Wolfsgrund. Gerda Stauner
er seine Zwangspause nicht mit Belanglosigkeiten füllen. Bald geht er in Rente. Dann bleibt ihm noch genügend Zeit um lange Spaziergänge zu machen, stundenlang über Rezepten zu schmökern und dann umständlich in der ganzen Stadt die exotischen Zutaten dafür zusammenzutragen oder um sich vielleicht sogar sportlich zu betätigen. Zweitens hat ihn der Ehrgeiz gepackt und er empfindet den lapidar dahingeworfenen Vorschlag seiner Redaktionsleiterin als Herausforderung. Er will beweisen, dass er mehr drauf hat, als ein einfacher Wald- und Wiesenschreiber bei einer Lokalzeitung zustande bringt. Den dritten Grund will er sich zuerst nicht eingestehen. Doch seit der Redaktionskonferenz treibt ihn etwas um, das er so noch nicht kannte: Er hat das Gefühl Verantwortung tragen zu müssen. Verantwortung für die Beerbauers, für seine Familie. Das Bild von Anderl taucht vor ihm auf. Für den Großvater waren seine Frau, seine Tochter und sein Enkelkind das Wichtigste in seinem Leben. Für sie hätte er alles gegeben. Mehr noch, er hat sich Zeit seines Lebens für jeden eingesetzt, der unter seinem Dach lebte. Seine Familie und sein Hof waren ihm heilig. Um beide zu schützen, setzte er am Ende des Zweiten Weltkriegs sogar sein eigenes Leben aufs Spiel.
Der Hof ist schon lange verkauft und somit für immer verloren. Nun liegt es an Melchior, zumindest die Gene dieser Familie weiterzutragen und den Namen zu vererben. Sollte er in diesem Punkt auch noch scheitern, wäre er wohl in den Augen seiner Vorfahren ein Versager, oder?
Wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, um endlich reinen Tisch zu machen? Sobald er es wagt, diesen Gedanken zu formulieren, steigt die Angst in ihm auf, Franzi zu verlieren. Seit dreißig Jahren hadert er mit seinem Fehltritt und dessen Folgen. Zum wohl tausendsten Mal verflucht er sich und Ella und würde alles dafür geben, um ungeschehen zu machen, was in dieser lauen Sommernacht passierte. Um Franzi die Wahrheit zu sagen, dazu fehlt ihm der Mut. Sie würde ihrer Freundschaft ein Ende bereiten und diese Vorstellung ängstigt Melchior mehr als alles andere. Er kann und möchte seinen besten Freund nicht verlieren. Er ist alles, was ihm geblieben ist. Franzi, Ella und Caspar sind nun seine Familie.
Melchior vergräbt sein Gesicht zwischen den Händen und ist bemüht, seine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Das Gefühl zu ersticken blockiert sein Denken. Krampfhaft versucht er sich an die Technik zu erinnern, die Asthmatiker in dieser Situation anwenden. Dann fällt es ihm wieder ein: die Lippenbremse. Beim Ausatmen lässt er die Luft durch eine kleine Öffnung der Lippen entweichen. So entsteht ein Rückstau, der die Lungen wieder weitet. Langsam reguliert sich seine Atmung und er wird ruhiger.
Zehn Minuten später hat er sich wieder gefangen. Sein Blick fällt auf den Familienstammbaum, der bei den Unterlagen liegt, die er für den gestrigen Artikel gebraucht hatte. Aus Erzählungen seiner Oma weiß er, dass die Ehe seiner Urgroßmutter Agathe mit seinem Urgroßvaters Anton Beerbauer arrangiert war. Der Witwer hatte nach dem Tod seiner zweiten Frau Sabina deren Schwester geheiratet. Melchior versucht sich vorzustellen, wie Agathe sich damals gefühlt haben mag und beginnt ohne weiter darüber nachzudenken mit dem Schreiben. Er hat den richtigen Einstieg für die Geschichte gefunden, auch wenn der über ein halbes Jahrhundert vor der Vertreibung der Schmidheimer liegt.
1895
Der Gedanke an das neue Jahrhundert lässt Agathe nicht mehr los, seit der Pfarrer letzten Sonntag in seiner Predigt darüber gesprochen hat. Das zwanzigste Jahrhundert steht vor der Tür, hatte er von der Kanzel herab verkündet. Mit dieser Zeitenwende seien die Menschen mehr als je gefordert auf dem rechten Weg zu bleiben, die zehn Gebote einzuhalten und rechtschaffene Christen zu sein. Man habe ja gesehen, wie sehr sich die Welt mit der Eisenbahn verändert habe, die vor gut drei Jahrzehnten ungläubige Italiener ins Land gebracht habe. Aber waren Italiener nicht auch Christen wie wir, hatte Agathe da für sich gedacht. Der Pfarrer beharrte darauf, dass mit der Zeitenwende noch viel Schlimmes auf seine armen Schäflein zukommen würde. Um welche Schlechtigkeiten und Prüfungen es sich genau handelte, führte er nicht aus. Er ließ seine Gemeinde viel lieber mit der Ungewissheit und einem unguten Gefühl zurück.
Agathe schaut zum zweiten Mal an diesem heißen Sommertag nach, ob die Hühner endlich ihre Eier gelegt haben. Sie geht gerne in den Verschlag, der am Ende des Gemüsegartens hinter dem Haus steht. Dort kann sie zumindest für ein paar Augenblicke ihren Gedanken nachhängen und wird nicht sofort von den Eltern getadelt, weil die Arbeit liegen bleibt. Aus den Augen, aus dem Sinn. Dieses Sprichwort ist in diesem Fall tatsächlich wahr. Anders ergeht es der jungen Frau dabei mit Ludwig, dem jungen Wirtssohn aus Schmidheim. Obwohl sie ihn schon seit zwei Tagen nicht gesehen hat, taucht sein Bild mit dem spitzbübischen Gesichtsausdruck immer auf, wenn sie die Augen schließt. Tag und Nacht verfolgt sie die Erinnerung an seine hochgewachsene Statur und seine samtweichen Hände.
„Agathe?“ Die Stimme ihrer Mutter holt sie in die Realität zurück. Sie beeilt sich die Eier einzusammeln, legt sie behutsam in ihre Schürze und hastet zurück zum Haus.
Der Bote, der die telegrafische Nachricht überbringt, versucht verschlossen zu wirken. Zwar weiß er genau, ob die Botschaft, die er im Gepäck hat, gut oder schlecht ist, will sich dies aber um keinen Preis anmerken lassen. Geschäftsmäßig öffnet er die schwere Ledertasche, sucht umständlich nach dem Umschlag und übergibt diesen schließlich an den Blombauer. Adressiert ist die kurze Nachricht auf den Namen Bichlmeier, aber in ganz Schmidheim kennt man die Familie nur unter ihrem Hausnamen. Oft hat der Austräger Mühe, die Botschaften beim richtigen Adressaten abzuliefern, weil ihn die Familiennamen verwirren.
Er bleibt stehen und wartet auf die Reaktion des Bauern. Eigentlich will er so schnell wie möglich weiter, doch er weiß, dass es bei einer Nachricht wie dieser seine christliche, nächstenliebende Pflicht ist, Trost zu spenden. Er hat selbst eine Tochter und kann sich vorstellen, wie schrecklich die Botschaft über den Tod des eigenen Kindes sein muss.
Diese sture Matz, entfährt es dem Blombauern. Er versucht nicht, seine Stimme zu senken. Soll sie es doch hören. Es ist ihm egal. Seit der Nachricht über Sabinas Tod, die so unerwartet kam und ihn mehr betrübte, als er sich je hätte vorstellen können, bereitet ihm seine Zweitgeborene nur noch Ärger und Verdruss. Nichts kann sie ihm recht machen. Beim Melken ist sie zu grob zu den Kühen, den Schweinen gibt sie zu viel zu fressen und die Suppe gerät ihr entweder zu fad oder ist versalzen. Dass er selbst das Problem ist und seinen Kummer auf Agathe überträgt und sie für den Tod der Erstgeborenen leiden lässt, diesen Gedanken schiebt er weit weg. Aber an der Idee seiner Frau, den verwitweten Schwiegersohn mit der jüngeren Tochter zu verheiraten, könnte er Gefallen finden. Zum einen würde er vielleicht noch die ersehnten, leiblichen Enkelkinder bekommen, die Sabina ihm nicht schenken konnte. Gleichzeitig könnte sich Agathe um die Stieftochter ihrer Schwester kümmern. Sabina hatte aufopferungsvoll für die kleine Maria gesorgt und versucht, ihr die verstorbene Mutter zu ersetzen.
Und zum anderen wäre endlich der Romanze mit dem windigen Wirtssohn ein Ende gesetzt. Diese Liebschaft ist ihm schon lange ein Dorn im Auge. Nur hat er nicht gewusst, wie er eine Heirat verhindern konnte. Bisher hatte es der Ludwig nicht gewagt, um die Hand von Agathe anzuhalten. Dazu würde es nun auch nicht mehr kommen. Für ihn war es ausgemachte Sache, der Beerbauer würde nun auch noch seine zweite Tochter zur Frau nehmen. Die Aussteuertruhe stand bereits gepackt auf dem Dachboden.
Schon von Weitem sieht Ludwig die zierliche Gestalt, die auf der staubigen Dorfstraße zögerlich auf das Wirtshaus zugeht. Er hat Agathe sofort erkannt, die schmale Silhouette, das rotgemusterte Kopftuch unter dem die dunklen Haare hervorquellen, der aufrechte Gang. Sein Herz setzt für einen kurzen Moment aus und er schnappt nach Luft. Nun ist es also soweit, nun wird sie sich endgültig von ihm verabschieden.
„Ludwig!“, mehr als dieses eine Wort bringt sie nicht über ihre Lippen.
Wortlos geht er auf sie zu, nimmt sie an der Hand und zieht sie hinter den kleinen Anbau an der Kirche, in dem seit einiger Zeit die Kegelbahn untergebracht ist. Dann schließt er seine Arme fest um ihren kleinen Körper und spürt, wie in diesem Moment alle Anspannung von ihr abfällt und sie weich und verletzlich unter seinen muskulösen Armen wird. Dort, wo Agathes Wange sein Hemd berührt, fühlt er eine feuchte Wärme. Er kann nicht feststellen, ob das schwüle Wetter oder ihre stillen Tränen dafür verantwortlich sind.
Die letzten Tage und Wochen hatten sich beide immer wieder heimlich getroffen und überlegt,