Sternstunde der Mörder. Pavel Kohout
wie immer, hinter einer Palisade betonten Desinteresses an jeglichem Kontakt verschanzt, saß er schon die zweite Stunde in der Ecke des Bartresens im Deutschen Haus Am Graben, nippte an einem mäßigen Cognac verdächtiger Herkunft, ach, wo ist es hin, das süße Frankreich? und hatte zum erstenmal seit dem Augenblick, da er seine beiden verlor, das Bedürfnis, sich Gedanken darüber zu machen, was er später, was er dann tun würde ...
Das unbekannte Dann. Ein unheilverkündendes Dann oder ein Dann der guten Hoffnung? Wann tritt es endlich ein? Welche Gestalt wird es annehmen? Und wie soll er sich darauf einstellen? Soll er mit Gewalt die innere Schranke niederreißen, die ihn seit gewisser Zeit daran hinderte, an eine grundsätzliche Wende des Krieges zugunsten der Achse Berlin–Tokio zu glauben, wie es der Herr Reichsminister für Aufklärung und Propaganda dem Volk in jeder seiner Reden fanatisch einhämmert? Ein Kriminalist pflegt ein Elefantengedächtnis zu haben, wie hätten ihm da all die Goebbelschen Versprechensversprechen der letzten zwei Jahre entfallen können?
Doch übertreibt er seine Skepsis nicht? Ist er nicht womöglich durch seinen Beruf gefährlich deformiert, der ihn zwingt, keiner Behauptung zu trauen?
Warum sollte man nicht probehalber, einfach so ins Unreine, dem Gedanken stattgeben, daß der Führer, der doch die einst glorreichen europäischen Armeen aufs Haupt geschlagen hatte, den Alliierten eine gigantische Falle stellte, zu der auch der vorgetäuschte Rückzug an allen Fronten gehörte? Warum sollte man es sich nicht vorstellen können, daß die Gegner von einer zusammengepreßten Spirale am kritischen Punkt zurückgeschleudert und gleich darauf von einem riesigen Hammer oder Blitz dezimiert werden würden, so daß das Dritte Reich im Bunde mit Japan die Welt am Ende doch beherrschen könnte? Was würde ein Sieg, der die bisherigen Gesellschaftsordnungen zugunsten einer neuen Geschichtsepoche niederreißt, für Oberkriminalrat Buback mit sich bringen?
Sollte das schicksalsträchtige Dann in naher Zukunft eintreten, worauf die schlichte Tatsache hindeutete, daß bald kein weiterer Rückzug mehr möglich sein würde, dann könnte er in die kommende Zeit als Mittvierziger eintreten, der über einen hohen Polizeidienstgrad und ein Spitzengehalt verfügte, doch mutterseelenallein dastand.
Seit jenem Tag, da ihm die fremde Stimme, die durch das Ausrichten ähnlicher Botschaften längst abgestumpft war, mehr der Ordnung halber erklärte, daß die beiden Stützen seines Lebens gleichzeitig zu existieren aufgehört hatten, war auch der wichtigste Teil seines Wesens abgestorben, der zuvor ihnen gehört hatte. Frauen, die ihn noch in Belgien hatten trösten wollen, wie auch alle, die sich später für ihn entflammten, stießen schon beim ersten Versuch auf eine Wand aus Eis. Einige von ihnen verbreiteten rachsüchtig, er sei kein echter Mann. Er ahnte es, widersprach aber nicht. Es war der krampfhafte Versuch, dem Schicksal eine Korrektur abzutrotzen, als ob seine Treue dazu angetan gewesen wäre, die beiden wie durch ein Wunder aus der Asche auferstehen zu lassen, in die sie sich verwandelt hatten.
Die Bombe von heute mittag hatte ihm den Frieden zurückgegeben. Als das Haus zu beben aufhörte, war auch die vielmonatige Erschütterung in ihm zu Ende, und er wurde gewahr, daß Hilde und Heidi inzwischen unmerklich zu einem Teil seines lebenden Ichs geworden waren. Die unterbrochenen Kontakte hatten sich wiedergefunden wie Nerven, bei einer Operation durchtrennt. Er begann wieder zu empfinden.
Falls das Reich wirklich den Krieg gewinnt und er dabei nicht draufgeht, dann wird er den Rest seiner Jahre doch nicht in Trauer verbringen. Die Toten müssen ersetzt werden! Hätte Hilde ihn überlebt, wußte er jetzt, hätte sie wohl genauso empfunden und auch gehandelt ...!
Die Bar füllte sich rasch, der Lärm schwoll an, und vor allem drohte die Gefahr, daß sich einer von Meckerles Schlagetots zu ihm setzte. Diese Kerle hatten den Tick, ihre Angst mit Tiraden vom Endsieg zu betäuben, im Nu würden sie das in Zweifel ziehen, woran er von neuem zu glauben versuchte. Und das, was er von morgen an entschieden vorantreiben wollte.
Er mied die bereits verlassenen, stinkenden Trümmer des Eckhauses und, dem Geländer folgend, hinter dem die steinerne Mauer steil zum unteren Ufer abfiel, ging er so langsam wie möglich an Seinem Haus vorbei. Obwohl ihn kein Mensch in dieser Finsternis wahrnehmen konnte, blickte er nur aus den Augenwinkeln zur obersten Etage hinauf. Schon wieder durchflutete ihn das Wonnegefühl, daß er Es schaffte. Jetzt wird er noch die Gefahr bannen, es könnte bei diesem Mal bleiben.
Auf der Nachbarbrücke wurde noch fieberhaft gearbeitet. Dort hat offenbar eine andere Bombe ein paar Statuen umgeworfen. Ein Autokran brachte eine davon gerade von den Straßenbahnschienen weg, sie sah wie ein riesiger Leichnam aus. Er blieb stehen und blickte sich um. Hier zwischen den Brücken war er auf der Uferstraße völlig allein.
Er stellte die Umhängetasche auf den Gehsteig, machte sie auf und suchte, tief niedergebeugt, zuerst einmal Das ding. Das Wachstuchpäckchen war immer noch weich, vorsichtig schob er es in die Ecke der Tasche, wo es besser geschützt schien. Dann ertasteten seine Finger den Griff des schmalen langen Messers in der Lederscheide. Als er es herausnahm und in die Bundjacke schob, gab er acht, daß er sich nicht verletzte. Damit hat seinerzeit in Brünn sein Mißgeschick begonnen.
Im Souterrainfenster gegenüber zeichnete sich ein schmaler Lichtstreif unter dem Rollo ab. Alles war bedacht. Er wird klingeln und dann sagen, falls das überhaupt nötig sein wird: Luftschutzkontrolle! Er muß nur die Mütze abnehmen und seine Stimme verstellen, nachdem er dem Mann mittags so dumm geantwortet hat. Dann genügen der Fuß als Keil, der Ellbogen als Brechstange und zur Sicherheit zwei Stiche. Er trat auf die Fahrbahn, als die Sirenen allseits Warnung gaben.
Der frisch verwundeten Stadt genügte sie. Die Leute an beiden Brücken rannten in die Schutzräume. Noch war der letzte Ton nicht in der Tiefe verhallt, als die Sirenen wieder losgingen, diesmal kündigten sie mit wild auf- und abklingenden Glissandi den kurz bevorstehenden Fliegerangriff an. Er befürchtete, auch der Hausmeister könne im Keller verschwinden, und setzte sich in Bewegung, um ihn abzufangen, als sich die Tür schräg gegenüber von selbst öffnete. In dem dunklen Schlund blinkten die blauen Lichter zweier Taschenlampen auf.
Scheisspolizei!!
Ein paar Meter weiter führte eine breite Eisentreppe zum Flußufer hinunter, dorthin hat er sich ursprünglich absetzen wollen. Früher, als er es vorhatte, rannte er zum dunklen Wasser hinab. Nichts zu machen, er wird demnächst wieder herkommen, inzwischen muß er sein Äußeres verändern. O ja, das kann er doch jedesmal tun! Wieviel Zeit blieb ihm überhaupt bis zum Zug? Er mußte seinen Arm nahe an die Augen halten, um die Zeiger zu erkennen. Dann bekam er einen Schreck, als die Nacht zum Tage wurde. Haben sie ihn gefunden??
Das Dröhnen der hoch fliegenden Maschinen und das ferne Gebell der Flak beruhigten ihn. Er wußte, daß die Leuchtbomben an den Fallschirmchen die Luftabwehr blenden, doch statt in Angst zu geraten, sah er gebannt dem Reigen zahlloser Stanniolstreifen zu, von denen die Zielgeräte der deutschen Schützen zusätzlich abgelenkt werden sollten.
Mit diesem Feuerwerk hat ihm bestimmt Sie gratuliert.
Morava wurde von dem Lichtzauber bei Jitka überrascht.
«Nehmen Sie sich ein Motorrad, schaffen Sie sie und sich selber heim und morgen früh wieder her!» entschied Beran; die Straßenbahnlinien nach Pankrác waren immer noch unterbrochen, und der Hauptkommissar hatte ein schlechtes Gewissen, weil er die beiden bis tief in die Nacht dabehalten hatte.
Allein der dienstliche Auftrag, mit dem der Chef ihn so unerwartet auszeichnete, brachte Morava aus der Fassung, und die zusätzliche Mission verwandelte den blutigen Tag in einen persönlichen Festtag. Zwei Freuden verquickten sich zu einer, doch selbst deren vereinte Kraft reichte nicht aus, ihm die Scham zu nehmen, die sogar die sprichwörtliche Scheu des Mädchens übertraf.
Bestimmt hätte er sie nur bis vor die Tür des Vorstadthäuschens, fast romantisch in einer der Sackgassen mitten im bewaldeten Felsenhang gelegen, begleitet und sich mit bravem Händedruck von ihr verabschiedet, wären da nicht die Flieger gewesen, die aus rätselhaften Gründen in diesem Moment statt neuer Bombenlasten eine langsam herabsinkende Lichtflut über Prag abwarfen. Offenbar wollten sie sich nur vor einem neuen folgenschweren Irrtum bewahren, Jitka aber sah es als Vorspiel einer Katastrophe an.
«Rasch!» befahl sie ihm mit einer Entschiedenheit,