Windsbraut. Ursula Isbel-Dotzler

Windsbraut - Ursula Isbel-Dotzler


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vertilgte fünf dick beladene Scones und ich drei; dann war uns etwas flau im Magen.

      »Ich fühle mich wie der Wolf, dem sie den Bauch mit Wackersteinen gefüllt haben«, sagte Simon, als wir wieder im Auto saßen, und stöhnte.

      »Kein Wunder bei diesen Unmengen, die du in dich hineingeschaufelt hast«, erwiderte Mama. »Sind wir nicht bald da? Es dauert nicht mehr lang, dann überfällt mich die Müdigkeit.«

      Simon sah auf die Landkarte. »Etwa zehn Meilen noch, schätze ich. Lass mich doch mal fahren!«

      »Du weißt genau, dass du noch keinen Führerschein hast.«

      »Noch nicht, aber so gut wie. In ein paar Wochen hab ich den Lappen in der Tasche.«

      »Kommt nicht in Frage! Wir können es uns nicht leisten, uns mit der englischen Polizei anzulegen«, knurrte mein Vater.

      St. Mary in the Woods war kaum mehr als ein Dorf, eine Ansammlung alter Häuser um eine graue, gedrungene Kirche herum, eingebettet in Buckelwiesen, auf denen Kühe und Schafe weideten. Von Darkwood Hall, dem Herrenhaus, war nichts zu sehen, als wir über ein Flüsschen auf die Hauptstraße fuhren. Wir folgten der Beschreibung des Cottagebesitzers, die Mama auf einen Zettel gekritzelt hatte, und kamen schließlich zum Ortsende; da tauchten über einem Wall dunkler Bäume die viereckigen Türme eines grauen Gebäudes auf.

      »Das muss Darkwood sein«, sagte mein Vater. »Es sieht viel versprechend aus, findest du nicht?«

      Mama nickte. Ich hoffte insgeheim, dass unser Cottage möglichst weit von Darkwood Hall entfernt sein würde und dass wir von dort aus nichts davon sehen konnten – nicht einmal eine Zinne oder einen der drachenköpfigen Wasserspeier auf dem Dach.

      »Wir müssen zur Parkmauer«, sagte Mama. »Dort ist das Cottage, das wir gemietet haben. Es war vermutlich mal eine Art Torwächterhaus. Es heißt ›Mousehole‹, ist das nicht ein putziger Name?«

      Mousehole Cottage duckte sich praktisch im Schatten des Herrenhauses. Es klebte dicht neben einer Toreinfahrt an der alten Steinmauer. Es tröstete mich wenig, dass Darkwood Hall von dort aus tatsächlich nicht zu sehen war.

      Ich musste zugeben, dass das Cottage eins der malerischsten Häuschen war, die ich je gesehen habe. Efeu, Geißblatt und Clematis kletterten von der Mauer herab oder an ihr hoch und überzogen des Schindeldach. Die Sprossenscheiben zwischen den Fachwerkbalken blitzten, das Mauerwerk war krumm und bauchig und um die Tür rankte sich ein Rosenstrauch, der über und über voll weißer Blüten war. Unter dem bröckelnden Torbogen, der in den Park führte, wuchsen Schmetterlingssträucher, und das Gras war hoch und blau von Glockenblumen.

      Der Fehler war nur, dass das Häuschen ausgerechnet an der Parkmauer von Darkwood Hall stand. Obwohl die Steinquader den Blick aufs Herrenhaus verstellten, bildete ich mir doch ein, dass ich seine Gegenwart spürte. Ich suchte Simons Blick, aber er war schon dabei, die Gartenpforte zu öffnen, und wandte mir den Rücken zu.

      »Ist es nicht absolut süß?«, schwärmte meine Mutter. »Ein Hexenhäuschen wie im Märchenbuch. Und ich glaube, dieses Tor wird nicht mehr benutzt. Die Einfahrt ist ja ganz zugewachsen. Es muss wohl noch einen anderen Zugang geben. Hier haben wir unsere Ruhe.«

      Mousehole Cottage war nur spärlich möbliert und roch nach Moder, Staub und Mäusedreck. Wir schoben alle Fensterflügel hoch und schleppten unser Gepäck ins Haus. Es gab ein Wohnzimmer, eine Küche, ein winziges Bad und drei Schlafzimmer unter dem Dach, je eines für Simon und mich und eins für unsere Eltern.

      Ich schlief wie ein Stein, trotz des Kinderbetts, bei dem ich meine Füße zwischen den Messingstäben durchschieben musste, wenn ich mich ausstrecken wollte. Doch irgendwann erwachte ich von einem seltsamen Geräusch, das lauter und lauter wurde, bis es richtig in meinen Ohren dröhnte.

      Eine Weile lag ich da und lauschte, bis ich das Geräusch einordnen konnte und begriff, dass es Hufschlag war, das Getrappel vieler Pferdehufe. Es klang, als käme eine Schar Pferde in rasendem Galopp über einen gepflasterten Weg am Haus vorbeigestürmt.

      Einen Augenblick lang war das Dröhnen und Klappern so heftig, dass ich das alte Haus unter mir erzittern fühlte. Dann wurde es leiser und schwächer, bis es nach und nach in der Ferne verklang.

      Jetzt erst wurde mir klar, wo ich war. Der Raum war schwarz wie eine Höhle, aber ein Luftzug verriet mir, wo das Fenster sein musste. Ich tastete nach meiner Armbanduhr, stieß das Wasserglas auf dem Nachttisch um und sah auf die Leuchtziffern.

      Es war zwei Uhr nachts. Wer mochte um diese Zeit am Cottage vorbeigeritten sein? Das Getrappel hatte nach vielen Pferden geklungen, einem Dutzend mindestens. Oder war es eine Herde von Pferden ohne Reiter, die in Panik geraten und irgendwo aus ihrer Koppel ausgebrochen waren?

      Ich stieg aus dem Bett und tappte ans Fenster. Draußen herrschte stockfinstere Nacht, man sah weder Mond noch Sterne. Ein leichter Wind raunte in den Bäumen. Sonst war alles still.

      Beim Frühstück, das mit Instantkaffee, Knäckebrot und Dosenstreichwurst nicht besonders üppig ausfiel, stellte ich fest, dass keiner außer mir das nächtliche Hufgetrappel gehört hatte.

      »Vielleicht hast du’s nur geträumt«, sagte mein Vater.

      Ich schüttelte den Kopf. »Könnte ja sein, dass irgendwo ein paar Pferde ausgebrochen sind«, meinte Simon. »Aber wieso sagst du, du hättest Hufgetrappel auf dem Pflaster gehört? In der Nähe des Hauses gibt’s doch nirgends einen gepflasterten Weg. Die Straße ist nur mit Schotter aufgeschüttet.«

      Ich kam mir dumm vor. »Hm, vielleicht klingt es ja auf Schotter ähnlich«, erwiderte ich lahm. »Schotter ist doch auch Stein.« Plötzlich erschien alles unwirklich und ich traute meinen eigenen Wahrnehmungen nicht mehr.

      Unsere Eltern hatten für den Vormittag einen Termin mit Lady Lukas, der Besitzerin des Herrenhauses, vereinbart, um sich von ihr die genaue Geschichte des Spuks von Darkwood Hall sozusagen »aus erster Hand« erzählen zu lassen. So blieb es Simon und mir überlassen, ins Dorf zu gehen und Lebensmittelvorräte einzukaufen.

      »Bringt auch Spülmittel mit. Und Klopapier!«, rief Mama uns nach. »Und Streichhölzer. Vielleicht kriegt ihr auch Klemmlampen. Bei den paar Funzeln in diesem Haus kann man sich ja die Augen verderben.«

      »Klemmlampen!«, sagte Simon. »So was gibt’s in diesem Nest doch nie und nimmer …«

      Ich war froh, als wir außer Sichtweite des Herrenhauses kamen. Nur Simon schaute sich mehrmals um und meinte, es müsste dringend renoviert werden.

      »Vielleicht würde das die Gespenster vertreiben«, sagte ich.

      »Vermutlich haben sie einfach keine Knete. Die meisten Adligen sind doch heutzutage total pleite.«

      »Geschieht ihnen ganz recht. Schließlich haben sie jahrhundertelang die kleinen Leute ausgebeutet.«

      Ich hielt nach einer Koppel mit Pferden Ausschau, doch es gab nur Weiden mit Rindern und Schafen. Schließlich kamen wir an einem Backsteinhaus im Zuckerbäckerstil vorbei, zu dem ein Grundstück gehörte, auf dem ein weißes Pferd einsam und friedlich graste.

      »War’s das vielleicht?«, fragte mein Bruder, der wie so oft meine Gedanken erriet.

      Ich schüttelte den Kopf. »Es müssen mehrere gewesen sein. Mindestens ein Dutzend oder so.«

      Der Laden war ein Supermarkt. Es gab keine Klemmlampen, also kauften wir stärkere Glühbirnen. Auf dem Heimweg waren wir so beladen mit voll gepackten Plastiktüten, dass uns fast die Arme abfielen.

      Der Weg zum Mousehole Cottage zog sich verteufelt in die Länge. Irgendwann kam ein Mädchen auf dem Fahrrad an uns vorbei. Sie mochte ungefähr in meinem Alter sein und rief uns freundlich »Hallo!« zu. Dann sah sie sich zweimal um, blieb plötzlich stehen und wartete auf uns.

      »Kann ich euch helfen?«, fragte sie. »Ihr könntet eure Tüten in meinen Fahrradkorb legen und an die Lenkstange hängen.«

      Ihr Englisch war völlig akzentfrei und sogar für einen nicht besonders


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