Windsbraut. Ursula Isbel-Dotzler

Windsbraut - Ursula Isbel-Dotzler


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Haupthaus war sehr hoch; mit seinen zwei klobigen Türmen wirkte es wie eine Wehrkirche oder ein Kloster. Die niedrigeren Seitengebäude zur Rechten und Linken waren wohl erst später angebaut worden.

      Der Widerschein des Sonnenlichts ließ einige der Fenster geheimnisvoll aufblitzen. Efeu überrankte die Türme. Ich sah Raubvögel darüber kreisen und irgendwo zwischen dem Gewirr von Erkern und Dachvorsprüngen verschwinden; vielleicht waren es Turmfalken, die dort ihre Nester hatten.

      Ich versuchte in die andere Richtung zu schauen und das Flüsschen zu fotografieren, das sich friedlich zwischen Wiesen und Baumgruppen schlängelte, doch es gelang mir nicht. Immer wieder kehrte mein Blick zu Darkwood Hall zurück und schließlich fing ich an, drei oder vier Fotos davon zu machen, fast ohne es zu wollen, so als hätte jemand meine Hand geführt.

      Abends kamen unsere Eltern sehr zufrieden von Darkwood Hall zurück. Vater hatte mehrere Filme verknipst und Mama suchte nach einem hellen Fensterplatz, um ihre Reiseschreibmaschine aufzustellen und ihren Schreibkram auszubreiten.

      Simon roch nach Pferd und beklagte sich darüber, dass Vater die Hälfte des Badezimmers zu einer Dunkelkammer umfunktioniert hatte, sodass er die Badewanne nicht benutzen konnte.

      »Spätestens heute Nacht kriege ich einen teuflischen Muskelkater«, sagte er. »Ich bin mindestens vier Wochen nicht mehr geritten.«

      »War’s denn schön?«, fragte ich.

      »Lilybeth ist ein gutes Reitpferd, aber ziemlich schreckhaft. Beinahe wäre sie über die High Street gebrettert, nur weil uns auf dem Weg zu Rebeccas Haus ein Huhn begegnet ist.«

      Weil keiner von uns Lust hatte zu kochen, gingen wir in die Dorfkneipe und aßen Fisch und Pommes mit viel fetter Majonäse. Ein paar ältere Männer, die an einem Tisch beisammensaßen, musterten uns verstohlen. Meine Eltern überlegten, wie sie ihre Story vom Spuk von Darkwood Hall am besten aufziehen sollten.

      »Ich bin für den keltischen Aufhänger«, sagte Mama. »Das gibt dem Artikel einen ganz besonderen, ungewöhnlichen Touch.«

      »Dass Darkwood Hall an einem Ort steht, der den Kelten heilig war, meinst du?« Vater nickte nachdenklich. »Ja, das ist keine üble Idee. Heutzutage, wo die Leute so auf Mystik und Esoterisches abfahren …«

      »Über die Pferde von Darkwood Hall gibt es eine alte Geschichte«, sagte Simon auf dem Heimweg, als wir den dunklen Pfad zwischen Brombeerhecken und Haselnusssträuchern entlanggingen. »Rebecca hat sie von ihrer Granny erfahren. Sie haben wohl gestern Abend noch darüber geredet, dass ihr hier seid, um diesen Artikel zu schreiben.«

      »Davon hat Lady Lukas uns noch nichts erzählt. Was ist das für eine Geschichte?«, fragte Mama sofort.

      Zwischen den Türmen von Darkwood Hall hing der Mond als bleiche Sichel. Es sah aus wie auf einem Gemälde, düster und verlassen, vor allem aber unwirklich.

      »Zur Zeit des Bürgerkriegs, um 1650 herum, muss sich hier im Herrenhaus ein kleiner Trupp königstreuer Offiziere versteckt gehalten haben. Offenbar wurde ihr Aufenthaltsort verraten und eine Schar parlamentarischer Soldaten drang in Darkwood Hall ein. Die Royalisten flohen durch einen Geheimgang hinunter in den Stall, schwangen sich auf ihre Pferde und ritten davon, aber die Soldaten verfolgten sie. In einem Waldstück, nicht weit von der Hall entfernt, soll es dann ein wildes Gemetzel gegeben haben, bei dem alle königstreuen Offiziere erschossen und erstochen wurden. Auch ihre Pferde kamen im Kugelhagel um«, berichtete Simon.

      »Vielleicht ist das ja die Erklärung für Bellas Hufgetrappel.« Das kam von meinem Vater.

      Ich stolperte über eine Wurzel, fiel hin und schlug mir das Knie auf. Simon zog mich hoch und hakte sich bei mir unter.

      »Nur keine Panik«, sagte er. »Falls du wirklich etwas von dem Spuk mitgekriegt hast, dann bist du nicht die Einzige. Offenbar haben schon jede Menge Leute das Getrappel gehört und noch keinem ist was passiert.«

      Das beruhigte mich. Erst als ich in meinem Zimmer war, bekam ich es wieder mit der Angst zu tun. Ich schloss das Fenster, ließ die Nachttischlampe brennen und bereitete mich auf eine weitere schlaflose Nacht vor.

      Simon hatte gesagt, ich sollte an die Wand klopfen, wenn sich etwas tat; aber ich wusste, wenn er einmal schlief, war er nicht so leicht wieder wach zu kriegen.

      Und dann war ich selbst so müde, dass ich eindöste. Im Traum irrte ich durch ein Labyrinth unterirdischer Räume und floh schließlich vor einem bedrohlichen Wesen, das kein Gesicht und keinen Namen hatte, in einen dunklen Wald. Erst nach einer Weile merkte ich, dass es ein Wald unter Wasser war. Die Bäume wuchsen auf dem Grund eines tiefen Sees und mitten im Wald war ein Kreis riesiger Steine aufgerichtet, durch die Licht in silbernen Bündeln flutete.

      Als ich zum Frühstück kam, saßen nur Mama und Simon am Tisch. Mein Vater war schon unterwegs.

      »Er hat sich vorgenommen, den Stein im Park von Darkwood Hall zu jeder Tageszeit zu fotografieren«, erklärte Mama.

      »Welchen Stein?«, fragte ich.

      »Ach, da gibt es einen riesigen, behauenen Felsbrocken, der noch aus keltischer Zeit stammen soll. Er ist mit rätselhaften Mustern versehen, eingeritzten Sonnenrädern oder Augensymbolen. Lady Lukas meint, er hätte einmal zu einem magischen Steinkreis gehört«, sagte Mama, ehe sie sich an ihre Schreibmaschine setzte.

      Ich musste sofort an meinen Traum denken, erwähnte aber nichts davon. Simon machte sich wieder auf den Weg zu Rebecca und Lilybeth. Diesmal, sagte er, hätte sie uns ausdrücklich beide eingeladen.

      »Sehr gnädig und huldvoll«, murmelte ich. »Aber ich sehe mich lieber ein bisschen in der Gegend um.«

      »Willst du nach Darkwood Hall?«, fragte Simon.

      Ich schüttelte den Kopf. Obwohl ich es nie zugegeben hätte, ärgerte es mich, dass mein Bruder seine Zeit nicht mit mir verbrachte, wie er es sonst bei gemeinsamen Ferienreisen immer getan hatte. Ich fand Rebecca weder besonders hübsch noch interessant. Aber vielleicht ging es Simon ja wirklich nur um Lilybeth und die Gelegenheit zum Reiten.

      Ziemlich verbissen marschierte ich in Richtung Dorf und schlug dann eine Abzweigung nach rechts über einen Feldweg ein. Eine Brücke führte über das Flüsschen, wo ein halb verfallenes Mühlengebäude mit eingesunkenem Dach stand. Zwischen lose aufgeschichteten Steinmäuerchen, überschattet von mächtigen Eichen, kam ich schließlich zu einer Buckelwiese, auf der Schafe weideten.

      Ein leichter, linder Wind säuselte in den Baumwipfeln. Als ich am Zaun der Schafweide vorüberkam, trat plötzlich ein steinalter Mann aus dem Gebüsch, begleitet von zwei zottigen Hunden, einem braunen und einem schwarzen.

      Die Hunde gaben keinen Laut von sich, beobachteten mich nur aufmerksam mit ihren bernsteinfarbenen Augen. Der alte Mann nickte mir zu und ich sagte »Hallo«, worauf er stehen blieb und mich ebenso eindringlich musterte wie seine Hunde. Er trug einen grauen Umhang und hatte verfilzte graue Locken. Haare wuchsen in seinen Ohren. Ein durchdringender Schafsgeruch ging von ihm aus.

      Ich dachte, dass Menschen, die in der Natur leben, anders aussehen als Städter. Nicht nur wegen des unterschiedlichen Outfits. Ihre Gesichter, ihre Bewegungen, ihre ganze Ausstrahlung, einfach alles ist anders. Und noch während mir das durch den Kopf ging, begann der Schäfer mit mir zu reden. Das heißt, es war eher ein Selbstgespräch, denn ich verstand ihn nicht. Er hatte fast keine Zähne mehr und sprach noch dazu einen Dialekt, den man auf keiner deutschen Schule lernt. Das einzige Wort, das mir bekannt vorkam und das ich zu verstehen glaubte, war »beware«.

      Zuletzt deutete er mit seiner braunen, schwieligen Hand in nördliche Richtung. Eine Warnung war in seinem Blick – oder bildete ich mir das nur ein?

      Vermutlich machte er sich Sorgen um seine Schafe und wollte mir zu verstehen geben, dass ich keines der Gatter offen lassen durfte, die auf meinem Weg lagen. Damals reimte ich mir das so zusammen, aber heute glaube ich es nicht mehr. Heute bin ich sicher, dass er mich wirklich vor etwas warnen wollte. Und wenn ich ihn verstanden hätte, wäre ich wohl keinen Schritt weitergegangen.

      Ich erinnere mich noch, dass ich wenig später an


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