Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel. Nadine Erdmann
musterte ihn besorgt. »Was ist los? War das noch eine Nachwirkung der Schlafstarre?«
Cam spürte, wie heftig sein Herz plötzlich wieder gegen seine Rippen schlug, doch er wollte nicht, dass Jules es merkte. Er mochte den Blick nicht, mit dem er ihn ansah, deshalb atmete er tief durch und zuckte bloß möglichst unverfänglich mit den Schultern.
»Ja, wahrscheinlich.«
»Du weißt, dass Dad dir ein Schlafmittel geben kann.«
»Nein. Ich will keine Drogen schlucken.«
Jules schnaubte. »Himmel, du tust gerade so, als würde dich ein Schlafmittel zum Junkie machen.«
»Tut es ja vielleicht auch. Das Zeug kann abhängig machen.«
»Klar«, gab Jules sarkastisch zurück. »Weil Dad das ja auch garantiert zulassen würde.«
»Ich brauche so ein Zeug trotzdem nicht. Ich komme alleine damit klar. Das bin ich schon immer. Im Unheiligen Jahr ist es jetzt halt nur ein bisschen anstrengender. Aber ich schaffe das trotzdem. Ohne irgendwelche Pillen.«
Jules rollte mit den Augen und schüttelte den Kopf. »Manchmal bist du ein echt dämlicher Dickschädel.«
Cam tat das bloß mit einem weiteren Schulterzucken ab und nahm sich die Wasserflasche zurück.
Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander, während Cam sein Wasser trank, doch schließlich rang er sich ein Lächeln ab und brach die Stille. »Du kannst ruhig wieder schlafen gehen. Mir geht es gut. Und immerhin haben wir morgen Schule. Da sollten wir wohl besser nicht die Nacht durchmachen.«
Er grinste halbherzig und Jules bedachte ihn mit einem schiefen Blick.
»Ist das ein Rausschmiss?«
»Yep. Aber ein freundlicher, nett gemeinter. Damit du morgen fit bist.«
»Du bist zu gut zu mir.« Jules rutschte zur Bettkante und stand auf. »Was ist mit dir? Sicher, dass du schon wieder schlafen kannst?«
»Ich komme –«
»– schon klar«, beendete Jules den Satz mit einem Seufzen. »Ja, ich weiß. Schlaf gut, Cam.«
Er wandte sich zum Gehen und Cam verbat sich den Gedanken daran, wie viel besser er sich fühlen würde, wenn Jules hierbleiben und bei ihm schlafen würde. Doch das waren nur Wunschträume, die zu sehr wehtaten, wenn er sie wirklich zuließ. Deshalb verscheuchte er den Gedanken daran lieber schnell wieder.
Aber selbst wenn Jules für ihn nicht mehr sein konnte, war er sein bester Freund und den wollte er auf keinen Fall verlieren. Und es fühlte sich falsch an, ihn so gehen zu lassen.
»Jules?«
Jules drehte sich an der Tür noch einmal zu ihm um. »Hm?«
»Danke, dass du mich aus Nightmareville herausgeholt hast.«
Jules schenkte ihm ein kleines Lächeln und schüttelte den Kopf. »Kein Ding. Jederzeit wieder.«
»Ich weiß.« Cam erwiderte das Lächeln. »Auch dafür danke.«
Wieder schüttelte Jules bloß den Kopf. »Ich bin da, Cam. Immer. Also wenn irgendwas ist, dann weißt du, wo du mich findest. Und jetzt schlaf gut. Ich bin schließlich nicht der Einzige, der morgen fit sein muss.«
Kapitel 14
Fast alle Lichter im Vergnügungsviertel waren erloschen. An Wochenenden blinkten, funkelten und glitzerten die Leuchtreklamen der Kinos und Restaurants, Theater und Bars im West End bis in die frühen Morgenstunden, um die Besucher aus den Straßen und kleinen Gassen von einer Lokalität in die nächste zu locken. Unter der Woche fand man um halb zwei nachts hier jedoch niemanden mehr.
Oder fast niemanden.
Ein paar Angestellte sorgten in dem ein oder anderen Laden noch für Ordnung und in den Bordellen am verruchten Ostende des Viertels gingen die Professionellen ihrer Arbeit nach. Die Besitzer der Etablissements sorgten mit Sonderangeboten dafür, dass ihre Häuser zu allen Zeiten gut besucht waren. Sex war in der Woche billiger als am Wochenende oder es wurde für gleiches Geld mehr geboten. Das nahm so mancher gerne in Anspruch.
Er nicht.
Für Sex zu bezahlen, hatte er nicht nötig.
Trotzdem stand er hier in der dunklen Gasse und beobachtete den Hinterausgang des With Pleasure. Zwei Frauen und ein junger Mann standen neben der Tür, rauchten, tranken Kaffee und machten offensichtlich eine Pause. Seit über einer Viertelstunde. Trotz der Sonderangebote war heute Nacht anscheinend nicht viel los.
Darauf hoffte er.
Aber er musste jemanden allein erwischen. Die Unruhe in seinem Inneren war nur noch schwer im Zaum zu halten. Es war ein richtig beschissener Tag gewesen und er brauchte jetzt den Kick.
Außerdem musste er in Übung bleiben. Bis zum Herbstäquinoktium war es nicht mehr lange hin.
Die Vorfreude darauf machte ihn so an, dass er wirklich hoffte, hier würde irgendjemand bald Feierabend machen. Ob Nutte oder Stricher war ihm egal.
Er wollte keinen Sex.
Er wollte töten.
Sein Messer durch weiches Fleisch ziehen.
Blut sprudeln lassen.
Zusehen, wie das Leben aus einem Körper wich.
Sex war gut, keine Frage. Aber den Moment zu erleben, in dem ein Blick brach und der Tod einsetzte – das war so viel befriedigender.
Und mit anzusehen, was danach passierte …
Was er damit erreichen würde …
Er spürte, wie es in seiner Hose plötzlich eng wurde.
Verdammt, es musste jetzt wirklich bald jemand Feierabend machen.
Er musste trainieren, brauchte das Hochgefühl.
Die Vorstellung, wie er triumphieren würde, was es bedeuten würde für –
Etwas raschelte hinter ihm in der Gasse.
Er fuhr herum und zischte einen leisen Fluch.
Eine Katze wühlte im Müll.
Blödes Mistvieh.
Doch die Katze ließ sich nicht im Geringsten von ihm stören. Streuner liebten das West End. Magnesiumlaternen sorgten dafür, dass die Besucher sich zu jeder Tageszeit ohne Angst vor Geistern oder Wiedergängern vergnügen konnten. Das mochten auch die Straßentiere. Außerdem entsorgten die Restaurants jede Nacht ihre Essenreste, wodurch hier in den Gassen so mancher Vierbeiner nobler und abwechslungsreicher speiste als seine domestizierten Artgenossen, die zwar ein sicheres Dach über dem Kopf haben mochten, von ihren Zweibeinern aber nur Dosenfraß und Trockenfutter vorgesetzt bekamen.
Er wandte sich wieder zur Straße um.
Eine der Frauen am Hintereingang trat ihre Zigarette aus und stakste auf ihren High Heels zurück ins Pleasure.
Er lehnte sich im Schatten an die Hausmauer und wartete.
Geduld war eine Tugend. Und die hatte er. Seit Jahren. Da kam es auf die ein oder andere Stunde heute Nacht nicht an.
Fünf Minuten später verschwanden auch die anderen beiden durch die Hintertür zurück ins Bordell. Gleichzeitig trat von drinnen eine neue Frau heraus. In Jeans, Canvasjacke und Sneakers. Sie verabschiedete sich von ihren Kollegen und die drei wünschten einander eine gute Nacht.
Ein erwartungsfrohes Lächeln huschte über sein Gesicht.
Bingo!
Sie lief die Straße hinunter Richtung