in der Zeit gewesen sein, bevor Torsten wegen Mordes an einem Dealer in Kopenhagen-Nørrebro verhaftet worden war.

      »Litauen ist schöner, als die meisten denken«, meinte Rose, als Anne den Tisch gedeckt und sie Platz genommen hatten. »In Wilna sind die alten Häuser an der Hauptstraße so schön, dass man sich in die Renaissance zurückversetzt fühlt, und es gibt so viele Störche.«

      Anne lächelte. Es war selten, dass ihre Mutter geradezu poetisch wurde. »Weißt du, ob Adomas in irgendetwas Kriminelles verwi­ckelt war? Seine Freunde sind es schließlich gewesen.«

      »Nicht Adomas. Das glaube ich nicht«, erwiderte ihre Mutter bestimmt. »Warum? Glaubst du das?«

      »Nee, es ist nur merkwürdig, dass wir nichts mehr von ihm hören. Hast du mit seiner Familie in Litauen gesprochen?«

      »Nein, ganz bestimmt nicht! Nachdem damals dein Vater bei dem Autounfall ums Leben gekommen ist, schienen sie irgendwie nichts mehr von mir wissen zu wollen. Sie haben sogar behauptet, du wärst gar nicht seine Tochter. Würden sie dich heute sehen, hätten sie sicher keine Zweifel. Das war, als es darum ging, sein Erbe aufzuteilen. Er hatte als Fahrer, der zwischen Litauen und Dänemark pendelte, ziemlich viel verdient und seit langem darauf gespart, für uns ein Haus in Dänemark zu kaufen.« Tränen stiegen ihr in die Augen. »Ich habe nichts bekommen, und nur die Jungs haben weiterhin den Kontakt gehalten.«

      »Mama, du musst ganz schön einsam gewesen sein«, rutsche es Anne heraus.

      »Nein, Quatsch. Ich hatte ja dich, und dann habe ich Torsten getroffen. Er hat sich um mich – um uns – gekümmert.«

      »Er war doch nur ein weiteres Unglück. All diese Dreckskinder aus seinen früheren Ehen, mit denen er dich belastet hat, und dann sein …«

      »Sprich nicht so über deine Geschwister – und deinen Vater.«

      »Stiefvater, und diese Bälger sind nie meine Geschwister gewesen. Haben sie sich etwa noch mal bei dir blicken lassen? Sie müssen ja mittlerweile auch erwachsen sein.«

      Das Schweigen ihrer Mutter war Antwort genug. Sie saßen lange da, ohne etwas zu sagen.

      »Wann soll ich dich zu dem Treffen fahren?«, fragte Anne endlich und freute sich schon darauf, allein zu sein.

      Ihre Mutter kaute auf einem Stück Weißbrot mit Salami und schaute auf die Uhr. »In einer halben Stunde, dann kann ich noch zu Ende essen.«

      Anne ließ den Abwasch stehen, als sie vom Gemeindezentrum am St.-Markus-Kirchplatz zurückkam, wo die Treffen der Anonymen Alkoholiker stattfanden. Obwohl sie immer noch todmüde war, fuhr sie den Laptop hoch und zündete sich eine Zigarette an. Kamillas Vater. Was war der wohl für einer? Sie gab seinen Namen im Google-Suchfeld ein. Der erste Treffer war das Foto einer Fußballmannschaft von 1965. Sein Name stand unter dem Bild. Von links: Mogens Arnskov Aagaard. Dann noch ein paar andere Namen. Sie studierte es näher. Es war ein schlecht gescanntes Schwarz-Weiß-Foto, daher war es nicht ganz scharf. So in etwa hatte Kamillas Vater also ausgesehen mit – ja, wie alt war er da wohl gewesen, neunzehn, zwanzig? Er hatte Fußball gespielt, aber nicht auf hohem Niveau, sicher nur aus Spaß am Sport oder der Kameradschaft wegen. Aber in dem dazugehörigen Artikel waren keine Einzelheiten über die verschiedenen Spieler vermerkt, und es war der Einzige, den sie finden konnte.

      Anne griff nach der Zigarette und nahm einen Zug. Diese Suche brachte nicht besonders viel. Nach kurzem Grübeln legte sie die Zigarette in den Aschenbecher, loggte sich bei Facebook ein und suchte da nach ihm. Doch er war nicht bei Facebook. Einer der wenigen Dänen, die bei diesem weltumspannenden Netzwerk noch nicht mitzogen. Was war mit seiner Frau? Alice hieß sie, hatte Kamilla gesagt. Alice Arnskov Aagaard. Sie war auch nicht bei Facebook. Dann probierte Anne ihren Namen bei Google, das klappte ein biss­chen besser; es gab zahlreiche Treffer, weil sie sozial sehr engagiert war. Es gab auch einen Artikel, den ein paar ihrer Freundinnen anlässlich ihres fünfzigsten Geburtstags verfasst hatten. Ihr Mädchenname war Alice Van Marwijk, ihre Familie war holländischer Herkunft. Sie war die Tochter eines Kaufmanns und besaß eine Modeboutique in Bønnerup Strand, der Einzelhandel lag ihr im Blut. Sie hatte auch eine Zwillingsschwester, Ditte. In dem Artikel wurde sie als »Alices andere Hälfte, die an dem großen Tag fehlen« würde, bezeichnet. Warum war sie beim fünfzigsten Geburtstag ihrer Schwester nicht dabei? Anne zündete sich eine neue Zigarette an und ließ sie zwischen den Lippen hängen, während sie den Namen der Schwester ins Suchfeld eintippte. Es gab mehrere Treffer, aber keine der Frauen war Alices Schwester. Nach einer halbstündigen Suche war sie schon kurz davor aufzugeben, aber dann tauchte ihr Name plötzlich in einem Familienstammbaum auf. Ditte Van Marwijk war 1972 bei einem Unfall ums Leben gekommen.

      Anne lehnte sich auf dem Stuhl zurück und streckte sich. Aber das erklärte immer noch nicht, warum Kamillas Vater nichts von seiner Tochter wissen wollte. Was war da passiert? Als sie bemerkte, wie spät es war, wurde sie hektisch. Sie sollte jetzt lieber ihre Mutter abholen gehen. Sie drückte auch die letzte Zigarette im Aschenbecher aus. Mit einem lauten Seufzer, die Jacke über die Schulter gelegt, lief sie hinunter zum Wagen.

      15

      Er kam bereits am späten Nachmittag mit dem Flugzeug aus Rom und traf kurz vor der Vesper im Kloster ein. Vom Kräutergarten aus konnten sie ihn schon von weitem sehen, als er vor dem Klostertor aus dem Taxi stieg.

      »Wer ist das?«, fragte Schwester Laura und strich sich mit einer schmutzigen Hand den blauen Arbeitsschleier aus dem Gesicht. Es war ein warmer Tag, aber eine leichte Brise ließ ihnen die Schleier um die Ohren wehen.

      Schwester Margaretha sah nur kurz zu dem Neuankömmling hinüber und konzentrierte sich dann wieder aufs Jäten. Schwes­ter Laura fiel es auch bei der Arbeit reichlich schwer zu schweigen. Doch sollte die Arbeitszeit in Schweigsamkeit verbracht werden, damit auch sie für stille Gespräche mit Gott genutzt werden konnte. Wenn sie alleine arbeitete, konnte sie seine Gegenwart spüren, aber Lauras Gerede störte. Daher versuchte sie der Postulantin möglichst aus dem Weg zu gehen. Auch sah sie sie immer wieder mit diesem Blick an, der ihr nicht gefiel, der irgendwie allzu tief in ihre Intimsphäre einzudringen schien. Auf eine Weise, die sie beunruhigte. Margaretha überlegte, ob sie nicht mit Mutter Helene darüber sprechen sollte. Ja, das war wohl das Beste. Sie richtete sich auf und sah die Äbtissin auf der Klostertreppe lächelnd den kleinen alten Mann in Empfang nehmen. Er hatte einen krumm gebeugten Gang, war schwarz gekleidet und kahlköpfig. Vielleicht sollte sie das Gespräch mit Mutter Helene möglichst bald suchen, damit diese die Sache ihrem Gast gegenüber erwähnen konnte, dann könnte er die Angelegenheit professionell beurteilen.

      »Das ist Pater Francesco.«

      »Ein neuer Lehrer?«

      »Nein, Pater Francesco ist einer der besten Exorzisten des Vatikans.«

      »Was? Ein …?«

      »Ein Exorzist. Teufelsaustreiber.«

      Laura schnürte sich sichtlich der Hals zu. Sie blickte Schwester Margaretha ängstlich an und fragte mit beklommener Stimme: »Ist denn unter uns jemand von Dämonen besessen?«

      »Pater Josef hat Mutter Helene geraten, Pater Francesco die Verhältnisse im Kloster untersuchen zu lassen, weil so viele von uns von einer bösen Erscheinung beeinflusst werden.«

      »Also das Gebäude! Das Kloster ist besessen!« Schwester Lauras Augen wurden so kugelrund wie in der Nacht, als sie in Schwester Margarethas Zimmer gekommen war. Eine Nacht, an die sie besser nicht zu denken versuchte.

      »Genau das ist es, was Pater Francesco als Erstes herausfinden soll.«

      »Und wenn es wirklich besessen ist, kann er die Dämonen dann austreiben?«


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