Wolfsgrund. Gerda Stauner
Der Boden schwankt unter seinen Füßen. Es ist wirklich lächerlich, versucht er sich selbst Mut zuzusprechen. Ich rufe ständig Menschen an, wichtige und unwichtige, interviewe sie, kitzle Geheimnisse aus ihnen heraus, spreche über unangenehme Dinge. Wieso sollte dieses Gespräch anders sein? Aber er kann sich nichts vormachen, diese Situation war anders. Mit diesem Anruf würde er eine Verbindung zu seiner Vergangenheit herstellen, einen Draht zurück in eine Zeit spannen, die er lieber verdrängen und vergessen würde.
Er spürt wieder seine klammen, schweißnassen Hände und sein Blut scheint ausschließlich im unteren Drittel seines Körpers zu zirkulieren. Komm schon, es ist nur ein Anruf! Der Gedanke daran, dass nur ein paar Straßen entfernt Annettes Telefon läutet, lässt Melchior zurückzucken und den Hörer aus der Hand gleiten. Jetzt sei nicht kindisch! Es ist wieder die strenge Stimme, die zu ihm spricht. Sklaventreiber, nennt der Redakteur sie oft zum Spaß. Er hat ein ambivalentes Verhältnis zu dieser Stimme. Meist hilft sie ihm dabei, seine Artikel rechtzeitig fertigzustellen, Termine einzuhalten und an Sachen dranzubleiben. Doch in Momenten wie diesen verflucht er sie. Am liebsten würde er zurückbrüllen: Halt dein Maul, verzieh dich! Doch die Neugierde hindert ihn daran. Er denkt wieder an den verlassenen Ort, die verfallene Wirtschaft, das zur Fledermaushöhle umfunktionierte Kirchlein. Und an den Namen Bichlmeier.
Ruckartig steht er auf, springt zweimal hoch und reibt seine Handflächen aneinander. Das Blut beginnt wieder im ganzen Körper zu zirkulieren, seine Finger werden gelenkig und warm. Ohne sich noch weitere Gedanken zu machen, hebt er sein Handy auf und tippt ungelenk die Nummer seiner Großcousine ein.
„Ja? Hallo?“
Eine angenehme Frauenstimme dringt gedämpft an sein Ohr.
„Ja! Hier ist Melchior. Melchior Beerbauer. Wir sind …“, er räuspert sich. „Wir sind verwandt.“ Eine noch blödere Einleitung ist dir wohl nicht eingefallen, höhnt der Sklaventreiber.
Für zehn Sekunden herrscht Schweigen. Dann raschelt es in der Leitung. Melchior nimmt wahr, wie Enttäuschung sich in ihm ausbreitet. Sollte das Gespräch damit schon beendet sein? Doch im nächsten Moment hört er wieder die wohltuende Stimme, glasklar, als ob sie direkt neben ihm stehen würde.
„Wir müssen uns dreißig Jahre oder länger nicht mehr gesehen haben! Hast du meine Post bekommen?“
In ihrer Aussprache liegt ein vertrauter Klang, in dem Wärme mitschwingt. Melchior wird augenblicklich von einer Woge der Zuneigung erfasst. Wie kann das sein?
„Ja. Danke dafür.“ Auch er versucht freundlich und zugewandt zu klingen. „Das ist eigentlich der Grund meines Anrufs. Geht es dir gut? Wo bist du?“
„Mir geht es sehr gut. Ehrlich gesagt so gut wie schon seit Jahren nicht mehr. Im Moment bin ich in Malta und arbeite dort ehrenamtlich für eine Hilfsorganisation in der Seenotrettung.“
„Auf dem Mittelmeer?“
Die glasklare Verbindung hat ihn getäuscht. Er merkt, wie traurig er darüber ist.
„Nein. Ich helfe im Hafen von Malta beim Crewwechsel. Auf See hab ich mich noch nicht getraut.“
„Und wie lange wirst du weg sein?“
„Das kann ich noch nicht genau sagen. Die Saison hat gerade erst angefangen. Die Einsätze gehen bis in den Herbst hinein. Mal sehen, wie lange ich es hier aushalte.“
Enttäuschung überkommt ihn. Irgendwie hatte er angenommen, dass er Annette persönlich treffen könnte. Das war nun schlecht möglich.
„Aber du wolltest etwas ganz anderes wissen? Etwas über den Stammbaum, den ich dir geschickt habe?“
„Ja. Stimmt. Stell dir vor! Ich schreibe gerade einen Artikel über die Vertreibung der Menschen rund um den Truppenübungsplatz Hohenfels Mitte des 20. Jahrhunderts. Ich habe heute das ehemalige Dorf Schmidheim besucht und bin dabei auf den Namen Bichlmeier gestoßen. Diesen Namen habe ich nun auf unserem Stammbaum wiedergefunden! Unsere Urgroßmutter stammte aus diesem Dorf!“
Nun fühlt er sich wie ein Zauberer, der dem Publikum einen besonders spektakulären Trick gezeigt hat.
„Also genau gesagt ist es nur deine Urgroßmutter. Unser Urgroßvater war dreimal verheiratet. Ich stamme aus direkter Linie seiner ersten Frau ab.“
Ein angenehmes Lachen dringt durch den Hörer.
„Aber wir haben immerhin denselben Urgroßvater.“
Im nächsten Moment wird Annette wieder ernst.
„Und wir beide sind die letzten aus dieser Familie. Wusstest du das?“
Nun ist der Redakteur verwirrt. Er war immer der Meinung, dass er aus einer weitverzweigten Familie abstammte und es noch unzählige Verwandte gibt. Er geht zum Schreibtisch zurück und schaut sich den Stammbaum an. Es stimmt, außer ihm und Annette scheint niemand mehr da zu sein.
„Bist du dir da sicher? Vielleicht hat einfach jemand vergessen, den Stammbaum weiterzuführen?“
„Ich bin mir sicher. Nach dem Tod meiner Mutter habe ich mich lange mit unseren Vorfahren und deren Geschichte beschäftigt. Ich habe alte Briefe gelesen, Fotos sortiert und Geburts- und Sterbeurkunden studiert. Es ist niemand mehr da. Nur wir beide. Wie es scheint, sterben die Beerbauers mit uns aus. Soviel ich weiß, hast du keine Kinder. Und dass ich keine habe, kann ich dir mit Sicherheit sagen.“
Ihr Tonfall ist weder verbittert noch drückt er Bedauern aus. Melchior hat das Gefühl, als ob Annette mit dieser Tatsache kein Problem hätte. Ganz anders als er. Tausend unterschiedliche Gedanken und Bilder tauchen auf. Franzi, Fichtenried, sein Großvater Anderl und seine Großmutter Theres. Seine Knie werden wieder weich und er kann nicht anders, als sich auf seinen Bürostuhl fallen zu lassen. Plötzlich sieht er nur noch ein Bild vor sich: einen struppigen Wolf, der einsam durch das verlassene Dorf Schmidheim streift.
Jetzt reiß dich zusammen! Der Sklaventreiber ist wieder da. Diesmal ist Melchior dafür dankbar. Seine Gedanken werden wieder klar.
„Über Schmidheim selbst weißt du vermutlich nichts?“
Es ist eine rhetorische Frage. Wie erwartet verneint Annette. Melchior will das Gespräch so schnell wie möglich beenden. Auch wenn er positiv von seiner Großcousine überrascht ist und sofort eine Verbindung gespürt hat, fällt es ihm nun schwer weiterhin locker und leicht zu plaudern. Er verabschiedet sich höflich und wünscht ihr viel Erfolg für ihre Mission. Melchior schafft es mit letzter Kraft, nicht abweisend und schroff zu werden. Ganz kurz flackert ein Wunsch in ihm auf: Vielleicht hätte er ihr die Wahrheit sagen können? Doch so schnell dieser Gedanke gekommen ist, so schnell verschwindet er auch wieder.
Die Minuten verstreichen wie Sekunden. Melchior sitzt mit starrem Blick an seinem Schreibtisch, kratzt sich an der Stirn, fährt mit den Fingern den faltig gewordenen Hals entlang und prüft dabei die Elastizität seiner Haut. Diese lässt von Jahr zu Jahr nach. Er wird alt.
Das Bild des einsamen Wolfes taucht wieder auf und mit ihm ein Unwohlsein, das der Journalist immer noch nicht einordnen kann. Verzieh dich aus meinen Gedanken, will er brüllen. Lass mich in Frieden. Du und ich, wir haben nichts gemeinsam.
Sein Blick fällt auf die Zeitanzeige auf seinem Bildschirm und er gähnt. Nur noch zwei Stunden, dann muss er den Text für die Redaktion fertig haben. Der innere Antreiber in ihm erwacht. Er scheucht den Redakteur in die Küche und lässt ihn einen starken Espresso kochen. Melchior nimmt die dickwandige Tasse mit zum Schreibtisch und öffnet die Email des Pressesprechers.
Die nächsten dreißig Minuten liest er aufmerksam alle Dokumente über Schmidheim und die beiden Ablösewellen rund um das Gebiet des heutigen Truppenübungsplatzes, notiert sich Jahreszahlen, Dorfnamen und wichtige Eckdaten. Dann sucht er nach einem Aufhänger für den Beitrag, nach einem guten Einstieg. Er bleibt bei einem alten Zeitungsartikel aus dem Herbst 1951 hängen, der den letzten Schultag einer Handvoll Schmidheimer Schüler beschreibt. Wie sie vom Lehrer mit einer besonderen Ansprache verabschiedet werden, wie sie unter den mitleidigen Blicken der Mitschüler das Schulhaus verlassen, mit einem großen Fragezeichen