Kinder der Zeit. Rudolf Stratz

Kinder der Zeit - Rudolf Stratz


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      „Ja. Es ist ein guter Mann!“ versicherte das Fräulein von Oderwolff.

      Der Zug rumpelte donnernd über holperige Schienen, ruckte, hielt. Ein grosser, schattenhafter Bahnhof. Ganz dunkel. Ganz leer. An den Ausgängen nächtige Umrisse von Sturmhauben und Gewehren.

      „Na — ich steig’ hier aus.“ Astas feldgrauer Nachbar stand auf und reckte gähnend die Fäuste. Sie wollte gleich hastig unter seinem erhobenen Arm auf den anderen Platz hinüberschlüpfen, besann sich dann, dass diese Fahnenflucht ihren Mann, auf dessen Knien sie sass, vor den Augen der anderen kränken musste, und wartete, bis er sie vorsorglich in der Fenstereckte verstaute.

      „Da mummel’ dich mal hinein, Mariechen! Die Nacht wird kalt“, sprach er geschäftig und wickelte sie in einen heftig nach Pferdeschweiss riechenden Woilach, den er sich von einem Dragoner aus dem Gepäcknetz geborgt. Es fiel ihr auf, was er für merkwürdig kultivierte Hände hatte. Spitze Finger mit sauberen Nägeln. Er war wohl schon etwas Besseres von Haus aus: Mechaniker, Optiker, Kaufmann. Offenbar mit einiger Bildung.

      „Kommen wir weiter?“ fragte sie ihren Mann. Sie sass jetzt ganz behaglich und zufrieden neben ihm im Schatten der Ecke.

      „Aber feste, Schatz! Da pfeift’s schon!“

      Das Abteil war fast dunkel. Die ausgestiegenen Krieger hatten ihre Stallaternen mitgenommen. Der Zug holperte eintönig durch die Finsternis. Die begann sich jetzt dämmerig zu erhellen, seitdem das Auge innen nicht mehr durch Licht geblendet war. Fräulein von Oderwolff konnte auf ein paar hundert Schritt weit hinaus die vorbeifliegenden Fluren und Felder erkennen. Auf denen wanderten und wanderten, trotz der Geisterstunde, auf den Landstrassen, den Ackerwegen, schattenhafte Gestalten in Feldgrauen Mänteln und Mützen, Pakete mit ihren Habseligkeiten unter dem Arm, Knotenstöcke in der Hand. Das deutsche Heimatheer löste sich in viele hunderttausende auseinanderrinnende Wassertropfen auf.

      „Reserve hat Ruh!“

      „Ost oder West — daheim ist’s am best!“ sagte, müde, mit gefalteten Händen vornübergebeugt dasitzend, der bärtige Landsturmmann mit der Pfeife. Ein paar junge Matrosen rekelten sich und spuckten Tabakssaft aus den vom Priem geschwollenen Backen. Die Streichhölzer ihrer Zigaretten flogen wie Brandfackeln durch das Dunkel.

      „Sekt ist’s draussen alle!“

      „Die Österreicher sind umgepurzelt! Die Kümmeltürken haben schlapp gemacht! Die Bulgaren sind zu Muttern?“

      „Mensch — wir in der Etappe sind doch keine Streikbrecher! Wir legen die Arbeit nieder! Det müssen die an der Front begreifen, die immer noch wie voll kämpfen!“

      „Ja — und der Feind . . .?“ rief Asta Oberwolff entsetzt. Alles fuhr auf beim Klang der hellen, jungen Frauenstimme aus der Ecke.

      „Der Feind, Mariechen — na der bleibt am Rhein stehen! Einfach so stehen . . . weisst du . . .“

      „Muss er ooch!“ rief der Bass.

      „Und wenn er sich das Gewässer genug bekiekt hat, macht er linksum kehrt, und eines schönen Morgens ist er weg! Auf Nimmerwiedersehen!“

      „Der hat’s auch dicke, liebe Frau!“

      „Lassen Sie sich nur von Ihrem Mann belernen!“

      „Der Feind will nichts wie Frieden!“ sagte Astas Gatte kurz auflachend. „Bitter wird der Friede nicht — jetzt, wo wir alles getan haben, was der Wilson will! Da kannst du Gift drauf nehmen, Mariechen. Wir kommen mit ’nem blauen Hühnerauge davon!“

      „Aber . . . Karl . . .“, begann das Fräulein von Oderwolff mit widerstrebender Zunge. Ihr Mann liess sie nicht zu Wort kommen.

      „Die Feinde sind doch schliesslich auch gute Kerle!“ versetzte er hart und laut. „Die sagen sich doch auch: ̦Wozu die vier Jahre Mord und Totschlag’ — ich weiss nicht, wieviel Millionen um die Ecke, und halb Europa zerteppert . . . Stellen wir die narre an die Wand und geben wir dem deutschen Michel die Hand! Reben wir nicht weiter von der dummen Geschichte! . . . Nee . . . nee . . . nee . . . Nur immer unbesorgt! Uns Deutschen krümmt keiner ’n Haar!“

      „Gott geb’s!“ nickte still und andächtig der Landsturmmann. Er hielt die Photographie seiner Kinder beim Lichtpunkt seiner Zigarre zwischen den mahagonibraunen Fingern.

      „Nun kommen doch die Staatsmänner drüben beim Feind zu Wort!“ sprach der hagere Feldgraue. „Das sind doch lauter milde, abgeklärte, menschenfreundliche Greise! Die fahren schon säuberlich mit dem Knaben Benjamin als wie mit uns! Jetzt wivd sich erst zeigen, wieviel Freunde Deutschland auf der Welt hat! Ich kenn’ das bisschen Welt wie meine Westentasche. Ich bin, wie’s losging, aus Mexiko ’rübergekommen!“

      „Was du nicht sagst . . .“, sprach der eine Matrose.

      „Jawoll — du alter ehrlicher Seemann . . . Und in Gibraltar abgeklappt . . . und aus dem dreckigen Camp auf der Insel Man ausgekniffen . . . und über Holland ’rin und als Kriegsfreiwilliger eingetreten . . . Nee — genau, so wahr ich hier mit meiner lieben Frau sitze, genau so wahr ist’s, was man euch sagt: Das mit dem Deutschenhass war nur dummes Kriegsgetue! Jetzt kommt bald überall wieder die alte Liebe zu Deutschland ans Tageslicht! Ihr werdet noch staunen! . . .“

      Asta Oderwolff konnte besser als die anderen im Dunkel das harte, verbissene Profil des neben ihr sitzenden Feldgrauen sehen. Hohn und Verbitterung zuckten drüber hin. Stürmisch ausgepaffte Rauchwolken umwirbelten die spöttisch herabgezogenen Mundwinkel.

      „Um die Feinde brauchen wir uns keinen Deut mehr zu kümmern!“ sagte er aus den Schwaden heraus. „Das sind jetzt stumme Hunde! Darüber sind sich die Gelehrten in Deutschland einig. Das ist klar wie dicke Klossbrühe!“

      „Stimmt!“ schrie der eine Matrose.

      „Daheim . . . die Strasse! Das ist jetzt die Hauptsache! Immer feste: Umzüge — jeden Tag — Versammlungen . . . Und Reden — vor allem Reden! Reden! Reden! Was das Zeug hält! Nur immer reden, wer in Deutschland reden tann . . .“

      „Kann ich!“

      „Glaub ich dir unbesehen!“ sprach der lange Feldgraue zu dem meuternden Schiffsartilleristen und verfiel plötzlich das hagere Haupt in die Hand gestützt, in düsteres Schweigen. Asta Oderwolff neben ihm sass stumm. In die allgemeine plötzliche Stille donnerten unter ihnen die Räder und rissen den Zug blind hinaus in tiefe, deutsche Nacht.

      Astas Mann berührte sie leise am Arm und wies schweigend hinaus in die Dämmerung der Geisterstunde. Durch deren Helldunkel schritten wieder die verschwommenen Gestalten in Mänteln und Mützen auf allen Wegen und Stegen, zerteilten sich weit, weit hinaus, soweit man im Geist durch deutsche Gauen sehen konnte, verloren sich in Millionen von Atomen über das Land. Morgen, übermorgen, in wenigen Wochen, war das deutsche Heer gewesen . . .

      Die beiden Gesichter des Mannes und des Mädchens waren einander im düsteren Dämmern des Abteils zugewandt. Sie sagten nichts. Sie fühlten beide dasselbe. Wieder knarrten die Bremsen. Kreischten die stoppenden Räder. Der Zug verschnaufte sich von seinem Donnergepolter durch die Nacht. Krieger krochen steifbeinig heraus, stapften verschlafen davon. Immer nur heraus. Es stieg niemand mehr ein. Es war schon spät. Fast schon früh. Zwischen Mitternacht und Hahnenruf. Rotgardisten schritten mit dem Schaffner, Ordnung haltend, die Wagen entlang, spähten in das Abteil. In dem schwang der Mann mit dem Bass Nagelschuhe und Wickelgamaschen über den Rand des Gepäcknetzes, plumpste wie eine reife Pflaume herab und krabbelte — ein kleiner Kerl — schwerbeladen hinaus ins Freie. Die zwei matrosenblauen Schläfer in den Ecken waren bei dem Krach aufgeschreckt, rieben sich die Augen: „Dunnerschlag — da sind wir ja schon!“ — Fix, dass wir noch klar abkommen!“ Raus — während schon die Räder rollten! Es waren die letzten Mitfahrenden gewesen. Als der Zug weiter Berlin entgegenkeuchte, sassen Asta Oderwolff und der lange Feldgraue plötzlich allein im Abteil.

      Ihr Herz hämmerte. Sie dachte sich: Was wird der grosse Unbekannte nun mit seinem Mariedien anstellen? Endlich allein . . . da macht er schon eine unternehmende Bewegung . . . Nein! . . . Er steht nur


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