Wolfsgrund. Gerda Stauner

Wolfsgrund - Gerda Stauner


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der Eltern hätten sie nicht heiraten können. Ludwig nicht, weil er beruflich von der Wirtschaft und der Brauerei der Eltern abhängig war, und Agathe nicht, weil sie noch minderjährig war. Sie hätten Schmidheim und den Einödhof verlassen, zusammen anderswo neu anfangen müssen, vielleicht sogar auswandern. Aber davor hatte Ludwig insgeheim noch mehr Angst, als seine Liebste zu verlieren. So redete er ihr gut zu, versprach ihr sie immer im Herzen zu behalten und versuchte nicht an den Abschied zu denken.

      Nun aber ist der Tag gekommen, an dem sie die Frau eines anderen werden wird. Agathe wird auf den Kammerwagen steigen und die Ochsen werden diesen nach Fichtenried ziehen.

      „Versprichst mir, dass du jedes Jahr zur Kirchweih heimkommst?“

      Die junge Frau schaut auf. Der Tränenfilm verleiht ihren Augen einen geheimnisvollen Ausdruck. Für einen kurzen Moment ist er davon überzeugt, dass er ohne sie nicht leben und er jedes Opfer für sie bringen kann. Doch im nächsten Augenblick ist er in Gedanken wieder bei der Wirtschaft, seinen Eltern, der Brauerei und Schmidheim. Nein, er kann hier nicht weggehen.

      „Ja, nächstes Jahr im Juli werde ich zur Kirchweih zurückkommen. Ich versprech es dir!“

      Sie drückt sich fest an ihn, gibt ihm einen Kuss, von dem er inständig hofft, dass es nicht der letzte in seinem Leben sein wird, dreht sich um und geht aufrecht und zügig in Richtung Oberschmidheim. Ludwig bleibt alleine und mit einer bisher ungekannten Leere zurück. Er legt eine Hand auf seine Brust und streicht gedankenverloren darüber. Die Reibung erzeugt ein warmes, angenehmes Gefühl, welches zumindest für einen Moment die Einsamkeit vertreibt.

      Agathes Vater steigt ab und führt das Ochsengespann auf dem abschüssigen Hohlweg durch die steile Rechtskurve. Nun liegt Schmidheim vor ihnen. Fast alle Bewohner sind zum Abschied vor die Häuser gekommen und blicken dem Fuhrwerk entgegen. Linkerhand sind die kleinen Höfe vom Gruber und vom Lindlbauern zu sehen. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, dümpelt der Rest der Dorfhüll vor sich hin, welche durch den heißen und regenarmen Sommer nur noch wenig Wasser bereithält. Sie lassen die kleine Kapelle mit der angrenzenden Kegelbahn, die heute verlassen daliegt, hinter sich. Rechterhand kann Agathe prächtig blühende Blumen im Bauerngarten der Kollerin ausmachen, die von allen Frauen im Dorf darum beneidet wird. Werde ich in Fichtenried auch so einen Garten anlegen können, so ein Blütenmeer mit meinen Händen schaffen, grübelt Agathe. Die verstorbene Schwester hatte dafür nichts übrig, das weiß sie. Die pragmatische Sabina hatte lediglich Gemüse angebaut. Die junge Frau ertappt sich dabei, wie sie sich ihre Zukunft ausmalt. Sofort bekommt sie ein schlechtes Gewissen. Sie hat Schmidheim noch nicht einmal verlassen, doch schon träumt sie von ihrem neuen Leben. Wie kann das sein? Vor wenigen Stunden hatte sie noch Ludwig geküsst! Agathe senkt ihren Blick und knetet krampfhaft ihre Hände. Sie ist verwirrt, hin- und hergerissen zwischen ihrem alten Leben und der ungewissen Zukunft. Plötzlich überkommt sie die Angst davor, was sie in ihrer neuen Heimat erwarten wird. Tränen steigen auf, die sie nur mühsam unterdrücken kann.

      Wenn sie sich jetzt nach links wenden würde, könnte sie einen Blick auf die Wirtschaft werfen, doch das traut sie sich nicht. Vielleicht würde sie Ludwig noch einmal sehen, aber ihr Blick bleibt weiterhin auf ihre Hände gerichtet, wohl wissend, dass sie andernfalls schluchzend zusammenbrechen würde. Agathe zählt langsam bis zehn und trocknet ihre Augen mit einem Baumwolltuch. Dann erst schaut sie wieder nach vorne. Gerade passieren sie die Schmiede, die nach der Brauerei den Gebäudekomplex der Wirtsfamilie vervollständigt. Sie denkt an den einzigen Brunnen im Ort, der direkt hinter dem Anwesen liegt und in diesem Spätsommer schon lange kein Wasser mehr vorhält. Als Kind saß sie oft auf dem gemauerten Rand und blickte in die undurchdringliche Dunkelheit hinunter, fest davon überzeugt, dass das Böse dort lauern würde.

      Der Vater hebt hier und da die Hand zum Gruß und die Mutter lächelt eigentümlich, fast stolz. Dann haben sie endlich das Dorf hinter sich gelassen und biegen kurz darauf auf einen breiteren Weg ab. Aber schon nach dieser kurzen Strecke hat sich die staubige Erde in einer feinen Schicht auf ihre Aussteuer gelegt. Nach ihrer Ankunft wird sie erst einmal die Stühle, den Tisch, die große Truhe und das breite Bett reinigen und feucht abwischen müssen. Doch irgendwie ist es für die junge Frau ein Trost zu wissen, dass sie mit dem trockenen, braunen Staub auch etwas Heimat nach Fichtenried bringen wird.

      Fünf

      Es fällt Melchior tatsächlich leicht, sich in die Zeit vor über 120 Jahren zurückzuversetzen, in die Vorstellungswelt und die Empfindungen der Menschen. Trotzdem ist es eine Gratwanderung für ihn. Er hat nur wenige Anhaltspunkte und echte Dokumente aus dieser Zeit. Alles, was mit und zwischen seinen Figuren geschieht, muss er neu erfinden. Es ist genau das Gegenteil dessen, was er als Journalist für seine Zeitung schreibt. Und genau daran liegt der Reiz für ihn. Zufrieden schaltet er spät am Abend den Computer aus. Für heute ist es genug, ein Anfang ist gemacht.

      Er geht in die Küche, gießt sich den restlichen Rotwein vom Vortag in ein Glas und sucht im Kühlschrank nach etwas zu Essen. Mit einem Stück Käse, vier Cocktailtomaten und Toastbrot setzt er sich an den Esstisch. Akribisch teilt er die roten Paradiesäpfel und schneidet ausnahmsweise den Strunk nicht extra heraus. Melchior gibt ordentlich Salz dazu und steckt sich abwechselnd Käse und Tomaten in den Mund.

      Er isst konzentriert und versucht an nichts anderes zu denken. Doch mit dem letzten Bissen Toastbrot und dem letzten Schluck Wein taucht die Erinnerung an das Gespräch mit seiner Redaktionsleiterin wieder auf.

      „Undankbare Kuh“ ist der Ausdruck, mit dem er seiner Wut und der Enge in seiner Brust Luft macht. Doch er weiß ganz genau, dass seine junge Vorgesetzte nicht die Schuld an seinem Zwangsurlaub trägt. Sie war nur die Überbringerin der Botschaft. Melchior fragt sich, was er in seinem Berufsleben falsch gemacht hat. Er muss nicht lange überlegen, die Antwort kennt er. Schon immer fehlte ihm der Antrieb, sich mit anderen für Projekte oder gemeinsame Vorhaben zusammenzuschließen und ein sogenanntes Netzwerk zu bilden. Schon allein dieses Wort ist ihm zuwider. Teil eines solchen Netzwerkes zu sein, bringt ihm seiner Meinung nach keinen Vorteil. Er fühlt sich vielmehr darin gefangen und eingeengt. In den langen Jahren als Redakteur hatte er oft genug erlebt, wie ihn andere mühelos auf der Karriereleiter überholt haben, obwohl sie seiner Ansicht nach schlechtere Schreiber waren. Im Netzwerken lag hingegen ihre Stärke.

      Was ihm half, war seine Fähigkeit, den Überblick zu bewahren. Gerade in hektischen Situationen, wenn eine unerwartete Nachricht über die Redaktion hereinbrach und es sich dort plötzlich anfühlte, als sei man in einen Bienenstock geraten, blieb er kühl, versuchte schnellstmöglich an gesicherte Informationen zu kommen und sich nicht an den Spekulationen der anderen zu beteiligen. Er arbeitete für sich, effektiv, präzise und war stets verbindlich. Vielleicht kostete ihn dieses Voranpreschen im Alleingang Kraft und Lebensenergie, die er dann für andere Dinge nicht mehr übrig hatte? Trotz aller Anstrengung blieb ihm eine Position als Ressortleiter verwehrt. Wollte er solch einen Posten wirklich haben oder ging es hier nur um sein Prestige, um Anerkennung?

      Melchior steht energisch auf, stellt das benutzte Geschirr auf die Küchenablage und geht zu Bett. Für heute hat er mehr als genug gegrübelt. Luxusproblem einer Wohlstandsgesellschaft, das ist wohl der richtige Ausdruck für das, was in seinem Kopf vorgeht. Er denkt an Agathe und daran, was wohl in Fichtenried auf sie wartete, und ob sie Ludwig wiedersehen würde? Müde zieht er die Daunendecke mit dem verschlissenen, karierten Baumwollbezug bis zum Kinn hoch. Die Geschichte um die unglückliche Liebe und um Schmidheim nimmt in seinem Kopf weiter Gestalt an, während er träge die Augen schließt.

      1899

      Das vertraute Läuten der Kirchenglocken hallt Agathe schon entgegen, bevor der kleine Ort eine viertel Stunde später vor ihr auftaucht. Mit wenigen Minuten Verspätung schlüpft sie in die Kapelle und entflieht somit der Hitze, die sich schon früh an diesem Julisonntag über die Gegend gelegt hat. Den zweijährigen Donatus hält sie an der einen Hand, den Säugling Anderl wiegt sie sanft im anderen Arm. Die junge Mutter ist froh, sich im hinteren Teil auf einer Bank ausruhen zu können. Eigentlich wollte sie die Kinder bei ihrer Mutter in Oberschmidheim lassen, doch dann hätte sie einen Umweg machen müssen und wäre nicht rechtzeitig zur Messe erschienen. Der eigentliche Grund aber war das Wiedersehen mit Ludwig.


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