Goldstück-Variationen. Michael Klonovsky
kaum einem Sterblichen ist das je gelungen. Aber Sand und Sayn-Wittgenstein, das waren Exzentrikerinnen und Heroinen, deren Art zu sein auch heute vom Mainstream problematisiert würde.
Da nur Männer Zigarren oder Pfeife rauchten und sich zum Rauchen in separate Räume zurückzogen, interpretiert Hausen das Tabakrauchen als eine »bedeutungsvolle Grenzmarkierung«. Ein gewisses Maß an Geschlechtertrennung ist freilich der Normalzustand in sämtlichen Weltkulturen; einzig der Westen hat es fertiggebracht, Männer und Frauen nicht nur gleichzustellen, sondern Frauen buchstäblich jedes männliche Refugium zu öffnen. Die Holden können, wenn sie denn wollen, zur Armee gehen, boxen, Eishockey spielen, Pfeife rauchen, Physikerinnen oder, wahrscheinlicher, Politikerinnen werden und sich bei den Wiener Philharmonikern einklagen. Nichts soll mehr exklusiv männlich oder weiblich sein, auch nicht der Kreißsaal und die Fankurve. Sogar in den öffentlichen Toiletten hat man damit angefangen, die Geschlechter zusammenzuführen. Die Frage, ob das im beispielsweise ästhetischen Sinne wünschenswert ist, stellt sich nicht mehr, denn wir haben ja individuelle Wahlfreiheit. Aber alle Möglichkeiten der partiellen Männerdomäneneroberung oder Vermännlichung sind für die meisten Frauen bis heute vollkommen uninteressant. Ich kenne beispielsweise Dutzende Frauen, die von der Zigarre einen Probezug begehrten, aber keine einzige, die sie je bis zu Ende rauchen wollte.
Das wirklich Rätselhafte, ja dialektisch Tückische an dieser Entwicklung ist die Tatsache, dass der Westen durch die, nein, nehmen wir die Kausalität heraus: parallel zur Gleichstellung der Frauen wehrlos geworden ist, auch und speziell gegenüber denjenigen, für die eine Ungleichbehandlung der Geschlechter die Grundvoraussetzung eines gottgefälligen Lebens ist. Die individuelle Wahlfreiheit hat ihren Zenit erreicht; wir erleben nurmehr noch ihre späten Irrlichtereien. Noch ein paar Jahrzehnte, dann werden womöglich Verhältnisse hergestellt sein, bei denen nicht viel von dieser Art Emanzipation übrig bleibt. Der an Kopfzahl unentwegt zulegende Rest der Welt kennt sie ohnehin nicht.
22. März
Bei der Mainzer Fastnacht im vergangenen Jahr sagte ein Redner namens Hans-Peter Betz: »Die AfD ist die Bremsspur in der Unterhose Deutschlands« und fluchte, einmal in Sportpalaststimmung gekommen, über die »braunen populistischen Kanalratten«. Ein anderer drohte: »In dem Europa, was wir uns wünschen, habt ihr keinen Platz. Packt Eure Koffer, ihr Geschichtsfälscher, ihr Kleingartenfaschisten, und macht euch auf die Reise.«
Ist das nun weniger schlimm, gleich schlimm oder schlimmer als die »Kümmeltürken«, das »Gesindel« und die »Kameltreiber« aus dem Munde des André Poggenburg? Bestimmt weniger schlimm, weil korrekt adressiert. Köterrasse und so. Der Unterschied zwischen derbem Witz und Hetze darf nämlich nicht nur an Begriffen festgemacht werden, entscheidend ist, wer gegen wen spricht. Meint zumindest die öffentliche bzw. veröffentlichte Meinung, wie speziell dieser Vergleich gezeigt hat.
Natürlich ist die Wortwahl in beiden Fällen abstoßend, aber offenbar müssen bei solchen Veranstaltungen Affekte bedient werden, die unsereiner nicht kennt, geschweige versteht. Darüber hinaus sind dergleichen Flegeleien objektiv desto unangenehmer, je weniger Widerstand sie hervorzurufen vermögen, je stärker sie auf Zustimmung zählen können, je mehr Menschen ihnen applaudieren. Das eigentlich Widerliche bei Figuren wie Betz ist ihr quietschender Opportunismus. Hier kommt jene Mentalität zum Zuge, die beflissen noch ein Stück Holz zum Scheiterhaufen beisteuert und vorgibt, ein gutes Werk zu tun. Ich bin geneigt, das noch unangenehmer zu finden als die Pöbeleien des AfD-Mannes. Die Mehrheit hat nicht zwingend Unrecht, aber sie ist zwingend abstoßend.
Ein Retrospektivlein noch. Uwe Tellkamps Erklärung, 95 Prozent der Migranten seien Einwanderer in die Sozialsysteme, nur fünf Prozent wirkliche Flüchtlinge, ist hinreichend begreint, aber nicht widerlegt worden. Auch da gab es im vergangenen Jahr eine Nachricht, auf die ich bei der Fahnenkorrektur gestoßen bin (wie gut ist es doch, eine Chronik zu besitzen!): »Fewer than 3% of migrants who reached Italy after crossing the Mediterranean in 2016 were deemed refugees, UN report shows«, meldete Daily Mail online am 25. April 2017, »UN said 181,436 migrants arrived in Italy last year, mostly across Mediterannean. Only 4,808 were granted asylum in Italy and 90,334 became ›clandestini‹.«
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