Das Horn von Afrika. Alfred Schlicht
›Sultan‹ an, sondern nannte sich Imam, womit er das Primat seiner religiösen Rolle betonte. Seinen ersten entscheidenden Sieg über das christliche Reich und Kaiser Lebna Dengel erlangte er 1529. Seine Armeen drangen schnell vor, versetzten das christliche Abessinien in Angst und Schrecken und hinterließen überall Tod und Zerstörung.
Nach einem Jahrzehnt war fast das gesamte Horn von Afrika islamischer Herrschaft unterworfen. In der Tat wollte Granj nicht nur zerstören und Beute machen, sondern strebte ein großislamisches Reich an, wollte sogar eine familiäre Verbindung zur salomonischen Dynastie im Sinne glaubwürdiger Legitimität und langfristiger Sicherung eines islamisch geprägten, aber auch im traditionell-salomonischen Sinn rechtmäßigen Staates. Im Norden trugen die Glaubenskrieger den Dschihad bis nach Tigray und Hamasin (heutiges Eritrea), im Süden31 nach Gurage, Bale, Hadiyya und Sidama. Ein arabisches Werk, von einem Zeitgenossen und Augenzeugen verfasst, der auch die Aussagen anderer Zeitzeugen verwendet hat, mit dem Titel »Futuh al-Habascha«,32 stellt die wesentliche muslimische Quelle für diese islamische Großoffensive dar.
Der salomonische Kaiser selbst war ständig auf der Flucht und starb 1540 im Kloster Debre Damo; Söhne von Kaiser Lebna Dengel wurden getötet oder gefangen genommen.
Der muslimische Siegeszug endete erst, als 1541 in Massawa 400 mit Feuerwaffen ausgerüstete Portugiesen landeten. Zwar wurden die Portugiesen nach anfänglichen Erfolgen im August 1542 in Tigray mit osmanischer Hilfe geschlagen und ihr Anführer Christovao da Gama33 gefangen genommen und von Granj persönlich getötet, aber die überlebenden Portugiesen konnten wesentlich dazu beitragen, dass Kaiser Gelawdewos (1521/22–1559) im Februar 1543 einen entscheidenden Sieg errang. Granj selbst wurde von einem portugiesischen Scharfschützen getötet. Damit war der islamische Dschihad schnell am Ende, denn der Tod eines charismatischen Anführers führte meist zu einem völligen Zusammenbruch. Die Phase erfolgreicher islamischer Expansion war zu kurz gewesen, um
Abb. 6: Johannes-Evangelium aus Gunda Gunde in Tigray um 1540.
eine regelrechte ›Großmacht‹ Adal entstehen zu lassen, die das christliche Reich hätte ablösen können. Das salomonische Reich unter Kaiser Gelawdewos konnte sich erholen, sogar zu Gegenoffensiven ansetzen.
Aber neue Herausforderungen kamen durch welthistorische Entwicklungen: Das Osmanische Reich hatte 1517 Syrien und Ägypten erobert und war auch ins Zweistromland (heutiger Irak) in Richtung Persischer Golf vorgestoßen. Als neue Vormacht im Roten Meer34 sicherten sich die Osmanen an beiden Ufern Positionen. Dabei ging es um den Handel im Indischen Ozean, der in die Hand der Portugiesen zu geraten drohte. Diese hatten nach Entdeckung des Seewegs um Afrika und nach Indien35 ein weitgespanntes Netz von Stützpunkten von Nordafrika bis Ostasien36 errichtet. Das islamische Monopol für den Asienhandel, Garant der Prosperität und Macht der islamischen Welt, war somit in Gefahr. In einer solchen Konstellation war die Rotmeerküste des heutigen Eritrea, nahe dem Bab al-Mandeb, dem Zugang zum Roten Meer vom Indischen Ozean aus, ein strategischer Baustein. 1538 hatten die Osmanen bereits den Jemen ihrem Machtsystem eingegliedert und von dort aus Granj in seinem Dschihad gegen das salomonische Reich mit Feuerwaffen unterstützt. 1557 dann landeten die Osmanen an der eritreischen Küste, nahmen die Hafenstadt Massawa ein und drangen ins Landesinnere vor. Trotz einiger Rückschläge wurde die Provinz Abessinien auf dem Territorium des heutigen Eritrea gegründet, die in ihrer Ausdehnung variierte, aber in jedem Fall mindestens einen osmanischen Stützpunkt an der Rotmeerküste sicherstellte. Die osmanischen Türken spielten von da an eine Rolle in den Rivalitäten und Auseinandersetzungen am Horn von Afrika zwischen dem salomonischen Reich, dem das heutige Norderitrea kontrollierenden ›Baher Negasch‹37 und anderen Akteuren, wie etwa dem muslimischen Herrscher von Harar.
Aber auch die Portugiesen waren längst vor Ort und verteidigten ihre Positionen gegen ihre muslimischen Gegner. Schon im 15. Jahrhundert hatte es portugiesisch-abessinische Kontakte38 gegeben, doch traten die portugiesischen Beziehungen zum Horn von Afrika etwas in den Hintergrund im Gesamtkontext der portugiesischen Ausbreitung39 im Indischen Ozean des 16. Jahrhunderts und im Zusammenhang mit der historischen osmanisch-portugiesischen Auseinandersetzung um den Welthandel.
Es ging um die Frage, ob die erste Globalisierung im Zeichen des Kreuzes oder des Islam erfolgen würde. Schon 1499 hatte es einen Angriff Portugals auf Mogadischu gegeben, der aber erfolglos geblieben war, ebenso wie die Verwüstung von Barawa (Brava) im Süden der Somaliküste durch die Portugiesen. Zwar hatten die Portugiesen 1515 Hormuz, die bis heute strategisch wichtige Insel am Eingang zum Persischen Golf erobert und die Osmanen konnten es erst im 17. Jahrhundert ihrem Reich eingliedern. Aden aber hatten die Portugiesen trotz mehrerer Versuche nie einnehmen können.40 Auch portugiesische Vorstöße ins Rote Meer blieben Episode.
Wenn Portugal auch keine Stützpunkte am Horn von Afrika hatte, hier nie territorialen Besitz erwarb und diese Region angesichts welthistorischer Veränderungen, die damals im Gang waren, nicht im Mittelpunkt des Interesses stand, war Portugal doch durchaus engagiert in diesem Großraum und wusste um die Bedeutung guter Beziehungen zu Abessinien, die aktiv von beiden Seiten gepflegt wurden. Nachdem da Gamas relativ kleines Kontingent mit Feuerwaffen ausgerüsteter portugiesischer Soldaten das salomonische Reich hatte retten können, gingen Gesandschaften hin und her, blieben Abessinier und Portugiesen in Kontakt, so schwierig und langwierig angesichts der Distanzen, Gefahren und Verkehrsverhältnisse dies auch gewesen sein mag. Europäische Geistliche, vor allem aus Portugal, kamen ans Horn von Afrika, gelangten an den salomonischen Hof, wurden einflußreich, brachten den Geist der römischen Kirche, aber auch nachhaltige kulturelle Einflüsse.41 Seit 1555 machten sie kontinuierliche Missionsversuche, gegen die sich einerseits Widerstand erhob, die andererseits auch positive Aufnahme fanden. Teilweise wurde versucht, die Religionsfrage politisch zu instrumentalisieren.
Aufbruch der Oromo
Tief im Landesinneren brachte das 16. Jahrhundert ebenfalls neue Entwicklungen. Das Volk der Oromo,42 dessen ursprüngliches Siedlungsgebiet sich von Kenia über den Süden des heutigen Äthiopien bis zur sudanesischen Grenze hinzieht, brach zu einer historischen Migration auf. Die Stoßrichtung ihrer Wanderung43 waren Norden, Nordosten und Westen. Sie drangen in muslimische und christliche Siedlungsräume ein, ins Reich der salomonischen Herrscher und die islamischen Staaten wie etwa zunächst Bale, dann Ifat, Adal etc.
Sie wanderten bis Gonder, Wello und sogar Tigray. So wurden die Oromo die weitest verbreitete ethnische Gruppe in dem Großraum. Dieser Expansionsvorgang wurde den militärischen Ereignissen des 16. Jahrhunderts zugeschrieben, die das salomonische Reich schwächten und ein Machtvakuum schufen, gerade an der offenen Südflanke, als das Horn von Afrika von der großen muslimisch-christlichen Auseinandersetzung dieser Zeit heimgesucht wurde. Ein weiterer Faktor, der die Oromo-Wanderung begünstigte, war die Moggaasa (Moassa)-Methode,44 ein System (politischer) Adoption. Es erlaubte die Eingliederung von Stämmen und Ethnien in den Oromo-Kontext und erleichterte somit die Machtübernahme in Regionen, deren Bevölkerung nicht unterworfen und beherrscht werden musste, sondern aufgenommen und integriert werden konnte. Die Oromo-Wanderung war kein kurzes, vorübergehendes Phänomen, sondern ein lang andauernder, kontinuierlicher Prozess, der auch im 17. und 18. Jahrhundert noch anhielt, sogar das Herrscherhaus des salomonischen Reiches beeinflusste und bis heute die Geschichte des Raumes prägt. Der orthodoxe Kleriker Bahrey, ein Zeitgenosse und Zeitzeuge des Oromo-Aufbruchs, vor dem er an den Kaiserhof geflohen war, verfasste eine bemerkenswerte Analyse dieses Migrationsvorganges und die erste Geschichte der Oromo. Sein Werk45 gilt als wichtigste und früheste Quelle zu Geschichte und Gesellschaft der Oromo, deren Erfolg er darin sieht, dass ihr ganzes Volk Militärdienst leistete und in seiner Gesamtheit am Migrations- oder Eroberungsprozess beteiligt war, während der salomonische Staat schon arbeitsteilig organisiert war und nur seine begrenzte Armee dem Ansturm einer wahren ›Völkerwanderung‹ entgegensetzen konnte.
Kaiser Susenyos (regierte 1607–1632)46 war in seiner Jugend Gefangener der Oromo und flüchtete zu ihnen während der Streitigkeiten um den Thron, die schließlich zu seinen Gunsten