Kinder der Zeit. Rudolf Stratz

Kinder der Zeit - Rudolf Stratz


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Fräulein von Oderwolff lief wie ein gescheuchter Hase an den Wagen dahin. Kein Gedanke an einen Platz! Alles von lärmendem Feldgrau bis zum Bersten überfrachtet. Bündel geröteter Köpfe aus den Fenstern, Trauben von Matrosen auf den Plattformen, baumelnde Nagelschuhe vom Dach, die Trittbretter von Zaungästen garniert. Reiter auf den Puffern. Turner durch die zerbrochenen Scheiben in das Innere — in ein Chaos von Ellenbogen, Tornistern, Rucksäcken, gerollten Mänteln, Menschendunst, Tabakblau, Witzen, Gelächter, Pfeifen auf zwei Fingern: Abfahrt! . . . Nach Hause! . . . Hurra, hurra! Und hundertfach, schon beinahe drohend: Abfahrt! . . . Kolonne marsch . . .

      Da qualmten schon funkensprühend die beiden Lokomotiven. Asta Oderwolff kehrte um. Flog den Zug entlang zurück. Musik aus den Fenstern. Eine Ziehharmonika . . . Gesang: In der Heimat, in der Heimat . . . da gibt’s ein Wiedersehn! . . . Kindergesichter unter schiefen Mützen — Stummelpfeifen in Landwehrbärten, braune Matrosenstirnen . . . Nirgends eine Frau. Nur Männer — Männer. Lachen und Spässe hinter ihr her! . . . „Na — wo haste denn deinen Schatz?“ . . . Sie blieb atemlos stehen. Rang mit Tränen. Viele Stimmen: Abfahrt . . . Abfahrt . . . Gleich ging der Zug ab . . . Ohne sie! . . . Dort in dem Wagen verstauten sie die letzten Nachzügler. Eine durchdringende Befehlsstimme gelte: „Ordnung! Zwei rechts in die Gepäcknetze! Zwei links! Vier auf den Boden! Rest ans Fenster! He? zu eng? Du warst wohl nie verschüttet, Junge — was? Das merkt man.“

      „Ist der Kunde vom Soldatenrat?“

      „Weiss nicht! Die grosse Schnauze hat er . . .“

      „Gegen sölleren kannst nix machen!“ tröstete ein versprengter Bayer.

      Asta Oderwolff sah verstört auf die sich Hineinpfropfenden. Nur mitkommen! Nur mitkommen! Was tat man denn sonst

      heute nacht? Es ging um Sekunden. Der lange, hagere Feldgraue, der den Betrieb leitete, schob eigenhändig die Nachzügler hinein wie Brote in den Backofen. Ein Zigarettenstummel glimmte schief in dem spöttisch verzogenen Mund. Die Nase sprang hart und herrisch über die bartlosen dünnen Lippen und die willenskräftige Kinnwölbung vor. Jetzt trat er voll in das Laternenlicht. Ein Kopf, trocken, nur aus Knochen, Haut und Sehnen. Wirres Blondhaar unter der kokardenlosen Mütze. Tiefliegende, grau-verwegene Augen. Ein Schützengrabengesicht. Feine Falten von vier Jahren Front. Nicht mehr ganz so jung, wie es im Halbdunkel zuerst erschienen. Schon in der ersten Hälfte dreissig . . .

      „Abfahrt . . . Abfahrt!“

      Die rote Mütze eines Stationsvorstehers tauchte zwischen den roten Fähnchen und Armbinden auf. Signaltriller, Laternenschwenken. Die Räder rollten . . .

      „Ich muss mit!“ schrie das Fräulein von Oberwolff verzweifelt. „Ich hab’ ’ne Karte . . .“

      „’rin mit dem Märchen!“ Aufmunterndes Gejohle. Burschen mit rotbewimpelten Filzhüten und blutroten Krawatten grinsten aus dem Abteil über ihr. „. . . ’rin in die Hochzeitskutsche . . .“

      Sie schrie auf. Sie flüchtete. Die Wagen bewegten sich schon. Sie hastete nebenher, blind auf den hageren Feldgrauen zu, der eben als Letzter gelassen sein langes Bein auf das Trittbrett schwang. Sie streckte die Hände nach ihm aus.

      „Retten Sie mich! . . . Sie sind ein deutscher Krieger . . . Ich werd’ ja sonst hier umgebracht heuť nacht . . .“

      Der Feldgraue beugte sich von dem Trittbrett zu ihr nieder. Es lachte in seinen zwinkernden Augen. Sie keuchte:

      „Ich bin Hofdame! Der Hof ist aufgeflogen! Ich muss zu meinen Eltern nach Berlin!“

      ,,Aber nicht in dem Abteil drüben! In dem reisen die Herren vom Deserteur-Rat!“

      „Irgendwo! Nehmen Sie mich unter Ihren Schutz . . . Herrgott . . . Die Räder rollen ja schon . . .“

      „Dableiben . . . Die Dame!“ gellte von fern der Stationsvorsteher mit plötzlich erwachter, alter Schneidigkeit.

      „Nanu? Hier befehle ich! Verstanden?“ schrie der lange Feldgraue ihm zu. Er hatte plötzlich unheimlich stählerne Augen. Gleich darauf zuckte es humoristisch um seine Mundwinkel. Er zog Asta Oderwolff, einen Arm um ihre Taille, mit einem Schwung zu sich empor. Sie hing noch in der Schwebe, halb schwindelig, an ihm. Unten donnerten die Räder. Er bugsierte sie vorsichtig von rückwärts in das Abteil. Kein Weiterkommen. Alles knüppelvoll. Ein Männergewühl . . . Ein Sturm von Heiterkeit und Ärger . . .

      „Mensch . . . Nu ist das Ende von weg! Wen haste denn da?“

      „Lass doch, das ist ja gerade was Schönes!“

      „Frauenzimmer brauchen jetzt überhaupt nicht zu reisen!“

      „Na — wie du siehst, reist die Dame doch! Was du dazu denkst, ist ihr ganz schnuppe!“ sagte Astas Beschützer. Er stand noch windumpfiffen in der offenen Türe vor dem vorüberfliegenden Nachtdunkel und machte sie vorsichtig hinter sich zu. Drinnen schimpfte einer:

      „Hierinne ist’s Gott Strambach schon voll genug! Wo willste denn mit ihr hin?“

      „Wirst schon sehen!“

      „Was geht denn dich überhaupt die Dame an?“

      „Na — ich werd’ doch wohl noch meine Frau mit nach Hause nehmen dürfen“, sagte der lange Feldgraue trocken. „Komm nur dreist bei, Mariechen! Die Herren tun dir nichts.“

      „So, nun setz’ dich mal dahin, Kind, und verpust’ dich!“ Er zwängte sie auf das kleine, freie Edchen Holzbank zwischen zwei Feldgrauen und trocknete sich die Stirn. „Uff! Das war die höchste Eisenbahn! . . . Das kommt von deiner ewigen Trödelei, Mariechen! Immer in der letzten Sekunde! . . . Na — macht nichts! Da sind wir!“

      Asta Oderwolff fiel auf die harte Bank, völlig ausser Atem. Vorläufig glücklich, dass sie sass und der Zug rollte. Der Kopf drehte sich ihr. Sie zog die Knie an sich, soweit sie konnte. Aber trotzdem stiess und quetschte sich daran der schwankende, ineinandergepresste, vor ihr stehende Haufen der Feldgrauen.

      „Nee — das geht nicht, dass du auch noch stehst!“ keuchte einer zu Astas Beschützer. „Wir können so schon kaum jappen!“

      „Du musst dich setzen!“ schrien die anderen.

      „Wohin?“

      „Auf deinen Allerw . . .“

      „Picht! Die junge Frau . . .“

      „Auf deinen Platz sollste dir setzen, den wir dir mit Müh’ und Not aufgehoben haben!“

      „Da sitzt doch meine Frau!“

      „Herrgott — Mensch — da nimmste deine Eheliebste auf den Schoss! Hätt’ ich gleich getan an deiner Stelle!“

      „Meine Olle is nich so propper!“ brummte ein bärtiger Landsturmmann hinter seiner Stummelpfeife. Aber der lange Feldgraue wehrte.

      „Ja — du Etappenhengst! . . . Ihr habt euch dick gefuttert! Aber wir Dummen im Schützengraben! Mir stehen alle Knochen aus dem Leib. An meinen Kniescheiben — da kannst Du Wäsche dran aufhängen!“

      „Muss sich die deinige dran gewöhnen! Setz’ dich! Ich hab’ das Geknuffe hier satt!“

      „Setzen! Setzen!“ schrie alles. Der Mann mit der Pfeife fasste Asta ungeniert an den Händen.

      „Stehen Sie mal auf, junge Frau . . . hoppla . . . So . . . Nun setz’ du dich mal zuerst, du Ehekrüppel!“

      Der Feldgraue wurde mehr auf den Platz gedrängt, als dass er sich darauf niederliess. Der Wagen schwankte. Zugleich liess der Mann mit der Pfeife treuherzig Asta los. Sie stand in dem Gedränge ohnedies unsicher auf den Beinen, verlor das Gleichgewicht und sass im nächsten Augenblick ihrem Mann auf dem Schoss. Der qualmte seine Zigarre, sah sie freundlich an und sagte nur: „Na — Schatz! Da bist du ja!“ Auch die anderen schienen gar nichts an dem Vorfall zu finden. Die einzige, die sich innerlich wunderte und sich nicht recht klar war, was geschah, war das Fräulein von Oderwolff. Wohlwollende Blicke richteten sich auf sie. Aus dem Gepäcknetz plumpste ein Rucksack. Fiel unten einem auf den Kopf. Alles


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