Schweizer Sagen und Heldengeschichten. Meinrad Lienert
schrill auf und rief: „Fischer, ich gebe dir hundert Gulden, wenn du die Fahrt ein zweites Mal wagst!“ Und gleich rief der junge Fischer in frevelhaftem Übermut: „Gut, es gilt, ich tu’s zum zweitenmal!“ Zu einem alten Manne aber, der ihn warnte und ihm zuredete, er solle Gott danken, dass er das erste Mal so gnädig davongekommen sei, sagte er lachend: „Ich wag’s dennoch. Was mir im Schlafe gelang, muss mir im wachen Zustande, wenn ich doch das Steuer lenken kann, erst recht gelingen.“
Jetzt fuhr er auf, und alle Leute, die in der Wirtschaft waren, voraus der unheimliche Fremdling, verliessen das Haus und folgten dem Fischer ans Rheinufer. Bevor ihn jemand zurückzuhalten vermochte, sprang er in seinen schwanken Kahn und stiess in toller Vermessenheit vom Bord ab, dem nahen Rheinfall zu, den man gar wohl donnern hörte. Mit lähmendem Entsetzen schaute ihm alles nach, nur der Fremde grinste seltsam.
Erst ruderte er, um das Schiffchen noch rascher vorwärts zu treiben. Aber auf einmal sprang er ans Steuer, denn unversehens begann sein Kahn zu tanzen und schneller dahinzutreiben. Es dauerte keine Vaterunserlänge, da fing er an zu hüpfen und zu eilen, als gälte es einen Hasen einzuholen. Immer näher kam er dem schrecklichen Fall. Das Steuer wollte dem kräftigen Fischer kaum noch gehorchen, und auf einmal fing der Kahn davonzuschiessen an wie rasend, und fürchterlich glucksten die Wirbel und Wellen um ihn herum.
Wie nun der junge Fischer plötzlich nichts mehr um sich sah als ein reissendes Wildwasser, packte ihn auf einmal eine entsetzliche Todesangst. Es war ihm, der Rhein habe sich in ein wildes Pferd verwandelt, das ihn mit Pfeilschnelle der tiefsten Hölle zutrage. Er versuchte mit der Kraft der Verzweiflung das springende Schifflein zu wenden, doch das Steuer gehorchte ihm nicht mehr. Er jagte an die Ruder, aber die rasende Flut schleuderte sie weg, und jetzt sah er vor sich den Rheinfelsen mitten aus dem Strom auftauchen. Ein jämmerlicher Aufschrei gellte ins Donnern der Wasser, und dann glitt der Kahn, schneller als ein gefällter Baum durchs Holzgeleit von der Bergwand, in die flatternden Wirbel des Wasserfalles hinein.
Wohl eilten jetzt die schreckensbleich zuschauenden Fischer hinunter an den Strom, wo der Rheinfall verkocht und ausschäumt. Sie schauten und schauten und harrten, aber weder Fischer noch Kahn tauchte jemals wieder aus der brausenden Flut. Und als sie sich nun zornig nach dem Fremden umsahen, der den trunkenen Fischerjungen zu der schrecklichen Todesfahrt aufgestachelt hatte, fanden sie ihn nicht mehr. Wie sie auch später das Land nach ihm absuchten, niemand ausser ihnen wollte ihn jemals gesehen haben. Da bekreuzten sie sich und dachten sich ihre Sache.
Seither sieht man in mondhellen Nächten oft ein nebelhaftes Schifflein mit einem Fährmann zwischen dem Doppelriff des Rheinfalls hinabgleiten und in den milchweissen, überschäumenden Wasserstürzen verschwinden.
Der Stiefelreiter.
In stürmischen Lenznächten rauscht die wilde Reuss ungestümer durch das Freie Amt im Aargau, denn da wälzt der Fluss die Schneewasser des Vierwaldstättersees der Aare zu. In solchen Vorfrühlingsnächten gehen die Bewohner der Gegenden um das Kloster Muri nicht gern aus. Da reitet der gespenstige Stiefelreiter auf schneeweissem Schimmel mit verkehrtem Kopf durch Berg und Tal, und oft hört man ihn an zwei Orten zugleich vorübersausen.
Einst, vor vielen, vielen Jahren, hatte das reiche Kloster Muri einen gar schlimmen Vogt zu seinem Hüter bestellt. Dem Abte schien’s der tüchtigste Mann von der Welt zu sein, denn er mehrte des Klosters Besitzstand und seine Wohlhabenheit von Jahr zu Jahr. Aber der gute Abt war mit Blindheit geschlagen, denn er wusste nicht, was für ein ganz anderes Gesicht der Vogt den Leuten ums Kloster zeigte. Da war er in allem der bösartigste Mensch, den man sich denken kann. Keine Bitten und keine Klagen vermochten sein hartes Herz zu erweichen, und der Tränen der Witwen und Waisen lachte er. Er trug gewaltige Stülpstiefel, die ihm bis weit über die Kniee reichten. Wenn nun die Leute den bösen Klostervogt in diesen hohen Stiefeln auf seinem weissen Schimmel, daherreiten sahen, versteckten sie sich ängstlich hinter den Häusern und Scheunen; die Kinder aber schrieen entsetzt: „Der Stiefelreiter kommt, der Stiefelreiter kommt!“ und liefen davon. Sie fürchteten sich besonders vor seinem unmenschlich grossen Kopf, seinen fürchterlichen Augen und seinem gewaltigen roten Barte.
So quälte er die Leute auf alle Art. Zu der zehnten Garbe, die seinem Kloster von rechtswegen zukam, nahm er immer gewaltsam auch eine elfte und zwölfte. Ja selbst das Heu stahl er nachts den Bauern von ihren Matten, liess ihre Holzscheiter wegtragen und schüttelte mit seinen Knechten ihr Obst von den Bäumen. Kurzum, er schädigte sie auf jede Weise. Wehe aber jenen, die ihm verschuldet waren und nicht sogleich zahlen konnten! Er stiess sie im harten Winter aus ihrem Heim und riss selbst den Kranken das Bettlaken unterm Leibe weg. Hielten ihm die Armen das Kreuz entgegen, so spuckte er danach.
Nahe bei Schongau, im Nachbarland Luzern, wohnte eine fromme Frau. Die hatte auf ihr Ableben hin dem Kloster Muri ihr Gut vermacht. Das gefiel dem Stiefelreiter. Er ritt zu der alten Frau, um ihr Besitztum zu besehen. Aber dann sagte er zu ihr, als sie eben ihre Suppe ass, sie müsse auch noch das kleine Gut, das den Besitz des grossen unterbreche, durch einen Zusatz im Testament dem Kloster vermachen. Da wurde die Frau böse und schickte den Stiefelreiter zum Hause hinaus, denn jenes kleine Gütchen gehörte ihrer Bruderstochter, die in einer ärmlichen Strohhütte darauf wohnte. Gerade ihretwegen hatte die fromme Frau ihr grosses Gut dem Kloster vermacht, damit die arme Brudertochter nach ihrem Ableben das angesehene Kloster Muri zum alleinigen Schirmnachbarn habe.
Doch der Stiefelreiter gab das Gütchen der Armen nicht auf. Er wollte zum grossen Gut durchaus auch das kleine haben. Er stahl das Testament der frommen Frau, und mit verstellter Schrift setzte er in jene Schenkungsurkunde noch die Worte hinein: samt dem Hüttlein und dem Gute, das bis dahin meines Bruders Tochter innegehabt.
Als nun die fromme Frau gestorben war, ritt der Stiefelreiter auf seinem Schimmel zum Gericht und zeigte das Testament der Seligen vor. Voll Schrecken lief auch die arme Bruderstochter der Verstorbenen hin und verwahrte sich unter Wehklagen gegen das lügnerische Testament. Aber der Stiefelreiter anerbot sich, auf die Schenkungsurkunde den Eid abzulegen. Sie gingen beide mit dem Richter auf das strittige Grundstück. Und nun schwor der Stiefelreiter, so wahr sein Schöpfer und Richter über ihm sei, so wahr stehe er auf Klosters Grund und Boden.
Kaum hatte er den Schwur getan, stiess er einen schrecklichen Schrei aus und fiel tot zusammen. Als man ihm schnell die Kleider auftat, sah man mit Entsetzen, dass er einen falschen Schwur getan habe. In seinen dickroten Haaren fand man nämlich Schöpfer und Richter (Löffel und Kamm) verborgen, und seine grossen Stulpstiefel waren in den Füssen mit Erde aus dem Klostergarten angefüllt. So hatte ihn Gott auf der Stelle gerichtet.
Heute noch, wenn die Kinder in jenen Gegenden an der Reuss unartig sind und der Grossmutter nicht gehorchen wollen, öffnet sie wohl das Fenster und ruft in die Dunkelheit hinaus: „Stiefelreiter, komm und hol mein böses Maiteli!“ Worauf sich die Kleinen rasch ins Ofenloch verkriechen und folgsamer werden als ein weisses Lamm am Schnürchen.
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