Wolfsgrund. Gerda Stauner

Wolfsgrund - Gerda Stauner


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dich“, ist ihre einleitende Antwort. „Aber die Personalabteilung macht schon lange Druck. Die neuen Qualitätsstandards müssen eingehalten werden. Dazu zählt auch, dass wir uns an die Arbeitszeiten und Urlaubsvereinbarungen halten. Und zwar strikt. Es läuft jetzt alles ein bisschen anders. Alles wird reguliert, kontrolliert und kontinuierlich verbessert. In deinem Fall zu deinen Gunsten“, setzt sie süffisant hinzu.

      „Dass ich nicht lache! Die neuen Redakteure werden mit lausigen Verträgen abgespeist, Druckerei und andere Teile des Verlags werden in Tochterfirmen ausgelagert und alles muss schneller, rentabler und zeitgemäßer werden. Das passiert einzig und allein aus einem Grund: Um Geld zu sparen. Es läuft halt nicht mehr so gut mit den Abonnenten, sie sterben einfach weg. Und online Geld zu verdienen ist nicht ganz einfach. Das ist mir schon klar.“

      Melchior macht eine theatralische Pause.

      „Und du willst mir jetzt erzählen, dass ich bezahlt freinehmen kann? Wie passt das zusammen?“

      „Mir wäre es auch lieber, wenn ich dich weiter einplanen könnte. Gerade mit deinem heutigen Artikel hast du wieder mal gezeigt, dass du die Leute erreichen kannst. Auch die jungen, die nur noch online sind. Trotzdem …“

      „Was, trotzdem?“, blafft er sie an.

      Sie rollt mit den Augen und blickt kurz nach oben. Das ist es also. Entscheidung der Chefetage, durchzuckt ihn die unschöne Erkenntnis. Ich bin ihnen wohl zu teuer. Sie können es gar nicht mehr abwarten, bis zu meiner Rente. Die große Verabschiedung und das Firmenjubiläum kann ich mir wohl abschminken.

      „Wir sehen uns dann am nächsten Ersten wieder?“

      Unsicher blickt die um einiges jüngere Frau ihn an. Sie ist perfekt geschminkt, trägt einen schwarzen Bleistiftrock, hochhakige Pumps und eine helle Bluse aus einem fließenden Stoff. Die blondgefärbten Haare sind zu einem akkuraten Pagenkopf geschnitten. Melchior könnte schwören, dass sie noch nie im Leben eine Zigarette geraucht hat, geschweige denn etwas anderes. Ihr Erscheinungsbild gibt ihm zu denken. Seinerzeit waren die Redakteurinnen ganz andere Kaliber, robust, aufsässig, oft sogar revolutionär. Sie scheint sich seinen Blicken ausgesetzt nun unwohl zu fühlen. Nervös sucht sie ihre Unterlagen zusammen und geht schnell zur Tür. Dann dreht sie sich nochmal um.

      „Du hast doch bestimmt mehr Material über dieses Dorf gesammelt? Ich dachte mir, die Geschichte gibt vielleicht noch was her. Vielleicht kann man ein Buch daraus machen? Ich habe gehört, dass die Geschäftsführung den verlagseigenen Buchverlag wieder aufleben lassen will. Vielleicht hättest du daran Interesse?“

      Bevor Melchior antworten kann, hört er schon das leise Klicken der ins Schloss fallenden schallgedämpften Tür. Ratlos bleibt er zurück.

      Der Fluss strömt schneller als üblich in seinem steinernen Bett an ihm vorbei. Er hat sich dem tristen Braun seiner Umgebung angepasst, stellt Melchior fest, während er über die alte Brücke schlendert. Wo er auch hinblickt, er sieht nur gedeckte und stumpfe Farben. Von Frühlingserwachen ist hier, in der steinernen Mitte der Stadt, nichts zu spüren. Die wenigen Bäume in der Umgebung sind noch kahl und tragen schwer an den Wunden, die die Mitarbeiter des Gartenamtes ihnen vor wenigen Tagen zugefügt haben. Ob die Bäume wirklich von Pilzen oder schmarotzendem Getier befallen waren und nur noch eine Radikalkur das Absterben der jahrzehntealten Riesen verhindern konnte, kann der Journalist nicht beurteilen. Die zurechtgestutzten Bäume sehen jedenfalls bemitleidenswert aus.

      Sie sehen so aus, wie ich mich fühle, folgert er und beschleunigt seinen Schritt, um dem jämmerlichen Anblick zu entkommen.

      Die Gassen der Altstadt sind so gut wie menschenleer. Früher wäre ihm diese Tatsache nicht aufgefallen. Meist durchquerte er Straßen und Passagen in eiligem Tempo auf dem Weg zu einem Termin. Er machte sich nicht die Mühe nach links oder rechts zu schauen. Und wenn er abends eines seiner Stammcafés ansteuerte, war es meist schon dunkel. Er war nicht an anderen Menschen interessiert, alleine das Grüßen strengte ihn an. Ganz früher hatte sich Melchior oft das Hirn zermartert auf der Suche nach dem Namen zu einem Gesicht, das ihn freundlich grüßte. Irgendwann gab er es auf. In seinem Beruf traf er jeden Tag neue Menschen. Es war unmöglich, ihre Namen zu behalten.

      Jetzt aber nimmt er das Hallen seiner Schritte auf dem Kopfsteinpflaster wahr. Er fühlt sich seltsam verwundbar, alleine und ausgesetzt in einer Welt, die ihm fremd ist. Melchior versucht die Blicke der wenigen Passanten zu meiden, hat jedoch den Verdacht, dass diese ihm fragend hinterherblicken. Um dieses unbehagliche Gefühl nicht weiterhin aushalten zu müssen, betritt er eine kleine Buchhandlung, die gerade öffnet.

      Ein helles, metallisches Klingeln kündigt seinen Besuch im Laden an. Er registriert verwundert, dass die Tür nicht automatisch schließt und nur mit einem kräftigen Ruck zugemacht werden kann. Wärme und der trockene, unverwechselbare Geruch von Papier und Druckerfarbe empfängt ihn. Der Mann hinter der Kasse nickt ihm freundlich zu, vertieft sich aber sofort wieder in eine vor ihm liegende Liste. Sonst scheint niemand da zu sein.

      Melchior lässt seinen Blick über die aus der Mode gekommenen Eichenholzregale schweifen, erfasst die verschiedenen Rubriken und geht schließlich zu einer Reihe von Büchern, die auf einem kleinen Tischchen in der Mitte des Raums gestapelt sind. Die Ausgaben mit grellen Covern und eigenartigen Titeln passen überhaupt nicht in die gediegene Atmosphäre der Buchhandlung. Er wendet sich ab und tritt an das gegenüberliegende Regal. Die Rubrik „Heimatgeschichte“ liegt vor ihm. Rasterartig erfasst er die Titel. Bei den Begriffen „Truppenübungsplatz“ und „Hohenfels“ bleibt er hängen. Ohne nachzudenken greift er nach einem dicken Wälzer, zieht ihn heraus und geht zur Kasse.

      „Eine sehr gute Wahl!“, lobt ihn der Mann an der Kasse. „Es ist unser letztes Exemplar. Soviel ich weiß, ist die Auflage ausverkauft. Es wird wohl auch keine weitere geben, das Interesse an diesem Teil unserer Geschichte hat stark nachgelassen. Liegt vor allem daran, dass bald niemand mehr da ist, der die Vertreibung von dort noch selbst miterlebt hat.“

      Melchior runzelt die Stirn. Er fühlt sich überrumpelt, findet keine Antwort auf die Ausführungen seines Gegenübers. Dieser scheint seinen Fauxpas sofort zu bereuen.

      „Tut mir leid, ich rede manchmal einfach so vor mich hin.“

      „Nein, ist schon in Ordnung. Ich hatte das Buch nur intuitiv aus dem Regal genommen, ohne weiter darüber nachzudenken. Ich hatte kürzlich mit dem Thema zu tun, daher kam wohl mein Interesse. Aber nun weiß ich eigentlich gar nicht mehr, was ich damit soll.“

      Der andere deutet auf die Tageszeitung, die neben der Liste liegt.

      „Haben Sie den Artikel geschrieben?“

      Melchior fühlt sich ertappt. Er nickt langsam.

      „Wunderbar! Ich habe ihn mit Freude gelesen! Sie haben das wirklich fabelhaft recherchiert.“ Er macht eine kleine Verbeugung. „Ich kann das beurteilen. Meine Tante stammte aus einem Nachbardorf von Schmidheim und musste 1951 ebenfalls alles zurücklassen. Sie hat oft darüber gesprochen und der Verlust hat sie sehr geprägt.“

      „Danke, das freut mich sehr. Also Ihr Lob meine ich. Nicht die Tatsache, dass Ihre Tante alles verloren hat.“

      „Schreiben Sie weiter darüber?“

      Die Frage ist wohl nur eine höfliche Floskel. Melchior hat nicht den Eindruck, als ob der Mann wirklich an einer Antwort interessiert wäre. Er tippt bereits den Betrag in die Kasse und wartet auf sein Geld. Melchior begleicht seine Schuld in bar und verabschiedet sich mit einem unverbindlichen „Mal sehen“. Zurück in der Gasse spürt er, wie seine schlechte Stimmung einem bekannten Aktionismus weicht. Der innere Antreiber meldet sich zu Wort. Sofort ist es positiv angestachelt und beginnt zu überlegen, wie er mehr aus der Geschichte herausholen könnte. Pfeifend und mit zielstrebigen Schritten macht er sich auf den Heimweg.

      Vier

      Daheim angekommen steuert Melchior direkt das Arbeitszimmer und seinen Schreibtisch an. Wie immer, wenn er am Anfang einer vielversprechenden Geschichte sitzt, ist er angespannt, aber auf eine sehr positive Art und Weise. Man könnte es vielleicht mit einer Jagd vergleichen, bei der man am Anfang noch nicht


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