Lasse Laufen. Paul Frommeyer

Lasse Laufen - Paul Frommeyer


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neben mir wohnt, per Einschreiben einen Brief zukommen lassen.

      Zunächst verwundert, dass er diesen Weg der Zustellung gewählt hatte – er hätte mir den Brief ja auch vorbeibringen können, gewissermaßen als laufender Bote –, riss ich den Umschlag auf, nahm das Schreiben heraus und las noch am Tor Folgendes:

      Sehr geehrter Herr Nachbar,

      sozusagen negativ inspiriert durch die Lektüre einer ansonsten durchaus geschätzten Zeitschrift werde ich mich sprachlich auf ein Niveau herablassen, das ich sonst nicht schätze, das aber in etwa Ihrem entspricht. In besagter Zeitschrift, für die Sie offenkundig als eine Art Kolumnist tätig sind, unternehmen Sie es seit einigen Ausgaben, mich zu verhohnepiepeln. Als Mensch stehe ich selbstverständlich meilenweit darüber. Nicht aber als Läufer. Nebenbei bemerkt sprach mich neulich einer meiner Mitkonkurrenten auf die Sache an; bei einem Stadtlauf über 14 Kilometer, bei dem ich mit persönlicher Bestzeit als 298. von 6.814 Teilnehmern das Ziel erreichte. Besagter Mitkonkurrent, der nur 304. wurde, hatte mich als fragwürdigen Protagonisten Ihrer ebenso fragwürdigen Glosse identifiziert, als ich kurz hinter der Ziellinie überschwänglich von meinem treuen Hund empfangen worden war. Spiridon übrigens, auch das nur ganz nebenbei bemerkt, belegte jüngst bei einer kreisweiten Rassehundeausstellung in der Kategorie „Mops, männlich“ den zweiten Platz.

      Doch zurück zum Wesentlichen. Ich fühle mich durch Ihre zotigen Anwandlungen, die sie wohl für witzig halten, in meinen Persönlichkeitsrechten verletzt. Mit Verletzungen anderer Art hatte ich gelegentlich zu tun. Eine leichte Achillessehnenreizung etwa bekam ich mit Buttermilchumschlägen gut in den Griff. Bei schwierigeren Fällen konnte mir stets ein Arzt helfen. In der vorliegenden Angelegenheit wird der Rechtsanwalt gefragt sein. Denn was dem Arzt die Spritze, das ist dem Anwalt die Klage. Und genau solche kriegen Sie an den Hals, wenn der Zirkus nicht aufhört. Apropos Zirkus. Was im Zirkus der Löwe, also der König der Tiere, das ist im Sport das Laufen - die königliche Art der Leibesertüchtigung.

      Ich räume Ihnen eine letzte Chance ein, einer Klage auf Unterlassung zu entgehen. Kommen Sie Ihrer journalistischen Pflicht nach und lassen Sie mir Genugtuung angedeihen - mir als Läufer, versteht sich. Dass es mir ernst ist, sehen Sie daran, dass ich Ihre zweifelhafte Gesellschaft seit Wochen meide.

      In dem Sinne

      Unterschrift

      P.S.: Psychologisch ist Ihre Haltung übrigens ganz einfach zu erklären. Aus Ihren Auslassungen spricht der blanke Neid des degenerierten Schreibtischtäters, der schon einen Herzkasper kriegt, wenn er allzu zügig die acht Meter vom Arbeitsplatz zum Kühlschrank zurücklegt, um das nächste Bier zu holen.

      Soweit das Schreiben. Mein Nachbar also liest „besagte Zeitschrift“, dachte ich mir. Selbstverständlich liest er sie, ging mir Augenblicke später ein Licht auf. Schließlich fressen alle Läufer Fachlektüre über ihre unheilbare Passion – so eifrig wie ein Priesterseminarist die Bibel oder ein Anwalt das Strafgesetzbuch.

      Womit wir wieder beim Kernproblem wären. Der Nachbar droht mir tatsächlich mit Justizia, sollte ich ihm nicht Genugtuung angedeihen lassen. Nun denn, lieber Herr Nachbar: Ich beuge mich Ihrer durchsichtigen Erpressung. Räume insbesondere ein, dass Ihr Postskriptum möglicherweise nicht ganz bar jeden Wahrheitsgehaltes sein könnte.

      Wenn Ihnen dies nicht genügt, dann machen Sie doch, was Sie wollen. Sollten Sie indes Ihre Drohung in die Tat umsetzen, würde meine Rache Sie da treffen, wo kein Arzt und kein Anwalt für Linderung sorgen könnte: in Ihrer Läuferseele. Denn statt weiterhin meiner Schreibtischtäterschaft zu frönen, würde ich die Laufschuhe schnüren. Und irgendwann, glauben Sie mir, würden Sie unvermutet meinen heißen Atem im Nacken spüren.

      Jetzt aber muss ich erst in die Küche an den Kühlschrank. Mein Hals ist knochentrocken. Ich werde langsam gehen.

      Laufen fördert nicht nur das Denken

      Logisch, der Herr Nachbar hat seinen Boykott nicht lange durchgehalten. Weiter in Begleitung seines drolligen Vierbeiners Spiridon, einem Mops, trabt er seit einiger Zeit wieder bei mir vorbei und hält in Pausen am Jägerzaun Vorträge über alle möglichen wundersamen Begleiterscheinungen der Rennerei. Neulich über die „fantastischen Auswirkungen“ des Langlaufens auf die – jawohl, auf die Libido. Verbesserte Durchblutung gewisser Körperpartien und so fort, muss hier nicht weiter vertieft werden. „Schönen Gruß übrigens an die verehrte Gemahlin“, beendete er seinen Exkurs zu dem Thema und grinste dabei in einer Weise, die ich dann doch schon als provokativ bis bösartig bezeichnen muss.

      Wirklich treffen konnte er mich damit natürlich nicht. Auch weil mir die beste aller Ehefrauen – immerhin sind wir seit mittlerweile mehr als 15 Jahren glücklich verheiratet – längst versichert hatte, wie sehr sie es schätze, dass ich im Gegensatz zu ungezählten anderen Ehemännern nicht so fanatisch dem „Jugend- und Vitalitätswahn“ verfallen sei. So ihre Worte. Und Joggen oder Ähnliches müsse nun wirklich nicht sein. Zumal ich doch auch schon ohne diese enorme körperliche Anstrengung abends vor dem Fernseher häufig kaum die Augen aufhalten könne, geschweige denn später … Aber das ist nun wirklich ein ganz anderes Thema.

      Selbstredend meinte sie, wer so viel arbeite wie ich, der brauche zu gegebener Zeit eben auch seine Ruhe. Mit viel Arbeit meinte sie natürlich die geistige Arbeit. „Mein kreatives Herzchen“, gehörte mal zu ihren lieblichen Kosungen, die sie mir gelegentlich zugeraunzt hatte. Gut, das war einige Jahre her. Und der Verweis auf mein im physischen Sinne doch eher durchschnittlich leistungsfähiges Herz musste auch nicht unbedingt sein. Aber wir verstanden uns, versteht sich. Verstehen uns immer noch, denn sie meinte selbstverständlich, dass die geistige, die kreative, also die schöpferische Ausdauer doch unstrittig bedeutsamer sei als die ordinäre körperliche.

      Womit wir dann wieder beim Nachbarn wären, nolens volens. „Wussten Sie übrigens“, dozierte er nämlich unlängst nach seinem Ausritt auf Schusters Rappen, „wussten Sie, dass Laufen beim Denken hilft?“ Das fragte er in seiner bekannt aufreizenden Unangestrengtheit, obwohl er ein Dutzend Kilometer hinter sich hatte.

      Kurz ärgerte ich mich, nicht schnell die Flucht ins Haus ergriffen zu haben, stand mir der Sinn doch nicht nach den bekannten Belehrungen. Aber zu spät. Das Thema hing da in der Luft, so wie ich argumentativ bald wieder in den Seilen. „Wusste ich nicht, verehrter Herr Nachbar. Glaube auch kaum, dass das wissenschaftlich fundiert ist. Beschäftige mich zwar mit anderen Dingen, aber …“

      „Aber genau das ist es neuerdings, wissenschaftlich fundiert und unterfüttert. Lesen Sie die letzte Studie der Harvard-Universität. Eindeutig nachgewiesen ist eine signifikante geistige Leistungssteigerung bei 89 Prozent der Probanden, die mindestens zweimal pro Woche wenigstens 18 Minuten am Stück laufen. Will Sie da nicht zu sehr mit Einzelheiten behelligen.“ Er machte eine kurze Pause, sprach dann von den durch das Laufen „hyperaktivierten Synapsentätigkeiten“ und Ähnlichem; um sich wichtig zu machen, klar. Und dann kamen jene zwei Sätze, die er mir zweimal aufsagen musste, worum ich ihn bat, irgendwie von einer Ahnung gepackt, sie vielleicht noch mal gebrauchen zu können: „Die Domäne des Laufens im Kreativprozess ist die Inkubationsphase, die zum kreativen Sprung führt. Denn in dieser Phase ist divergentes Denken nötig.“

      „Verstehe, Herr Nachbar“, sagte ich, kurz vor einem leichten Schwindelanfall stehend. „Irgendwie, Herr Nachbar, scheint mir, haben Sie vollkommen recht. Ich meine auch schon lange, dass der divergente Sprung, also die springende Inkubation der Kreativdomäne …, äh …“

      Dann ging ich, den Nachbarn wohl selbstgefällig und überheblich grinsend zurücklassend, wenn ich mich recht entsinne. Im Haus schleppte ich mich gleich an den Schreibtisch. Als die beste aller Ehefrauen nach einer Stunde reinkam mit der Frage, ob ich denn vorankäme, hatte ich noch keine Zeile auf dem Papier.

      „Nicht so richtig“, antwortete ich. „Irgendwie bin ich noch in der Inkubationsphase. Ich warte noch auf den kreativen Sprung. Momentan fehlt mir das divergente Denken.“

      Sie sah mich etwas irritiert an, gelinde gesagt. „Du machst das schon, mein kreatives Herzchen, mein schöpferisches Knuddelchen“, sagte sie dann,


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