Sternstunde der Mörder. Pavel Kohout
Also sprach sie wie eine erwachsene Frau, nie zuvor hatte er sie so gehört, die Strenge der Mütter klang aus ihren Worten.
«Solltest du trotz allem nicht für dich sorgen können, dann will ich wenigstens dein Kind haben.»
Oberkriminalrat Buback erstattete um acht Uhr null null Standartenführer Meckerle Meldung. Er teilte mit, daß an der Leistung der Prager Kriminalpolizei vorerst nichts auszusetzen sei. Sie hatte es im Eiltempo geschafft, einen Bericht über sämtliche sadistischen Morde seit Beginn des Jahrhunderts zusammenzustellen, ja, ihre Kartei reichte tatsächlich bis in die Zeiten der Monarchie zurück.
Drei Wochen nachdem er zum erstenmal in dem Büro Platz genommen hatte, das man für ihn eilends in der Bartholomäusgasse einräumte und wo er fast täglich ohne Ankündigung zu verschiedenen Zeiten erschien, legte er heute die Ergebnisse seiner Beobachtungen vor.
«Im Bereich des Kriminaldienstes habe ich nicht die geringsten Anzeichen von Aktivitäten festgestellt, die den Rahmen ihrer Zuständigkeit überschreiten würden. Hauptkommissar Beran ist offensichtlich seinem Grundsatz aus Vorkriegszeiten treu geblieben, daß diese Sparte Polizei konsequent unpolitisch zu bleiben hat. Diesen Grundsatz verletzt hat, soweit der Gestapo bekannt, allein sein Untergebener, der im Juni 1942 wegen Billigung des Attentats auf Heydrich hingerichtet wurde. Seine Schuld muß mir jedoch zweifelhaft vorkommen, da die Anzeige von einem Konfidenten stammte, den er einmal wegen Betrügereien hinter Gitter gebracht hatte.»
Meckerle, der selbst in seinem maßgefertigten Sessel, in den zwei normale Männer hineingepaßt hätten, fast eingeklemmt war, verzog wissend das Gesicht.
«Jetzt kommt aber das ‹Aber›!»
Buback nickte. Zu den wenigen sympathischen Zügen seines Vorgesetzten gehörte, daß mit ihm schnell zu reden war; Langatmigkeit, gepaart mit Langeweile, machte ihn aggressiv.
«Der Behauptung des Polizeipräsidenten Rajner, daß vor allem die Fachgruppen Loyalität uns gegenüber bewahren, messe ich trotzdem keinen Glauben bei, er selbst weiß einen alten Dreck. Obwohl keiner der tschechischen Kriminalisten ahnt, daß ich sie verstehe, waltet mir gegenüber allgemeine Vorsicht. Meine häufige Anwesenheit hat sie aber abgestumpft, und nicht jeder ist imstande, seine geläufigen Gefühle zu verbergen. Bezeichnend ist die Stimmung morgens, wenn sich die Leute mit neuen Nachrichten begegnen. Sie müssen nicht unbedingt einen Feindsender gehört haben, die Protektoratszeitung reicht ihnen leider auch, denn in den Meldungen des Oberkommandos der Wehrmacht werden immer öfter die Namen von Städten genannt, die im Osten der einstigen Republik liegen. Beim Malzkaffee oder Ersatztee, die dort hektoliterweise gekocht werden, herrscht im ganzen Haus eine geradezu greifbare Begeisterung, manch einer macht sich selbst in meiner Gegenwart nicht mehr die Mühe, wenigstens den Schein zu wahren.»
«Haben wir einen Agenten da?»
«Sogar zwei, einen Techniker und vor allem den Garagenmeister. Aus ihren saftlosen Berichten läßt sich nur schließen, daß sie nicht mehr an unseren Sieg glauben und um ihre Haut fürchten. Meine Erfahrungen aus den Niederlanden lehren mich, daß gerade solche Leute uns zuerst in den Rücken fallen, um sich ein Alibi zu verschaffen. In den operativen Einheiten der tschechischen Polizei ist die Situation gewiß noch schlimmer, weil es sich um einen Teil des Repressionsapparats der Kollaborateursregierung handelt. Die Gefahr, daß sie fünf vor zwölf offen gegen uns auftreten, um sich zu rehabilitieren, wird bei weiterer Frontverschiebung akut.»
«Wie läßt sich dem vorbeugen? Sollen wir ein paar von ihnen einsperren? Oder umlegen?»
Verdammte Arbeit! dachte Buback, daß nicht mal dem etwas Klügeres einfällt ...!
«Ich fürchte, das würde die tschechische Polizei unnötig radikalisieren, immerhin gibt es allein in Prag ein paar hundert zwar schlecht bewaffnete, dafür aber gut ausgebildete Leute.»
«Also was dann??»
Meckerle begann sich offenbar gefährlich zu langweilen.
«Lassen Sie mir etwas Zeit, Standartenführer! Ich werde versuchen, das Vertrauen einer jungen Beamtin, der persönlichen Sekretärin von Beran, zu gewinnen.»
Die Augen des Riesen verrieten erneut Interesse.
«O ja! Zwei Fliegen mit einer Klappe? Endlich. Für den ewigen Witwer sind Sie viel zu jung. Und zu ansehnlich. Also nutzen Sie das.»
«Ebendas habe ich vor ...»
Er stand immer noch unter dem außerordentlichen Eindruck, den die Begegnung mit der jungen Tschechin in ihm hinterlassen hatte: Im Vorzimmer des Hauptkommissars der Prager Kriminalpolizei blickten ihn scheu und wehmütig die Augen seiner Hilde an, als er ihr das erstemal begegnet war ...
«Und wie sieht es nun mit dem Abartigen aus?» entsann sich Meckerle, als Oberkriminalrat Erwin Buback sich erhob, um sich gemessen abzumelden.
«Die heißeste Spur führt nach Brünn. Heute nachmittag fahre ich mit Berans Assistenten hin. Brünn liegt nahe der Front, auch unsere eigentliche Problematik läßt sich dort um so besser ermitteln.»
Beran unterbrach ihn mit keiner verräterischen Frage, er folgte den Ausführungen, die Morava ihm aus seinem linierten Heft vortrug, ohne sich eine einzige Notiz zu machen, und Moravas Selbstvertrauen nahm mit jeder Seite zu.
«Es ist also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß der Täter dieselbe Person ist, die 1938 den sadistischen und nie aufgeklärten Mord an der Näherin Maruška Kubílková in Brünn begangen hat. Die Unterschiedlichkeit der verwendeten Mittel kann nicht verbergen ...» Morava hob die Stimme, um seine Nervosität zu übertönen, denn in diesem Punkt spürte er selbst die Angreifbarkeit seiner Theorie, «daß derselbe Täter jetzt das gleiche versucht hat, was ihm vor sieben Jahren nicht gelungen ist, entweder aus Unerfahrenheit oder weil sich das erste Opfer rasend gewehrt hat.»
Selbst jetzt wandte der Hauptkommissar nichts ein und machte sich auch keine Notiz. Morava bedauerte schon, die Verbindungstür aus Angst vor Blamage geschlossen zu haben, so hätte Jitka unmittelbare Zeugin seines ersten ungetrübten Erfolgs sein können, mit eigenen Ohren hören, wie Beran anerkennend die magische Formel aussprach, Gut, Morava!
Sie hat den Löwenanteil an meiner Ameisenarbeit! dachte er dankbar.
«Ich fasse zusammen», fuhr er laut fort, in der Hoffnung, seine Liebste werde den Grund für diese ungewöhnliche Lautstärke verstehen, «am zweckmäßigsten scheint es mir, den erwähnten Fall wiederaufzunehmen, dessen Ermittlungen im März 1939 unterbrochen wurden, als nach der Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren zwei verantwortliche Mitarbeiter der Brünner Polizei nach England flohen. Die Akte schließt mit der Feststellung, alle begründet Verdächtigen hätten damals ein Alibi beigebracht und seit jener Zeit sei keine nicht einmal entfernt ähnliche Tat auf unserem Gebiet registriert worden, was den Schluß zuließe, auch der Mörder hat sich rechtzeitig ins Ausland abgesetzt. Die neuen Erkenntnisse zwingen mich jedoch zu der Vermutung, daß er die ganze Zeit hier war und noch einmal gesucht werden muß, vor allem im Kreis der ursprünglich Verdächtigen.»
Morava schloß und wartete in einem Ansturm neuen Zweifels darauf, daß der unüblich untätige Chef ihn spätestens jetzt mit einer Bemerkung oder Feststellung niedermachte, die seine sinnreiche Argumentation ins Lächerliche zog. Statt dessen stand Beran auf und überraschte ihn mit der seltsamen Frage.
«Hätten Sie nicht Lust, einen kleinen Spaziergang zu machen? Meine Frau behauptet schon seit einer Woche, wir hätten Frühling draußen.»
Als Morava hinter Berans Rücken durch das Vorzimmer ging, versuchte er, Jitka mit einem Achselzucken anzudeuten, daß er keine Ahnung habe von dem, was vorging. Der Hauptkommissar hatte es so eilig, daß er trotz seiner Länge kaum mit ihm Schritt hielt. So ließ er sich bis zur Schützeninsel führen, ohne den Mut zu finden, als erster das Schweigen zu brechen. Wenig später ertappte er sich dabei, daß er tatsächlich die schwellenden Knospen betrachtete, was er seit Ewigkeiten nicht mehr getan hatte. Als sie von der Brücke über eine Steintreppe auf den Parkweg gelangten, glaubte er, sein Chef wolle ihn tatsächlich nur an die frische Luft führen. Deshalb