Frost & Payne - Die mechanischen Kinder Die komplette erste Staffel. Luzia Pfyl

Frost & Payne - Die mechanischen Kinder  Die komplette erste Staffel - Luzia Pfyl


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sich, und Frost machte sich etwas zerknirschter als noch vor einigen Minuten wieder auf den Weg. Sie dachte an das Lichtbild des Pinkertons, das auf ihrem Schreibtisch lag. Wie sollte sie diesen Mann unter all den Männern in dieser Stadt nur finden? Aber sie hatte den Auftrag angenommen. Sie brauchte das Geld.

      Eines nach dem anderen, ermahnte sie sich, als sie eine belebte Kreuzung überquerte. Erst musste sie zu Jonah, damit er sich das Buch anschaute.

      Die eisige Winterluft drückte den Smog und die Asche von Hunderten von Kohleöfen und rauchenden Kaminen hinunter in die Häuserschluchten. Die Menschen umwickelten ihre Gesichter mit Schals und Tüchern, um sich vor dem Smog zu schützen. Frost tat es ihnen gleich und zog ihren Schal über Mund und Nase. Als sie um eine Ecke bog, hielt sie erschrocken inne. Vor ihr türmte sich ein mechanisches Ungeheuer aus Metall in die Höhe. Seine dicken Arme bogen sich laut quietschend, und aus zwei Abgasrohren, die sich auf seinem Rücken befanden, schoss schwarzer Rauch in die Luft. Der Boden unter Frosts Füßen bebte, als das Ungetüm sich durch die aufgerissene Straße wühlte.

      Bauarbeiten, schoss es Frost durch den Kopf, als sie die gewaltige Maschine anstarrte. Die Straße, die sie eigentlich auf direktem Weg zum Museum geführt hätte, war abgesperrt. Ein Konstrukt aus wackelig aussehenden Treppen und Metallplanken schraubte sich hinter Frost in die Höhe und weit hinter der Baustelle wieder hinunter. Eine schnellere Option für Passanten, die nicht den langen Umweg nehmen wollten.

      Frost stieg die Treppen hinauf und ging sicheren Schrittes über die instabilen Metallplanken. Das Geländer stellte sich als noch instabiler heraus – Frost wollte sich nicht darauf verlassen, dass dieses im Ernstfall halten würde. Unter ihr wühlte sich die gewaltige Maschine dröhnend durch das halb gefrorene Erdreich und beförderte mit ihren enormen Schaufelhänden Tonnen von Dreck und Schutt ans Tageslicht. Der dichte Rauch raubte Frost beinahe den Atem, der Lärm betäubte ihre Sinne. Die Arbeiter, die sich weit unter der erhöhten Passage befanden, waren so sehr mit Kohle und Erde bedeckt, dass man sie kaum als Menschen erkennen konnte.

      Frost war froh, als sie endlich wieder sicheres Pflaster unter sich hatte, und eilte die Straße weiter. Bald darauf konnte sie in der Ferne die hoch aufragende Fassade des Museums sehen. Über der gläsernen Kuppel schwebten zwei kleine Zeppeline. Durch den Smog konnte Frost die Wappen der beiden Adelshäuser erkennen, die auf die Hüllen gemalt waren. Das Museum hatte also hohen Besuch.

      Eine Straßenbahn entlud an der Station vor dem Museum eine Ladung Besucher. Frost mischte sich unter sie und betrat zwischen einem jungen Ehepaar und einer Schar Schulkinder den Säulengang. In der riesigen Eingangshalle musste sie, wie jedes Mal, kurz innehalten und zur Glaskuppel hinaufschauen. Das Licht fiel durch die Scheiben zwischen den feinen Stahlträgern.

      Im Museum war es warm, und Frost löste den Schal von ihrem Gesicht. Die Schulkinder kreischten aufgeregt durcheinander, doch als der Lehrer sie laut ermahnte, stellten sie sich in zwei Reihen artig vor ihm auf. Frost musste schmunzeln. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, dass sie damals ebenso aufgeregt gewesen war, als sie das Museum zum ersten Mal in Begleitung von Madame Yueh besucht hatte.

      »Guten Tag, Madam, und herzlich willkommen im Britischen Museum. Wie kann ich Ihnen zu Diensten sein?«

      Frost wandte sich von den Schulkindern ab und sah sich einem der Servicedroiden gegenüber. Er war gänzlich mit Messing verkleidet und ähnelte einem Bierfass, dem man einen halbwegs menschlichen Kopf aufgesetzt hatte. Er hatte runde Augen, die einer Fliegerbrille ähnelten, und senkrechte Schlitze im Metall, die einen Mund ersetzten. Unter seinen Stummelbeinen befanden sich Rollen, mit denen er sich fortbewegte. Seine Bewegungen waren ungelenk und steif.

      Frost mochte diese Servicedroiden nicht sonderlich. Man hatte versucht, ihnen ein menschliches Aussehen zu verleihen, doch Frost waren sie nur unheimlich. Selbst die Stimme, die man den Droiden gegeben hatte, war blechern und abgehackt.

      »Ich möchte zu Dr. Jonah Neville«, sagte sie und betrachtete die kleinen Blinklichter, die nun hinter den Fliegergläsern aufleuchteten, während der Droide ihre Worte verarbeitete.

      »Werden Sie erwartet, Madam?«, blechte er ihr entgegen.

      »Nein. Dr. Neville ist ein Freund.« Frost hatte eine vage Ahnung, dass dem Droiden die Bedeutung des Wortes Freund unbekannt war. Hinter ihr marschierten die Schulkinder los in Richtung ägyptische Abteilung.

      »Bitte, folgen Sie mir, Madam«, antwortete der Droide nach einer halben Ewigkeit. Frost verdrehte die Augen, als er sich ruckelnd um die eigene Achse drehte und sich dann quälend langsam in Bewegung setzte.

      »Vielen Dank, aber ich kenne den Weg. Außerdem bin ich ohne dich schneller.«

      »Vielen Dank für Ihren Besuch im Britischen Museum. Neben dem Eingang finden Sie eine Kollekte für die Ausgrabung in Mesopotamien. Wir freuen uns auf Ihren nächsten Besuch.«

      Frost ächzte leise auf, als sie den Servicedroiden stehen ließ und durch die Halle ging. Fortschritt und Technik schön und gut, aber diese Droiden gefielen ihr wirklich nicht. Sie zog die Kommunikation zwischen zwei menschlichen Wesen definitiv vor.

      Mit weiten Schritten ging sie an den Informationstresen und am Souvenirladen vorbei nach rechts in die King’s Library. Die Bibliothek versetzte sie immer wieder in Staunen. Die meterhohen Wände waren mit langen Reihen von Regalen bedeckt, die wiederum lange Reihen von alten und uralten Büchern enthielten. Hohe Leitern lehnten an ihnen. Hoch über Frost befand sich die mit reichem Stuck und Blattgold verzierte Decke, ausladende Kronleuchter an eisernen Ketten hüllten die Halle in ein warmes Aetherlicht.

      Frosts Absätze klackten auf dem Marmorboden, als sie die Mitte der Halle durchschritt. Zu beiden Seiten befanden sich Schreibpulte und Lesetische, an denen Gelehrte und Studenten saßen. Mehrere Servicedroiden rollten zwischen den Tischen und Regalen umher, die mechanischen Arme beladen mit dicken Büchern.

      An einem der Tische fand sie den Mann, den sie suchte. »Jonah!«

      Der etwas dickliche Mann schaute auf. Als er Frost auf sich zukommen sah, zuckte er zusammen und machte ein Geräusch, das sich wie das Quieken einer Maus anhörte. Hastig fing er an, seine Papiere zusammenzupacken und sah dabei aus, als wäre er am liebsten geflohen.

      »Hallo, Jonah«, sagte Frost noch einmal, diesmal lächelnd, und stellte sich dem Mann in den Weg. Er hatte mausgraue Haare und trug eine runde Brille auf der Nase, die ihm ständig herunterrutschte. »Ich wusste doch, dass ich Sie hier finde.«

      »Miss Frost!«, rief Jonah Neville aus und presste das Buch, das er soeben an sich genommen hatte, fest an seine Brust, als wollte er sich damit schützen. »Was für eine Überraschung, Sie hier zu sehen.« Seine Stimme bebte leicht.

      »In der Tat.« Frost legte den Kopf schief und musste schmunzeln. Jonah hatte immer noch Angst vor ihr. Sie musste die Sache behutsam angehen. »Viel zu tun?« Frost deutete mit dem Kinn auf die Papiere auf dem Tisch.

      Neville nickte nervös. »Äh, ja, ja, neue Schriftstücke von Königin Elisabeth I. wurden entdeckt. Ich prüfe sie auf ihre Echtheit.« Er warf Frost einen schnellen Blick zu. »Darf ich fragen, was Sie hier machen, Miss Frost?«

      »Ich glaube, ich habe etwas, das Sie sehr interessieren dürfte.«

      Neville wich einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. »Ich habe sehr viel zu tun, Miss Frost. Ich habe leider keine Zeit für Ihre …«

      »Es ist ein altes Manuskript aus Tibet.« Frost ließ die Worte kurz wirken. Neville hielt inne und senkte das Buch ein kleines bisschen. Sie hatte ihn an der Angel.

      »Wie alt?«

      »Sehr alt, glaube ich. Aber ich bin keine Expertin, was solche Sachen angeht.«

      Neville befeuchtete sich die Lippen. »Darf ich es sehen?«

      Innerlich triumphierend holte Frost den Folianten aus ihrer Umhängetasche, legte ihn auf den Tisch und löste behutsam die Stofflappen, in die sie ihn gewickelt hatte. Neville pfiff leise durch die Zähne und legte sein Buch beiseite. Er rückte seine Brille zurecht und beugte sich über den Folianten.


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