Goldstück-Variationen. Michael Klonovsky
werden und den einzigen Ort auf der Welt verlieren, den man als Zuhause bezeichnen kann. Es sind Kräfte erschienen, wie sie die Welt schon seit langem nicht mehr gesehen hat. Afrika wird zehnmal so viele Jugendliche haben wie Europa. Wenn Europa nichts unternimmt, dann werden sie unsere Tür mit den Füßen eintreten.«
19. März
Der gestrigen Tagesschau durften wir entnehmen, dass es schlecht sei, wenn die Wahlbeteiligung hoch ist und die Menschen aufgefordert, ja sogar gedrängt werden, zur Wahl zu gehen – solange Wladimir Putin zu den Kandidaten gehört.
Anfrage an Radio Jerewan: »Ist es wahr, dass in Moskau eine Demonstration von Putin-Gegnern durch staatlich geförderte gewaltbereite Blockierer verhindert wurde und die Polizei zusah? Und stimmt es, dass in Chabarowsk der Bürgermeister erklärt hat, es sei ›völlig klar, dass alle im Föderationskreis zusammenstehen‹, wenn regierungskritische Demonstranten die Stadt für ihre Propaganda missbrauchten?«
Antwort: »Im Prinzip ja, nur handelt es sich bei den Städten nicht um Moskau und Chabarowsk, sondern um Berlin und Kandel, und bei den Demonstranten nicht um Gegner von Herrn Putin, sondern von Frau Merkel.«
Heiko Maas, der neue Chef des Außenpolitikdurchsetzungshauptamtes, hat einen Satz wiederholt, mit dem er schon vor ein paar Jahren mächtig angegeben hatte, nämlich: »Ich bin wegen Auschwitz in die Politik gegangen.« Darunter macht es unser Charakterhüne nämlich nicht. Ohne Auschwitz wäre er damals als Student in Saarlouis gar nicht in die SPD eingetreten, sondern hätte wenigstens einen Tag seines Lebens als Jurist gearbeitet. Ohne Auschwitz wüsste keiner, wem er äußerlich ähnelt und auch habituell. Ohne Auschwitz kein Maas, ganz klar. In einem Satz will dieses sich in charaktervoller Kleinheit verbergende moralische Schwergewicht klarstellen, dass wir auch intellektuell wieder wer sind. Eigentlich jedoch sollte inzwischen jeder Teilnehmer am deutschen Betroffenheits-Limbo wissen: Im Kontext Bundesrepublik lässt sich mit dem Begriff Auschwitz kein Satz bilden, der nicht auf eine Obszönität oder Trivialität hinausliefe. Wahrscheinlich weiß unser Nie-wieder!-Heiko das sogar selber. Doch diese Versuchung, sich mit der Indienstnahme der größtmöglichen Verfolgung eines Tages selber die Legitimation als Verfolger erschleichen zu dürfen, wer wollte ihr wehren?
Was mich betrifft, so habe ich mich genau wegen solcher Figuren in die Politik begeben, wenn auch nur assistierend. Von deutschem Boden darf nie wieder ein Maas ausgehen!
Kurze Durchsage der Bundesagentur für Arbeit: »Schutzsuchende sind überwiegend jung und männlich. (…) 60 Prozent der Asylerstanträge wurden im Zeitraum Januar bis Dezember 2017 von männlichen Schutzbewerbern gestellt. (…) Mehr als drei Fünftel haben das 25. Lebensjahr noch nicht erreicht, 84 Prozent sind jünger als 35 Jahre. In der Altersgruppe der 16-bis unter 25-Jährigen waren fast drei Viertel der Erstantragsteller männlich.«
Merke: Die heißen jetzt Schutzbewerber. Nicht zu verwechseln mit Schutzhäftling!
20. März
Der Musikethnologe Lars-Christian Koch wird Sammlungsdirektor am Berliner Humboldt-Forum. »Ein weiterer weißer Europäer an der Spitze von Deutschlands wichtigstem Kulturprojekt – das ist kein gutes Signal«, kommentiert in erfrischend rassistischer Offenheit der Süddeutsche Beobachter. Vielleicht geht jetzt ein Ruck durch die verbliebenen weißen Abonnenten des Hochqualitätsblattes?
»Anti-Merkel-Demo am Dammtor: Gegendemonstranten legen Bahnverkehr lahm«, meldet die Hamburger Morgenpost. Gaaanz am Ende des Artikels verborgen folgt diese Mitteilung: »Im Bereich der U-Bahn-Station Stephansplatz kam es zu einer gefährlichen Körperverletzung zum Nachteil eines möglicherweise ehemaligen Merkel-Gegner durch zwei bislang unbekannte Täter. Der Geschädigte wurde mit einem Rettungswagen in ein Krankenhaus eingeliefert.«
Kämen die Täter zufälliger- und ungewöhnlicherweise von der anderen Seite, läsen wir gewiss die Schlagzeile: »Nazis prügeln Antirassisten ins Krankenhaus«.
Am Rande: »Ehemaliger Merkel-Gegner«, ist das eine Prognose oder eine Recherche?
Unbedingt in die Annalen der späten Bundesrepublik gehört eine Bemerkung des nordrhein-westfälischen Innenministers Herbert Reul, CDU. Im Mutterland des Großen Austausches (den es nur gibt, wenn er gepriesen wird; sonst handelt es sich um rechte Hetze) hat ausgerechnet die SPD die Zahl der Messerattacken ermittelt, die bekanntlich bei den früher schon länger dort lebenden Germanen, von denen wir gottlob nicht abstammen, viel höher war und seitdem disruptiv, aber kontinuierlich sinkt. Messerattacken gehören jedenfalls zu Deutschland wie das Oktoberfest und der Damenbart.
Liebe Kinder, jetzt alle zusammen: Messerattacken gehören zu Deutschland!
Das Ergebnis: Von September 2017 bis März 2018 haben in Nordrhein-Westfalen sogenannte Täter 572mal auf andere eingestochen, die nur durch Zufall nicht von der Gesellschaft zu Tätern gemacht wurden. Im Schnitt sind das gerade mal etwas mehr als drei Messerangriffe pro Tag; die Wahrscheinlichkeit, im Haushalt verletzt zu werden, ist ungleich höher, sogar wenn man nicht verheiratet ist. Minister Reul, Vater dreier Töchter und gelernter Soziologe oder umgekehrt, ließ sich denn auch nicht ins Bockshorn jagen und erläuterte im ZDF: »Polizisten schützen wir dadurch, dass wir sie mit Schutzwesten ausstatten, und Bürgerinnen und Bürger werden einfach sensibler sein müssen. Man muss nicht unbedingt Menschen nah an sich ranlassen.« Wer nicht genau weiß, wie er (oder sie) das bewerkstelligen soll, einfach den ersten Kampf von Ali gegen Sonny Liston anschauen, Ali konnte das vorbildlich!
Gerüchte, denen zufolge die gesamte Bevölkerung mit Schutzwesten ausgestattet werden soll, gehen vermutlich auf russische Hacker zurück.
21. März
»Was weiß die Zigarre über Männer und Frauen?« Mit dieser Frage, die sich explizit nicht auf jene Zigarre bezieht, deren Genuss sich Monica Lewinsky und Bill Clinton im Oral Office geteilt haben sollen, eröffnet der Tagesspiegel einen Tusch zum 80. Wiegenfest der Historikerin Karin Hausen. Die Dame wird als eine Pionierin der Frauen- und Geschlechterforschung gewürdigt (ein historisches Gebiet, das bestimmt genau so spannend ist wie die Geschichte der Arbeiterbewegung). Frau Hausen ist Feministin, aber Gendersternchen, Unterstriche und auch den Terminus »Gender« mag sie nicht recht: »Ich bevorzuge das deutsche Wort Geschlecht. Es ist so hinreißend vieldeutig, Menschengeschlecht, Adelsgeschlecht, Geschlechtskrankheiten …« (Wobei: Genderkrankheiten …?) Vielleicht ist sie Wissenschaftlerin genug, um den Unterschied zwischen Begriffen, mit denen sich sinnvoll arbeiten lässt, und ideologischen Konstrukten zu erfassen, vielleicht ist sie auch nur zu früh geboren, um schon richtig brainwashed zu sein, vielleicht beides zusammen.
Aber was hat es mit der Zigarre auf sich? Am Beispiel der Tabakwickel lasse sich zeigen, referiert der Tagesspiegel eine These der Historikerin, »wie im 19. Jahrhundert die Handlungsund Spielräume von Männern und Frauen neu definiert wurden. Männer rauchten Zigarren, Frauen nicht, und wenn eine Frau es doch tat, wie etwa die Französin George Sand, so wurde das als ein demonstratives Überschreiten der Geschlechterordnung von vielen – Männern wie Frauen – abgelehnt.« Eine weit eindrucksvollere und exzessivere Zigarrenraucherin als die Chopin-Dulcinea war übrigens die letzte Favoritin von Liszt, die aus Polen stammende Fürstin Caroline Sayn-Wittgenstein, Ehefrau des Prinzen Nikolaus zu Sayn-Wittgenstein, der als Sohn eines in russischen Diensten stehenden Generalfeldmarschalls zu den wahrlich Begüterten gehörte. Sie war Liszt in Kiew begegnet und hatte ihren Gatten und ihre 30 000 Leibeigenen verlassen, um fortan nur ihm zu huldigen. Zuvor hatte sie sich durch einen