Frost & Payne - Die mechanischen Kinder Die komplette erste Staffel. Luzia Pfyl
musste hier raus, und zwar schnell.
Wieder stemmte er sich gegen den Balken. Der Schmerz durchfuhr seine linke Seite. Payne brüllte auf, doch er schob weiter. Der Balken bewegte sich endlich. Keuchend kroch er rückwärts darunter hervor. Als er an sich hinunter schaute, sog er scharf die Luft ein. Ein Stück Holz des Balkens steckte wie ein Spieß in seinem Körper, knapp unterhalb der Rippen. Shit. So vorsichtig er konnte, schob er sich an die nächste Wand und lehnte sich mit dem Rücken daran. Mit bebenden Händen betastete er den Splitter und die Wunde. Er musste ihn rausziehen. Falls er Glück hatte, steckte er nicht allzu tief, und er würde nicht gleich verbluten. Falls er Pech hatte, blieben kleinere Splitter in der Wunde und er würde qualvoll sterben.
Payne atmete schnell ein und aus und biss die Zähne zusammen. Er packte das Holzstück und zog es mit aller Kraft, die seine zitternden Arme aufbringen konnten, aus seinem Körper. Der heiße Schmerz raubte ihm beinahe die Sinne. Er bebte am ganzen Leib und schwitzte stark. Der Splitter rollte aus seiner blutigen Hand. Payne schloss für einen Moment die Augen.
Wie lange er so dasaß, konnte er nicht sagen. Als er sich stark genug fühlte, stemmte er sich nach oben. Er musste raus. Das Feuer breitete sich rasend schnell aus.
Vorsichtig machte er einen Schritt nach dem anderen und tastete sich an der Wand entlang. Dann entdeckte er das klaffende Loch in der Wand, die seine Wohnung von der daneben trennte. Von der anderen Wohnung war nichts mehr übrig, und ein riesiger Schlund befand sich nun dort, wo einmal die Fensterfront zur Straße gewesen war. Eisiger Wind und ein paar Schneeflocken drangen herein.
Payne suchte sich einen Weg durch die Trümmer und fand sich endlich auf dem Flur vor seiner Wohnung wieder. Das Treppenhaus war halb eingestürzt, doch er hoffte, dass die Stufen sein Gewicht tragen würden.
Die Minuten schienen sich ewig hinzuziehen, bis er endlich das Erdgeschoss erreicht hatte. Ihm war schwindelig, und die Wunde pochte heiß. Die Hand, die er darauf gepresst hatte, war schon lange klebrig und nass vom Blut, das er verlor.
Am unteren Ende der Treppe kamen ihm mehrere Männer entgegen, die ihn sogleich stützend zwischen sich nahmen und auf die Straße hinausführten. Payne hörte, wie sie auf ihn einredeten, doch er verstand nicht, was sie sagten. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
»Hey, Mister, leben Sie noch?«
Jemand tätschelte seine Wange. Payne ächzte und schlug die Augen auf. Drei besorgte Gesichter, von Ruß geschwärzt, sahen auf ihn herab. Payne richtete sich auf, und sofort durchzuckte ihn der Schmerz. Stöhnend presste er die Hand auf die linke Seite und fühlte frisches Verbandszeug.
»Fiese Wunde, die Sie da haben, Mann«, sagte einer der Männer, die sich über ihn beugten. »Sie sollten in ein Hospital.«
Payne schüttelte den Kopf und richtete sich vollends auf. Schwer atmend starrte er auf die Szenerie, die sich ihm bot. Die Straße war vom Feuer hell erleuchtet. Schaulustige hatten sich um die Absperrungen der Feuerwehr herum versammelt. Vor dem White Stag lagen Trümmer und verkohlte Holzbalken. Die Fassade des alten Fachwerkhauses war vollkommen zerstört.
»Ein Glück, dass sie da heil rausgekommen sind«, hörte Payne jemanden sagen. »Der andere ist so verkohlt, dass man ihn nicht mehr erkennen kann.« Der Mann deutete auf eine Bahre, die einige Meter entfernt neben einem der Feuerwehrwagen im Schnee lag. Jemand hatte ein weißes Tuch über die Leiche gelegt, doch Payne konnte den Arm sehen, der darunter hervorschaute.
Ihm wurde schlecht. Das hätte genauso gut er sein können. Er hatte verdammt viel Glück gehabt.
Durch den lodernden Feuerschein hindurch erkannte er die Gesichter der Kellnerin und des Wirtes des Pubs. Die Kellnerin weinte hemmungslos, doch der Wirt starrte nur auf das Feuer, das sein Haus verschlang. Payne fühlte Erleichterung in sich aufsteigen, als er sah, dass beide anscheinend unverletzt waren. In den paar Wochen, seit er in die Wohnung über dem Pub eingezogen war, hatte er die beiden als nette Menschen kennengelernt.
Sein Blick wanderte wie von selbst weiter. Er erkannte einige Nachbarn unter den Schaulustigen. Ein Mann, der sich im Hintergrund hielt, erregte seine Aufmerksamkeit. Payne rappelte sich auf und sog die Luft ein, als der Schmerz ihn durchfuhr.
Dieser Mann. Er beobachtete ihn, nicht das brennende Haus wie die anderen Schaulustigen. Wer war er?
Er musste hier weg. Alarmsignale gingen in seinem Kopf los und rieten ihm, so rasch wie möglich von hier zu verschwinden.
Keuchend wandte Payne sich von seinen Rettern ab und ging, so schnell es sein Zustand erlaubte, an der Häuserzeile entlang, bis er eine winzige Abzweigung erreichte. Hinter der Ecke presste er sich an die kalte Hausmauer und rang nach Atem.
Das war nicht einfach eine unglückliche Gasexplosion gewesen, wurde ihm klar. Das Gesicht des Mannes flimmerte vor seinem inneren Auge. Sie hatten die falsche Wohnung erwischt. Der Tote auf der Bahre hätte eigentlich er sein sollen.
»Verdammt, die hätten mich beinahe in die Luft gesprengt«, murmelte er. War das der Russe gewesen? Hatte man bereits erfahren, dass er ihm auf der Spur war? Er versuchte seit zwei Monaten, an den Mann heranzukommen. Nun sah es so aus, als hätten sie ihn zuerst gefunden. Das hieß umgekehrt aber auch, dass er auf der richtigen Fährte war.
Er musste diese Schlüsselmacherin finden.
Payne blickte an sich hinunter. Jemand hatte tatsächlich seine Wunde verbunden. Doch seine Kleidung war dreckig und blutig. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf, und hastig griff er in sein Jackett. Als er das Lichtbild herauszog, lachte er erleichtert auf. Es war unbeschädigt. Mit neuer Entschlossenheit steckte er es zurück und humpelte die schmale Gasse entlang, weg vom Pub und vor allem weg von dem Fremden.
Auf einem Hinterhof hinter der Aldgate Tubestation fand er zwischen Unrat und Müll einen alten Wollmantel. Payne fror fürchterlich und streifte ihn sich ohne zu zögern über, auch wenn der Mantel schrecklich stank. Mit hochgeschlagenem Kragen zweigte er in die Hauptstraße ab und tauchte zwischen den ersten Passanten des Tages unter.
Immer wieder schaute er über die Schultern, doch er sah das Gesicht des Fremden nicht mehr. Dennoch wurde er das ungute Gefühl nicht los, dass er verfolgt wurde. Wo sollte er hin? Seine Wohnung und all seine Habseligkeiten waren zerstört und verbrannt. Der Gedanke an Cecilia und ihr Haus, sein Haus, schoss ihm durch den Kopf, doch er verwarf ihn sogleich wieder. Wenn er dort Zuflucht suchte, würde er Cecilia nur in Gefahr bringen.
Eine Straßenbahn ratterte an ihm vorbei und holte ihn aus den Gedanken. An einer Laterne hielt er inne, um sich zu orientieren und um eine kurze Pause einzulegen. Die Wunde schmerzte höllisch, und er spürte, dass der Verband bereits mit Blut durchtränkt war.
Über den Häusern wurde der Himmel langsam heller. Um seine Hände zu wärmen, steckte er sie in die Hosentaschen – und hielt inne. Verwundert zog er einen Geldschein heraus. Er hatte gestern Nacht also doch nicht all sein Geld versoffen. Damit konnte er sich für ein paar Nächte in einer der billigen Absteigen in Covent Garden einquartieren. Das Viertel war weit genug weg von Whitechapel, so dass er für ein paar Tage untertauchen und weiter seiner Arbeit nachgehen konnte.
7.
Frost saß nachdenklich an ihrem Schreibtisch. Die Füße hatte sie auf den Tisch gelegt, der Bleistift in ihrer Hand wippte nervös auf und ab. Der Foliant lag vor ihr auf dem Tisch. Bei Tageslicht konnte man deutlich sehen, wie alt er war. Die von Hand zusammengewobenen Seiten waren lose, auf dem Rücken schauten Fäden heraus, der Einband aus Leder war abgewetzt. Auf der Vorderseite war ein Buddha abgebildet.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, mit dem Folianten ein Stück Familiengeschichte vor sich auf dem Tisch zu haben. Natürlich war es nicht ihre leibliche Familie, doch für Frost war Madame Yueh die Frau, die sie von der Straße geholt und in ihre Familie integriert hatte, als wäre sie ihre leibliche Tochter.
Madame Yueh würde sehr viel tun, um den Folianten wiederzubekommen. Deswegen hatte sie auch sie, Frost, darum gebeten, ihn Bingham zu stehlen. Michael hatte davon gesprochen,