Wolfsgrund. Gerda Stauner
wäre. Stattdessen hat er sich an das nicht minder mühselige Prozedere zur Bestellung eines Poolfahrzeugs gewagt und eines für den heutigen Vormittag reserviert. Beim Einsteigen in den Kleinwagen muss er sich hinter das Lenkrad quetschen, sucht dann an der falschen Stelle nach dem Hebel für die Sitzverstellung, findet ihn endlich, fährt ruckartig nach hinten und hat schließlich Platz für seine langen Beine. Penibel stellt er Rück- und Seitenspiegel ein, kontrolliert Blinker und Warnblinkanlage und startet den Wagen. Augenblicklich schreit ihm aus dem Radio die penetrante und durchdringende Stimme einer Ansagerin entgegen. Sofort stellt er das Gerät auf stumm.
Er wählt die kürzeste Route, die aber länger dauert und ihn über das Land führt. Die Straße ist noch nass von einem Regenschauer, der in der Nacht niedergegangen ist. Nach zehn Minuten hat er die Stadt hinter sich gelassen und fährt einem erwachenden Tag entgegen. Das Grau der letzten Tage scheint durch den Wolkenbruch wie fortgespült und der Himmel strahlt in einem Blau, das einen wunderbaren Frühlingstag verspricht. Dafür ist es jetzt im März eigentlich noch zu früh. Die Landschaft selbst ist eintönig und nur ganz selten blitzt etwas Grün am Straßenrand oder ein zartes Rosa an einem früh blühenden Strauch auf.
In Gedanken geht Melchior die Informationen durch, die er über Schmidheim gesammelt hat. Die Einwohner des Dorfes mussten ihren Grund und Boden im Herbst 1951 innerhalb von drei Monaten verlassen und erhielten eine Entschädigung. Sie konnten nur ihr transportfähiges Hab und Gut mitnehmen, alles andere blieb zurück. Waldbesitzer durften gerade noch ihre Bäume schlagen, mussten diese jedoch aufgrund des stark gestiegenen Angebots günstig an einen Großhändler verkaufen, der sich damit den Grundstein für sein späteres Industrieunternehmen vergoldete. Schulkinder hatten bald nach den Sommerferien erneut ihren letzten Schultag und wurden von ihrem Lehrer in eine ungewisse Zukunft entlassen. Die Eltern daheim waren ihnen in dieser unsicheren Zeit ebenso wenig eine Stütze wie die Nachbarskinder oder der Pfarrer. Die letzte Ernte musste eingefahren werden, ein neuer Hof, ein neues Haus, eine neue Heimat gefunden werden. Kisten mussten gepackt, Verträge unterschrieben und ganze Dächer abgedeckt werden. Zäune mussten abmontiert, Kühe und Schweine verkauft und Transportunternehmen gefunden werden.
Melchior hat neben den Zahlen und Fakten, die er vom Public Affairs Specialist bekommen hat, auch noch Artikel aus dem hauseigenen Zeitungsarchiv gelesen und sich Bücher über diese Zeit besorgt. Er geht niemals unvorbereitet zu einem Interviewtermin. Was er bisher aber nicht herausfinden konnte, ist, weshalb sein Gesprächspartner ausgerechnet dieses kleine Dorf für die Besichtigung vorgeschlagen hat. Insgesamt verschwanden während zwei Aussiedlungswellen in den Jahren 1938 und 1951 über hundert Weiler und Dörfer von der Landkarte und knapp fünftausend Menschen mussten sich eine neue Heimat suchen. Was macht Schmidheim so besonders?
Ein regionaler Sicherheitsdienst ist für die Überwachung von Tor-Zwei zuständig. Melchior wundert sich im ersten Moment darüber und sucht vergeblich nach Soldaten der U.S. Army. Bevor er aussteigt, wirft er noch einen kurzen Blick in den Rückspiegel und prüft sein Aussehen. Der Journalist streicht über seine glattrasierten Wangen, fährt durch seine grauen, halblangen Haare und rückt seine schwarze Kunststoffbrille zurecht, die seine grünen Augen perfekt umrahmt. Seine Optikerin hatte ihn darauf aufmerksam gemacht und ihm dieses Modell wärmstens ans Herz gelegt, er selbst legt keinen Wert auf diese Details. Er steigt aus, holt seinen Presseausweis aus der Tasche und fragt nach seiner Kontaktperson. Nach kurzem Warten fährt der Pressesprecher in einem Geländewagen vor und begrüßt ihn mit einem bayerischen „Grüß Gott, Herr Beerbauer“. Erklärend fügt er hinzu, er komme aus der Gegend und arbeite seit fast dreißig Jahren für die amerikanischen Streitkräfte. Melchior ist enttäuscht. Insgeheim hatte er sich auf einen weitgereisten, weltgewandten und interessanten Gesprächspartner gefreut. Nun sitzt er in einem japanischen Jeep, in dem auf der Rückbank die Utensilien eines Hobbyjägers verstaut sind, und unterhält sich mit einem Oberpfälzer Original. Er muss aufpassen, dass er selbst beim Hochdeutsch bleibt und ihm nicht hin und wieder versehentlich Dialektbrocken über die Lippen kommen. Die Sprache des anderen ist ihm vertraut und er ist permanent versucht, ihm in derselben Art und Weise zu antworten.
Der Jeep passiert das streng bewachte Tor und sie befahren das gut abgeriegelte Gebiet. Vor Kurzem hatte Melchior einen Satz gelesen, der ihm jetzt wieder einfällt: Durchlässige Grenzen kann man sich nur erlauben, wenn man sich der eigenen sicher ist. Bei den amerikanischen Streitkräften scheint das nicht der Fall zu sein.
Sie fahren einige Kilometer und bald schon ist da nur noch verwaistes Land. Das Gelände wird nur selten von Schotterstraßen durchbrochen, darüber hinaus finden sich keine Spuren menschlicher Zivilisation. Seltsamerweise sind zwischen den Waldstücken mit Nadelgehölz, den kleinen felsigen Anhöhen und den sumpfigen Tälern keine Einschlagkrater oder sonstige Kampfspuren zu sehen. Nichts weist darauf hin, dass hier an dreihundert Tagen im Jahr internationale Einsatztruppen ihre Wehrübungen abhalten. Gestern zog wohl eine Einheit aus Osteuropa ab, Soldaten aus Übersee sind im Anmarsch.
Eine Staubwolke in gut zwei Kilometer Entfernung kündigt ein weiteres Fahrzeug in dieser Einöde an. Der Pressesprecher drosselt sein Tempo und bleibt auf Höhe des entgegenkommenden Geländewagens stehen. Misstrauisch beäugt dessen Fahrer den Journalisten. Melchior fühlt sich augenblicklich fehl am Platz. Nach einem kurzen Gespräch zwischen den beiden Männern geht es weiter. Es handelte sich um einen Förster, der genau wissen wollte, was der Redakteur hier zu suchen hatte. Wieder ist Melchior verwirrt. Er dachte, er würde hier ausschließlich auf Amerikaner treffen. Das kurze Gespräch der beiden Männer drehte sich außerdem noch um einen Wolf, dessen Spuren vor ein paar Tagen in diesem Gebiet nachgewiesen werden konnten. Wölfe in der Oberpfalz? Die Meldung von vorhin war also doch kein verfrühter Aprilscherz! Es ist ihm schon lange nicht mehr passiert, dass er in so kurzer Zeit derart oft überrascht wurde. Dieser Termin scheint doch interessanter zu werden, als er dachte.
Sie biegen von der Schotterpiste in einen unbefestigten Weg ein und fahren leicht bergab. Nach einer Linkskurve liegt ein lang gestreckter Platz vor ihnen, der beidseitig von dornigem, haushohem Gestrüpp eingegrenzt wird. Dort steigen sie aus.
In der Mitte des Platzes thront eine alte Kirche, die auf Melchior ungewöhnlich wirkt. Der Glockenturm scheint auf halber Höhe gekappt worden zu sein und die großformatigen Fenster sind mit dunkel glänzenden Platten verschlossen. Neben der Kirche befinden sich die Überreste eines lang gezogenen Gebäudes, gegenüber ein Tümpel mit braunem Wasser, auf dem noch stellenweise dünne Eisplatten schwimmen. In der letzten Nacht sind die Temperaturen unter den Gefrierpunkt gesunken. Etwas entfernt liegen kleine Haufen nutzloser Ziegelsteine verstreut, hinter der Kirche reckt eine stattliche Linde ihre mächtige, noch blattlose Krone gen Himmel.
Der Pressesprecher scheint in seinem Element zu sein. Er erzählt begeistert vom Wiederaufbau der Kirche und ihrer Umnutzung zum Schlafplatz für eine fast ausgerottete Fledermausart, der Großen Hufeisennase. Er erzählt von Pomologen, die einmal im Jahr scharenweise das Gelände stürmen und die alten Streuobstwiesen mit Taschen voller Ableger seltener Apfelsorten wieder verlassen. Er schwärmt von der Kirchweih, die seit einigen Jahren wieder wie früher an jedem ersten Juliwochenende zu Ehren des Schutzheiligen Willibald auf dem Platz vor der Kirche von den ehemaligen Dorfbewohnern und ihren Nachfahren gefeiert wird. Und von den vielen Tierarten, die sich in dieser von Menschenhand weitgehend unberührten Natur entfalten können, insbesondere vom erst kürzlich gesichteten Wolf. So viel Leben an einem so ausgestorbenen Ort - Melchior kann sich nicht vorstellen, dass sich hier Menschen aufhalten, geschweige denn bei einer Kirchweih vergnügen. Für ihn hat dieser Platz vielmehr etwas Meditatives, Beruhigendes. Er will sich nicht vorstellen, wie hier alles mit Sonnenschirmen, Bierbänken und laut agierenden Menschen bevölkert ist.
Melchior gibt vor, einige Fotos machen zu wollen, und entfernt sich ein Stück vom alten Dorfplatz. Hinter der Kirche, an der alten Linde vorbei, steigt er eine Anhöhe hinauf und blickt schließlich auf die Reste von Schmidheim. Der Pressesprecher und auch der Geländewagen sind aus seinem Blickfeld verschwunden. Die Stille umfängt ihn wie eine sanfte Brise an einem heißen Sommertag. Ab und zu wird sie von Balzrufen eifriger Vögel durchbrochen, die sich gerade auf Brautschau befinden.
Schlagartig wird ihm klar, wie allein er ist. Hier in dieser Einöde kann er es sich endlich eingestehen. Er war nie daran interessiert, eine Familie zu gründen, in Gemeinschaft zu leben,