Das Horn von Afrika. Alfred Schlicht
und heidnische Bräuche, die sich überall gehalten hatten und neben christlichen Ritualen oder in christlichem Gewand fortbestanden, abzuschaffen. Dies alles hatte nicht ausschließlich religiöse Bedeutung, sondern diente einer Vereinheitlichung und Reinigung von Kirche, Brauchtum und Ritual im Sinne einer politischen Konformität. Kirche, Glauben und Loyalität zum Staat, zum Kaiser sollten eine Einheit, unzertrennbar verflochten sein – nicht beliebig, sondern streng eindeutig geregelt. So gaben Kirche und Religion dem Kaiser und seinem Reich eine sakrale Dimension, die ihnen ja aufgrund des Ursprungsmythos und der Nationallegende zukommt. Auch höfische Regularien und kaiserliches Protokoll spielen jetzt, aus vergleichbaren Gründen, eine wichtige Rolle. Sie wurden ausgearbeitet, im Detail festgelegt und genau definiert – so trugen sie dazu bei, die Signifikanz dieser fast rituellen Vorschriften und Verfahren festzuschreiben und zu betonen, sie in eine höhere Sphäre zu erheben, ihnen Bedeutung zu verleihen. Sie erlangten dadurch eine herrschaftsstabilisierende Funktion.
Der Kaiser führte auch eine aktive Religionspolitik. 1450 berief er ein Konzil in das von ihm gegründete Kloster Debre Metmak ein, nördlich der von ihm gegründeten Hauptstadt Debre Berhan. Dabei wurde der lange schwelende Streit mit der Bewegung des Ewostatewos (der selbst aber längst im Exil war) beigelegt. Die Feier des Sabbath wurde als orthodox anerkannt. So ging dieser weit über ein Jahrhundert währende Konflikt mit einem Kompromiss zuende. Weniger flexibel und tolerant zeigte sich der Kaiser gegenüber den Stefaniten, die er verfolgte und deren Gründer Estifanos im Gefängnis starb. Sie hatten die Verehrung religiöser Symbole, die nun auch Staatsinsignien waren, sowie die Niederwerfung vor dem Herrscher abgelehnt und wurden deshalb wohl als politisch gefährlich oder zumindest unzuverlässig betrachtet.
Zar’a Ya’kob hatte auch erste Kontakte nach Europa – unter ihm begann die Phase des Austauschs von Delegationen und der lange Prozess gegenseitigen Kennenlernens, der schließlich in Kooperation mündete. Eine Kontaktaufnahme des christlichen Landes am Horn von Afrika zwischen Indischem Ozean und Nil, mit Europa, dem Zentrum der christlichen Welt, lag auf der Hand. Sie sollte von da an zu einer der Konstanten der Geschichte des nordostafrikanischen Raums werden und bald eine entscheidende Rolle spielen. Eine vage, im Nebel des Sagenhaften nur undeutlich fassbare Vorstellung von einem christlichen König im Osten, dem ›Erzpriester Johannes‹, hatte sich im Laufe des Mittelalters in Europa entwickelt19 und begann nun, schärfere Kontouren anzunehmen.20 Die militärischen Erfolge des abessinischen Kaisers gegen seine muslimischen Nachbarn passten gut ins (Wunsch-)Bild eines ebenfalls vom Islam bedrohten Europa. Kaiser Zar’a Ya’kob hatte an seinem Hof den Italiener Pietro Rombulo, der als Abenteurer ans Horn von Afrika gekommen war, Jahrzehnte im Land verbrachte und dem Herrscher in verschiedenen diplomatischen Funktionen diente. Ihn schickte der Kaiser 1450 an der Spitze einer Delegation nach Europa, wo er eine Audienz bei Papst Nikolas V. erhielt und auch den König von Neapel besuchte, wodurch er dem abendländischen Interesse an Abessinien besondere Impulse verlieh. Zwar gab es keine unmittelbaren konkreten politischen Ergebnisse dieser Mission Rombulos, aber ein erster Kontakt war hergestellt. In derselben Periode nahmen abessinische Mönche am Konzil von Florenz teil. Zur gleichen Zeit gab es auch erste Verbindungen zwischen Portugal und dem salomonischen Staat, die knapp 100 Jahre später entscheidende Bedeutung gewinnen sollten.
Auch aus einer ganz anderen Richtung landen Schiffe am Horn von Afrika: Unter der Ming-Dynastie (1368–1644) unternahm China weitreichende See-Forschungsreisen,21 erreichten chinesische Flotten Afrika, z. B. auch die somalische Küste. Brava und Mogadischu hatten Kontakt mit den Chinesen (1414), deren Fahrten in den westlichsten Bereich des Indischen Ozeans jedoch nicht fortgesetzt wurden. Das damals schon strategisch bedeutsame Hormuz am Eingang zum Persischen Golf wurde ebenfalls von chinesischen Schiffen angelaufen.
In der zweiten Hälfte seiner Regierungszeit gründete der Kaiser eine eigene Hauptstadt, Debre Berhan,22 die zu einem Anziehungspunkt nicht nur für die politische Elite des Reiches wurde, aber ihren Charakter als Reichszentrum schon unter seinem Sohn und Nachfolger verlor. Erst im späten 17. Jahrhundert wurde Debre Berhan noch einmal zu einem Zentrum der Macht.
Krisen und interkontinentale Beziehungen
Es war die strukturelle Schwäche des Reiches, die es verletzlich machte. Ausdehnung, Macht und Position im regionalen oder internationalen Kontext des salomonischen Staates hingen in hohem Maß ab von der jeweiligen Persönlichkeit des Kaisers. Eine Verwaltung, eine feste, dauerhafte Provinzgliederung oder auch nur eine Thronfolgeregelung existierten nicht – somit gab es ständig Anlässe für Konflikte, Unruhen, innere Rivalitäten. Selbst eine permanente Hauptstadt hatte das salomonische Reich nicht. Hatte ein Herrscher eine solche gegründet, so verlor sie ihren Charakter als Zentrum der Macht und Schwerpunkt des Reiches meist mit dem Tod des jeweiligen Kaisers. Es ist unschwer erkennbar, wie fragil ein Reich23 unter solchen Umständen bleiben musste, welche Bedeutung individuellen Handlungen und Entscheidungen zukam angesichts kaum vorhandener Institutionen, politischer Konzepte und strukturierter Verfahren.
Ba’eda Maryam (1448–1478) etwa sezte die Tradition Zar’a Ya’kobs nicht fort, die Regionen des Reiches direkt oder durch loyale Vertraute zu regieren, sondern übertrug sie Regenten, die aus den jeweiligen Provinzen stammten.
Unter den Herrschern des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts spielten Kriege mit den islamischen Nachbarn eine immer größere Rolle, die zunehmend den Dschihad gegen das christliche Reich führten und es wiederholt in Bedrängnis brachten. Gleichzeitig spielten Höflinge eine unheilvolle Rolle im Streit um die Macht. Damals konnte Eleni (1431–1522), die Tochter eines Herrschers von Hadiyya,24 eines muslimischen Staates im Süden an der Grenze zu Sidamo, an Einfluss gewinnen. Als junges Mädchen wurde sie christlich getauft und mit Kaiser Zar’a Ya’kob verheiratet. Sie konnte auch unter mehreren Nachfolgern ihres Mannes eine stabilisierende Rolle spielen, insbesondere als die noch jungen Monarchen von ehrgeizigen Adeligen marginalisiert zu werden drohten und das Reich am Rand des Chaos stand. Auch noch in der ersten Zeit der Herrschaft von Kaiser Lebna Dengel (1496/97–1540)25 war seine Großmutter Eleni einflussreich und rivalisierte mit der Mutter des Kaisers, Na’od Mogesa. Eleni, die Zeichen der Zeit erkennend, entsandte den Armenier (?) Mateus an den portugiesischen Hof, wo er 1519 ankam; der Austausch verstetigte sich und konnte bald konkrete Erfolge für das salomonische Reich erbringen.
Zwar schien die erste Phase der Regierungszeit von Lebna Dengel stabil, doch begann dann der massive islamische Angriff auf das Reich, der zu seinem Untergang geführt hätte, wäre es nicht zu einem Eingreifen des christlichen Europa gekommen.
Das Horn von Afrika gerät in den Sog interkontinentaler Interessen, Spannungen und Konflikte. Wenn es auch aus weltgeschichtlicher Perspektive dabei keine Hauptrolle spielt, so wird es doch von den neuen Entwicklungen stark betroffen und mehr und mehr einbezogen in internationale Prozesse.
Das 16. Jahrhundert war für das Horn von Afrika26 eine Epoche, die zu historischen Weichenstellungen führte, welche zu Beginn dieses Zeitraums noch nicht abzusehen waren: Die islamische Offensive,27 die von Akteuren der Region selbst getragen wurde, stellte die bisherige Vorherrschaft des christlichen abessinischen Reiches erstmals ernsthaft infrage,28 gefährdete gar seine Existenz. Kurz darauf stieß das Osmanische Reich im Zuge seiner Expansion ins Rote Meer und den Indischen Ozean an die eritreische Küste vor und gründete eine ›abessinische‹ Provinz. Auch Europa wurde im Zuge seiner imperialen Ausdehnung und seines Griffs nach dem Welthandel im Indischen Ozean, im Persischen Golf und am Roten Meer aktiv und leistete dem christlichen Bruderstaat am Horn von Afrika konkrete, unmittelbare Hilfe, welche das Überleben des christlichen Reiches sicherstellte.
Im Süden der Region gärte es. Die Ethnie der Oromo29 brach im 16. Jahrhundert auf, es kam zu erheblichen Migrationsbewegungen, durch welche die demographische Landschaft am Horn von Afrika dauerhaft verändert wurde. Heute sind die Oromo die größte Volksgruppe des Staates Äthiopien.
Vom Sultanat Adal aus entstand eine Gefahr neuer Dimension für das salomonische Reich. Ahmad ben Ibrahim al-Ghazi,30 von der christlichen Seite als Granj (Linkshänder) bezeichnet, trat als religiöser Führer auf, rief zum Dschihad und erlangte die faktische Macht in Adal und Harar, wo er zwar nie die ›legitimen‹