Lasse Laufen. Paul Frommeyer
– mit weit rausgestreckter Brust und nach zwei Aaahs und Hommms – sagt er seelenruhig: „Spiel endlich zu Ende? Ich laufe immer pünktlich zum Anstoß los, versuche, nach Möglichkeit nicht vorm Schlusspfiff zurück zu sein. Wie ist es denn ausgegangen?“
„Wie es ausgegangen ist? Es ist aus. Wir sind ausgeschieden!“
„Sehen Sie“, sagt er, noch immer seelenruhig, „mit dem Fußball ist eben kein Staat zu machen, bei allem patriotischen Gezeter. Wie oft habe ich Ihnen gesagt, im Laufen liegt die Kraft!“
„Zu oft, Herr Nachbar, einmal zu oft. Sie Ignorant, Sie Monomane des Rumrennens, die Nation heult und Sie, Sie …“ Weiter kam ich nicht. Aller Frust über die Niederlage von Ballack, Poldi und Co. lähmte mir die Zunge. Alle Wut auf den sich jetzt dynamisch selbstzufrieden erhebenden Herrn Nachbarn bündelte sich. Ja, und in diesem Augenblick spürte ich den unbedingten Wunsch nach Mord. Wie eine heilige Aufgabe und stellvertretend für alle im Lande, die da trauerten: Würgen würde ich ihn, bis ihm seine austrainierte Lunge den Dienst versagte.
Dass daraus nichts wurde, das nun hat mit einem Umstand zu tun, der mir später doch zu denken gab. Als ich mich nämlich in Gang gesetzt hatte und hinter dem Nachbarn herspurtete, der seinerseits nur in einem mittleren Tempo den Restweg bis nach Hause angetreten war, da ging mir nach wenigen Metern die Puste aus. Nur das, ich schwöre es, rettete dem Kerl das Leben.
Zurück ging ich langsam. Und vier Tage später, beim Spiel um Platz drei, wusste dann inzwischen die ganze Nation, dass wir eben doch Weltmeister geworden waren. Weltmeister der Herzen. Wie schwach und untrainiert dies Organ beim einen oder anderen auch sein möge; dass mir dies ausgerechnet bei einem gescheiterten Mordversuch bewusst wurde, damit hatte ich nicht gerechnet. Sollte ich vielleicht doch mal die Laufschuhe …?
Spiridon hat vier Beine
Die Abschweifung ist der Langstreckenlauf des Geistes. Anders gesagt: warum denn gleich zum Thema kommen, wenn es auch über Umwege geht. Ich beginne also mit Quietscheentchen. Mit den Quitscheentchen Loriots. Sie wissen schon, diese niedlichen Spielzeugtierchen, über deren An- oder Abwesenheit in der unfreiwillig gemeinsam genutzten Badewanne Herr Dr. Klöbner und Herr Müller-Lüdenscheidt so lange streiten, bis Klöbner irgendwann damit droht, sich selbst zu ersäufen.
„Die Ente bleibt draußen, Herr Müller-Lüdenscheidt!“
„Ich bade immer mit der Ente, Herr Doktor Klöbner!“ – Später hält dieser sich die Nase zu, holt tief Luft, taucht ab und … blubb, blubb, blubb. Nach dem Wiederauftauchen dann der unmissverständliche Gesichtsausdruck des Doktor Klöbner: „Herr Müller-Lüdenscheidt, ich kann auch noch länger, wenn nötig so lange, dass Sie, Herr Mitbadender, den Ärger mit meiner Leiche in der Wanne haben.“
Die Leiche hat uns der geniale Loriot erspart. Präsentierte dafür in einem anderen Sketsch den sprechenden Hund, womit wir schon fast beim Thema wären. Der Hund also kann sprechen, welch sensationelle Erscheinung. Ein Fall für den wissenschaftlichen Fachmann, dem der Hundehalter die wundersame Fähigkeit seines Vierbeiners zu demonstrieren vorgibt. Die Artikulationen des Tieres – politisch brisante Themen werden ausgespart – bleiben auffallend eintönig. Zum Schluss übersetzt der stolze Eigentümer des Jaulers dessen monoton wiederkehrendes „Huh, huuuh, ho, ho, huuh, hoo …“ höchst eigenwillig so: „Fischers Fritze fischt frische Fische!“
Um welche Rasse es sich handelte, hat Vicco von Bülow alias Loriot uns nicht verraten. Tut auch nichts zur Sache. Schon eher, dass mir persönlich Hunde lange Zeit eher unangenehm waren. Ganz gleich, um welche Rasse es sich handelte. Gleich, wie groß das Tier war. Gleich sind wir beim Thema. Das mag so unwahrscheinlich klingen wie die Behauptung, ein Hund könne sprechen.
Und doch sind wir schon mittendrin. Der Herr Nachbar nämlich – wir kennen ihn ja schon – läuft seit einiger Zeit in Begleitung eines Hundes bei mir vorbei. Dass es sich dabei überhaupt um einen solchen handelt, musste mir der laufende Maniak erst erklären, als ich ihn erstmals gemeinsam mit seinem hechelnden Kompagnon sah. Das Tier sieht eher aus wie eine Mischung aus einem geschrumpften, tiefer gelegten Warzenschwein und einer aufgeblasenen, irgendwie zum Leben erweckten dunklen Bockwurst.
„Was ist denn das?“, fragte ich höchst perplex, als der Nachbar am Jägerzaun stehen blieb, wie immer trotz etlicher gelaufener Kilometer kaum außer Atem. Im Gegensatz zu seinem animalischen Mutanten, der – man musste genau hinsehen, um überhaupt etwas wie Beine zu erkennen – wie in Bauchlage hinter seinem Herrchen hergeschleift worden zu sein schien, prustend, die Zunge raushängend aus einer Schnute, die aussah, als wäre an ihr stundenlang die Funktionstüchtigkeit eines Vorschlaghammers getestet worden.
„Das sehen Sie doch, mein Hund“, entgegnete der Herr Nachbar.
„Sind Sie da ganz sicher?“, fragte ich etwas provokant. „Ich hätte eher gedacht, es handelte sich um … na lassen wir das“, brach ich ab, das Tier konnte schließlich nichts für sein Aussehen. Und, ich muss es eingestehen, schon beim zweiten Hinsehen empfand ich eine heimliche Sympathie für den aufgeblasenen Racker, verkörperte er für mich doch etwas wie die Hund gewordene Unlust an zu ausschweifender körperlicher Bewegung. Ja, je intensiver ich darüber nachdenke: Der anrührende Kerl ist inzwischen quasi mein Verbündeter im Geiste der Unsportlichkeit.
Zunächst aber klärte mich der Nachbar auf: „Es handelt sich um eine der edelsten Rassen überhaupt. Um einen Mops!“
„Tatsächlich“, sagte ich, „um einen Mops also.“ Im gleichen Augenblick fiel mir ein Zitat Loriots ein: „Jahrzehntelange Erfahrung zeigt: Es gibt ein Leben ohne Mops – aber es ist sinnlos!“ Natürlich verriet ich dem Nachbarn nichts von diesem Einfall. Er hätte ihn in seiner gemeinen Langläufer- und nun auch noch Hundehalterselbstgefälligkeit wieder gegen mich verwandt, da war ich mir sicher. „Wie heißt er denn?“, fragte ich stattdessen.
„Spiridon.“
Ich musste losprusten, während gleichzeitig das Tier, als es seinen Namen vernommen hatte, mit gewaltiger Anstrengung das Vorderteil nach oben quälte und aufsah zu seinem Herrchen. Der wollte offenbar langsam weiterlaufen. Ganz im Gegensatz zu Spiridon. Denn dessen nächster Blick galt mir. Ich schaute in das platte Gesicht dieser Kreatur und plötzlich war mir, als hätte ich Loriots sprechenden Hund vor mir. Zu mir aufschauend, entfuhren dem drolligen Vierbeiner einige hundetypische Laute.
„Wenn ich mal eben übersetzen darf“, wandte ich mich an den Nachbarn. „Laufen widerstrebt meiner Natur zutiefst. Viel lieber säße ich im warmen Sessel und ließe mir das Fell kraulen!“ Da aber trabte der Nachbar schon wieder los – wie ein übermotivierter Tempomacher vor dem lustlosen Mops, der sich noch einmal wehmütig nach mir umsah.
Seit jener ersten Begegnung mit Spiridon weiß ich: Die Sprache der Laufmuffel ist gattungsübergreifend. Sie bedarf nicht zwingend des menschlichen Vokabulars. Um sich zu verstehen, genügt bisweilen schon ein „Huuuh, hooho, huuh, hoo …“
Der Herr Nachbar verlangt Genugtuung
Tut mir leid, geneigte Leserschaft, aber ich muss diese launigen Zeilen mit einer Mitteilung beginnen, die Sie betrüben dürfte – so hoffe ich zumindest. Denn höchst wahrscheinlich ist bald Schluss mit meinen kleinen Geschichten über den rumrennenden Nachbarn, der mal hochgeistig daherkommt, mir ein andermal das Vergnügen an fast weltmeisterlichen Auftritten unserer heldenhaften Fußball-Nationalmannschaft raubt, dann wieder mein unsportliches Herz rührt, wenn er mit Spiridon, seinem laufmuffeligen Mops im Schlepptau auftaucht.
Er kommt nämlich nicht mehr. Seit Wochen schon nicht. Das wäre nicht weiter schlimm. Im Gegenteil (Achtung, gefährliche Formulierung). Ganz so einfach aber liegt die Sache nicht. Statt dass er wie bisher regelmäßig jeden zweiten Tag an meinem bescheidenen Grundstück erscheint, kam vor geraumer Zeit Post von ihm. „Ein Einschreiben!“, sagte die charmante Postbotin. Warum nicht, dachte ich mir, muss ja nichts Böses bedeuten. Schon etwas verwundet aber war ich, als ich auf den Absender sah. Das hoch offiziöse Schriftstück also kam vom durchtrainierten, laufverrückten … aber ich