Wolfsgrund. Gerda Stauner

Wolfsgrund - Gerda Stauner


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      Melchior ist erstaunt, wie empathisch der Schreiber eines kleinen Lokalblatts vor fast siebzig Jahren die Situation beobachtet und beschrieben hat. Er sieht förmlich die Verwirrung der Kinder vor sich, spürt fast die ablehnende Haltung der Eltern, die nicht gelernt haben, für ihre eigenen Söhne und Töchter da zu sein und ihnen in dieser schwierigen Zeit beizustehen. Die einfühlsamen Schilderungen passen so gar nicht in die 1950er Jahre, in denen der Ton eher rau und streng war. Aber ihm bietet die außergewöhnliche Sichtweise des Journalisten nun eine optimale Vorlage, einen grandiosen Einstieg in die Geschichte, die er nun schreiben wird, und er freut sich auf die vor ihm liegende Aufgabe.

      Drei

      Mit minimaler Verspätung schickt er den Text an die Redaktion. Nach nur fünf Minuten erscheint auf seinem Handy ein nach oben zeigender Daumen. Volltreffer, freut er sich. Für heute hat Melchior es geschafft, wieder einmal. Langsam lässt die Anspannung nach. Obwohl er schon so viele Jahre schreibt, spürt er immer noch den Kitzel, wenn er über einer interessanten Geschichte sitzt und die richtigen Worte dafür finden muss. Doch nachdem er fertig ist, der Text irgendwo in den Tiefen des Verlagshauses hin und her wandert und sich die Bits und Bytes schließlich zu später Stunde im Druckzentrum in schwarze Buchstaben auf hellem Zeitungspapier verwandeln, fühlt er sich leer und ausgebrannt. Oft geht er dann los, in die Stadt, trinkt irgendwo ein Bier oder ein Glas Rotwein. Melchior könnte sich auch daheim einen Feierabenddrink gönnen, aber dann wäre er alleine. So hat er zumindest das Gefühl, er wäre unter Menschen. Großartige Gespräche führt er nicht. Hin und wieder klopft ihm jemand auf die Schultern und lobt einen seiner Texte. Das reicht ihm. Mehr an Unterhaltung braucht er nicht. Das signalisiert er seinem jeweiligen Gegenüber auch deutlich. Mittlerweile akzeptieren das die anderen Gäste seiner diversen Stammkneipen und lassen ihn in Ruhe seinen Feierabend genießen.

      Diese Leere spürt er auch jetzt ganz deutlich. Der Journalist ist sich sicher, dass er mit dem Text genau den richtigen Ton getroffen hat. Er wird die Leser berühren. Schon jetzt denkt er an die Briefe und Nachrichten, die ihn erreichen werden. Überschätzt er sich? Nein, er ist nur schon so lange in seinem Job, er weiß, was die Menschen lesen wollen. Er hat die Zeitspanne der zweiten Ablösewelle im Jahr 1951 - von der Verkündung der Entscheidung bis zur Vertreibung der Einwohner vergingen nur drei Monate - aus der Sicht einiger Menschen aus Schmidheim beschrieben. Er hat versucht, sich in die jeweiligen Menschen hineinzudenken und den überraschenden und gleichzeitig bedrohlichen Verlust der Heimat zu beschreiben. Es ist ihm erstaunlich leicht gefallen und gut gelungen.

      Melchior entscheidet sich gegen die Stadt und für ein Glas Rotwein in den eigenen vier Wänden. Draußen ist es kalt und er müsste sich warm einpacken, das ist ihm zu umständlich. Er fährt den Computer runter, schaltet sein Telefon auf stumm und wählt im Radio das Klassikprogramm. Er öffnet eine Flasche Rotwein, die er selbst im letzten Herbst aus der Toskana mitgebracht hat. Die dunkelrote Flüssigkeit schmiegt sich ölig an die bauchige Rundung des Weinglases. Er lässt den Roten einige Male kreisen, atmet eine entfernte Erinnerung an Kirschen, Holz und Waldboden ein und setzt sich in seinen Lesesessel.

      Draußen ist es schon lange dunkel. Auch wenn sich das Frühjahr schon längst angekündigt hat, mit gelben Narzissen, scharlachroten Tulpen und violetten Krokussen, muss er noch einige Wochen warten, bis die Zeitumstellung erfolgt. Erst dann kann er wieder längere Abende mit hellem Tageslicht genießen. Melchior könnte die stahlgraue Stehlampe anstellen, entscheidet sich aber dagegen. Er bleibt im Dunkel seiner Wohnung sitzen, in der nie vollkommene Finsternis herrscht. Zu viel Licht von draußen drängt herein. Lichtverschmutzung. Welch abstraktes Wort, wie er findet. Aber hier und jetzt erfasst er wohl zum ersten Mal die Bedeutung. In seiner Umgebung gehen die Lichter nie aus. Die Wohnungen der Nachbarn strahlen oft bis weit nach Mitternacht in hellen, warmen Gelbtönen. Die Straßenbeleuchtung wirkt dagegen wenig einladend und eher anonym auf ihn. Wann hat er zum letzten Mal die Sterne gesehen? In der Stadt ist dies unmöglich, dafür müsste er raus aufs Land fahren.

      In Schmidheim würde er sie wohl am Firmament entdecken können, vermutet er. Eine plötzliche Sehnsucht überkommt ihn, nach Stille, nach Einsamkeit, nach Ruhe. Der Redakteur wünscht sich, er wäre an diesem verlassenen Ort, würde den Flügelschlag der vorbeifliegenden Hufeisennase auf seiner Wange spüren, das leise Rascheln der Mäuse und das Rauschen der Bäume hören. Diese Gedanken beruhigen ihn, er fühlt sich wieder sicher und geborgen in seiner Abgeschiedenheit. Weder ein einsamer Wolf, noch Fichtenried oder der Gedanke an das verwirrende Gespräch mit Annette können ihm nun Angst machen. Melchior gibt sich der betäubenden Wirkung des gehaltvollen Rotweins hin und schließt die Augen.

      Der nächste Tag kündigt sich im Osten mit einer zaghaft aufgehenden Sonne und glitzernden Eiskristallen auf Windschutzscheiben, Parkbänken und Sträuchern an. Gut gelaunt und ausgeschlafen fährt Melchior mit dem Aufzug in den Newsroom. Nicht einmal die nervige Suche nach einem freien Arbeitsplatz kann ihn heute bekümmern. Er verbucht seine heitere Stimmung unter der Rubrik „Frühlingsgefühle“ und startet den Rechner. Tatsächlich ist sein Text über den Truppenübungsplatz der meistgeklickte Artikel der Onlineausgabe und zwei Leser haben bereits Kommentare per Email an ihn geschickt. Stolz erfüllt ihn. Er, der alte Hase, hat es geschafft, den Zeitgeist zu treffen.

      Doch dieses Hochgefühl währt nicht lange. Schon bei der Redaktionskonferenz eine halbe Stunde später ist er von allen um sich herum genervt. Der Volontär bringt einen abstrusen Themenvorschlag. Er will die Frühlingsgefühle der Tier- und Menschenwelt miteinander vergleichen. Zum Glück wird die Idee einstimmig abgelehnt. Ansonsten stehen die üblichen Berichterstattungen an: die finanziell angespannte Situation des regionalen Fußballvereins, die Parteispendenaffäre - nach wie vor ein Renner bei den Lesern - und kulturelle „Highlights“ wie eine langweilige Ausstellungseröffnung und ein spröder Ballettabend. Aus dem Kulturressort hält er sich lieber raus. Seine Kritiken wären durchweg niederschmetternd.

      Melchior verfolgt die weitere Diskussion nicht länger. Er denkt an Annette und das Telefongespräch zurück. Kann es tatsächlich sein, dass seine Familie mit ihm und seiner Großcousine ausstirbt und nichts zurückbleibt? Wie konnte das geschehen? Nach ihnen wird es die Beerbauers nicht mehr geben. Diese Erkenntnis trifft ihn, so spät in seinem Leben, schwer. Jahrelang hatte er es vermieden sich mit seiner Familie und der Verwandtschaft zu befassen. Was ihm aber noch mehr zu schaffen macht ist die Tatsache, dass er es in der Hand hätte, die Situation zu ändern, dafür zu sorgen, dass es sich anders entwickelt. Aber dazu müsste er sich durchringen, seinem besten Freund endlich die Wahrheit zu sagen. Doch alleine die Vorstellung, seine Verfehlung und die Konsequenz laut vor Franzi auszusprechen, lässt ihn in eine angstvolle Erstarrung verfallen.

      Was würde sein Großvater Anderl dazu sagen, dass die Linie der Beerbauers nicht weitergeführt wird? Wäre Melchior in seinen Augen ein Versager, der die Familie im Stich gelassen hat? Um was geht es ihm eigentlich? Es ist niemand mehr da, der ihn anklagen könnte. Annette hat ihm ganz klar zu verstehen gegeben, dass sie mit der Situation kein Problem hat. Wieso nagt es dann trotzdem an ihm, wundert er sich.

      „Danke. Dann mal ran an die Arbeit!“

      Die Redaktionsleiterin beendet die Konferenz mit der üblichen Floskel und schickt die Kollegen hinaus. Melchior kommt langsam wieder zurück ins Hier und Jetzt, bleibt sitzen und wartet. Sein Name war bei der Vergabe der Aufgaben nicht gefallen, oder? Es scheint, als ob er für heute keinen Auftrag hätte.

      „Melchior, wie viel Resturlaub aus dem letzten Jahr steht dir eigentlich noch zu?“

      „Resturlaub?“ Die Frage kommt unerwartet. „Keine Ahnung. Gibt es so etwas bei uns?“

      „Jetzt sei nicht albern. Natürlich.“ Etwas verlegen zieht sie ein Blatt Papier aus ihrer Mappe. „Nur weil du in den letzten Jahren darauf verzichtet hast, heißt das nicht, dass der Urlaub dir nicht zusteht. Laut Personalabteilung hast du noch zwölf Tage aus dem letzten Jahr übrig. Wenn man die Wochenenden wegrechnet und deine Überstunden einbezieht, dann kannst du bis zum Monatsende daheim bleiben.“

      Er will sich seine Verwirrung nicht anmerken lassen. Was zum Teufel passiert hier gerade? Wollen die mich loswerden, ist sein nächster Gedanke. Melchior richtet sich auf und spielt scheinbar souverän mit seinem Kugelschreiber.


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