Wolfsgrund. Gerda Stauner
Im Grunde kann er nur auf Franzi zählen, seinen besten Freund seit Kindertagen. Aber der hat, im Gegensatz zu ihm, einen anderen Weg eingeschlagen. Franzi hat geheiratet und eine Familie gegründet.
Von einem Augenblick auf den anderen weicht die Einsamkeit einer Traurigkeit, die ihn ohne Vorankündigung überfällt und ihm Tränen in die Augen treibt. Melchior wischt sich mit dem Handrücken den feuchten Schleier weg, holt abrupt die Kamera aus der Tasche und beginnt wahllos zu fotografieren. Er kann und will sich nicht damit beschäftigen, was vor über dreißig Jahren passiert ist. Er hat damit abgeschlossen, hat es tief in sich vergraben und den Schlüssel weggeworfen. Nur in ganz seltenen Momenten, wenn er nicht wachsam genug ist, versuchen sich die Geschehnisse von damals ihren Weg zurück in sein Bewusstsein zu bahnen.
Der Pressesprecher kommt wieder in sein Blickfeld, winkt ihn zu sich und deutet auf sein Handgelenk. Melchior hastet zu ihm zurück, dankbar, sich mit dem bevorstehenden Interview ablenken zu können. Obwohl es die Sonne nun endlich geschafft hat, über den wild wuchernden Bäumen aufzugehen, ist es im Freien dennoch kalt. Sein Begleiter schlägt vor, das Gespräch im Jeep zu führen. Beide lassen sich auf den abgewetzten Sitzen nieder und Melchior holt seinen angespitzten Bleistift und sein Notizbuch aus der Tasche. Er verzichtet auf das kleine digitale Aufnahmegerät, das er nur sehr selten benutzt. Ihm ist es lieber, die Gespräche anhand seiner Notizen zu rekonstruieren. Wenn er später lesend von Zeile zu Zeile, von Seite zu Seite springt, tauchen in seinem Kopf die Bilder des Interviews auf. Er erinnert sich an die jeweilige Situation und sein Gefühl sagt ihm genau, was für seinen Text wichtig ist und was er weglassen kann.
„Wieso haben Sie eigentlich diesen Ort für die Besichtigung ausgewählt?“, beginnt der Journalist einleitend seine Fragerunde. Er achtet darauf, neutral zu klingen. Noch weiß er nicht, welche Richtung ihre Unterhaltung einschlagen wird.
„Wissen Sie, Herr Beerbauer“, beginnt der andere zögerlich, „uns allen hier ist klar, dass die Aussiedlung der Menschen und die Ablösung ihres Grund und Bodens im Jahr 1938 tiefe Wunden geschlagen hat. Ich will gar nicht davon sprechen, was im Jahr 1951, bei der zweiten Enteignungswelle, hier passiert ist. Doch das alles ist lange her und die Verantwortlichen von heute sind auch ein Stück weit entgegenkommender. Auf deutscher und auf amerikanischer Seite. Und dieses Entgegenkommen ist bei den alten Schmidheimern auf fruchtbaren Boden gefallen.“
„Soll das heißen, es gibt immer noch Menschen, die die Vertreibung selbst erlebt haben?“
„Also von Vertreibung würde ich nicht sprechen … Aber ja, es gibt noch viele davon. Und die Menschen aus eben diesem Dorf nahmen von Anfang an unser Angebot, ihre ehemalige Heimat besuchen zu dürfen, dankbar an. Eine Win-win-Situation für beide Seiten.“
„Und wie haben sich diejenigen verhalten, die ihr überaus freundliches Angebot nicht annehmen wollten?“ Melchior gelingt es nicht, den sarkastischen Unterton zu verbergen.
„Um Ihnen das zu erklären, muss ich etwas ausholen. Wissen Sie, ich arbeite seit dreißig Jahren hier auf dem Stützpunkt. In all den Jahren bin ich vielen Menschen begegnet. Ehemaligen Gefangenen, sogenannten Displaced Persons, die mit ihren Kindern und Enkeln hierher zurückgekehrt sind, um die Vergangenheit aufzuarbeiten. Soldaten, die im und nach dem Zweiten Weltkrieg hier gedient haben, darunter Amerikaner, Kanadier, aber auch Polen und Deutsche. Und natürlich Menschen, die von hier vertrieben wurden, wie Sie es ausdrücken. Und bei all diesen Begegnungen wurde mir klar, dass es zwei Möglichkeiten gibt, mit diesem Schicksal umzugehen. Die einen versuchen, sich mit dem Geschehenen auseinanderzusetzen, nach vorn zu schauen und sich etwas Neues aufzubauen. Für sie hat dieser Ort seinen Schrecken verloren, sie sind auf der Suche nach positiven Erinnerungen, versuchen, mit einem guten Gefühl in ihre neue Heimat zurückzukehren.“
„Und die anderen?“ Der Redakteur ist neugierig geworden.
„Die kommen mit einer unbändigen Wut, einem jahrelang unterdrückten Groll hier an. Sie sind auf der Suche nach Wiedergutmachung. Einige führen langwierige Prozesse, sammeln, recherchieren und veröffentlichen ihren Schriftverkehr in Büchern. Wieder andere versuchen, die Presse für sich zu gewinnen. Ich persönlich glaube, dass wir hier diese Wiedergutmachung nicht leisten können. Dieser Prozess muss in den Menschen selbst stattfinden. Wir können ihnen unsere Anteilnahme zeigen, uns ihre Schilderungen anhören und ihnen unsere Zeit schenken. Ein neues Leben aufbauen, in einer neuen Heimat glücklich werden, mit der Vergangenheit ins Reine kommen, das müssen sie selbst schaffen.“
Melchior schaut auf seinen Block. Er hat nicht ein einziges Wort mitgeschrieben. Er ist verwundert, verblüfft von seinem Gegenüber. Das Gespräch entwickelt sich ganz anders, als erwartet. Er hat sich auf Schönfärberei und taktische Monologe über die strategisch wichtige Position der Militärbasis eingestellt – ohne Wenn und Aber. Was er dagegen zu hören bekommt, sind die psychologischen Beobachtungen eines empathischen Mannes in den Fünfzigern. Es bringt ihn aus dem Konzept. Für den Moment weiß er nicht, wo er ansetzen soll, welche Frage er stellen soll. Er überlegt sich, wie er sich verhalten hätte, wie er mit dem Verlust der Heimat umgegangen wäre. Beim Gedanken an Fichtenried und den ehemaligen Bauernhof seines Großvaters überkommt ihn wie immer ein ungutes Gefühl. Als Zwanzigjähriger ist er von dort in die Stadt geflüchtet und nie mehr zurückgekehrt. Er hat sein Zuhause verraten. Zumindest gab ihm seine Mutter immer dieses Gefühl.
Sein Begleiter hat wieder zu sprechen begonnen. Melchior muss sich zwingen, ihm weiter zuzuhören. Er bringt seine ganze Konzentration auf und macht sich Notizen. Es fallen Jahres- und Einwohnerzahlen, Familien- und Hausnamen und in Kurzform klärt ihn der Pressesprecher über die Handwerksbetriebe, die Bauernhöfe und die Pfarreizugehörigkeit des Ortes auf, der einst in Ober- und Unterschmidheim aufgeteilt war. Der Begriff Oberschmidheim ruft eine Erinnerung in Melchior hervor. Er weiß, dass er den Namen schon einmal gehört hat. Er schließt kurz die Augen und sucht in seinem Gedächtnis nach der fehlenden Verbindung, wird aber nicht fündig. Mittlerweile ist er unruhig geworden. Der Journalist hadert mit sich selbst, weil er sein unprofessionelles Verhalten nicht tolerieren kann. Er hasst es, wenn jemand bei einem Gespräch nicht bei der Sache ist. Und nun passiert ihm genau das. Er kann sich einfach nicht auf sein Gegenüber konzentrieren, er muss den Termin irgendwie hinter sich bringen.
„Gibt es vielleicht noch Unterlagen, die für den Artikel hilfreich sind?“
„Ja, ich habe jede Menge alter Fotos gesammelt, die ich Ihnen mailen kann. Wir müssten auch noch den amtlichen Schriftverkehr aus dieser Zeit irgendwo abgelegt haben. Ich suche das gern für Sie heraus und lasse es Ihnen zukommen.“
„Darf ich Ihnen noch eine abschließende Frage stellen?“ Melchior hat sich wieder einigermaßen im Griff, seine Neugierde ist wieder da, seine wichtigste Eigenschaft als Journalist.
„Klar.“
„Wie würden Sie damit umgehen, wenn Sie von heute auf morgen ihre Heimat verlassen müssten?“
Der andere blickt ihn unverwandt an. Die rechte Augenbraue zuckt leicht nach oben und verleiht ihm einen erstaunten Ausdruck.
„Wissen Sie, ich bin hier in der Nähe geboren und aufgewachsen. Ich mache meine Heimat aber nicht an einem Haus oder Dorf fest. Ich fühle mich dort zu Hause, wo ich ich selbst sein kann.“
„Und das wäre dann wo?“
„Jetzt gerade, in diesem Moment, ist es genau hier. An diesem Ort, den vielleicht vor ein paar Stunden ein Wolf durchstreift hat. Diese Vorstellung macht mich glücklich. Wie Sie sehen können, bin ich Jäger. Ich will den Wolf aber nicht jagen. Vielleicht teilen wir uns künftig die Arbeit und das Revier und er reißt ein paar Wildschweine, die ich dann nicht zur Strecke bringen muss. Hier an diesem Ort habe ich das Gefühl, dass alles in Einklang ist. Vielleicht liegt es daran, dass sich der Mensch hier weitgehend aus dem natürlichen Lauf der Dinge heraushält.“
„Also könnten Sie ohne diesen Ort hier nicht leben? Ist hier ihre Heimat?“
„Das habe ich so nicht gesagt. Hier fühle ich mich im Moment wohl, hier erlebe ich glückliche Augenblicke und spüre eine Art Verbindung mit meiner Umgebung. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass ich diese positive Assoziation auch anderswo erfahren kann. Ich stelle mir vor,