Schweizer Sagen und Heldengeschichten. Meinrad Lienert

Schweizer Sagen und Heldengeschichten - Meinrad Lienert


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Knaben Walter. Auf der Schulter trug er seine schwere Armbrust. Das war Wilhelm Tell, der beste Gemsjäger im Lande Uri. Er wollte zu Besuch gehen bei seinem Schwiegervater Walter Fürst in Altorf.

      Als er nun mit seinem Söhnchen vom Zeitglockenturm her über den Hauptplatz lief, machte ihn sein Knabe auf eine lange Stange aufmerksam, die mitten auf dem Platze stand, und die zwei Waffenknechte des Landvogtes Gessler bewachten. Auf der Stange aber hing ein Hut mit einer Pfauenfeder. Viele alte Weiber und Kinder, aber oft auch ein Mann, gingen am Hute vorbei und knicksten höhnisch oder neigten ihr Haupt, rauchend vor Scham.

      Doch der Tell schien das alles nicht zu bemerken und wollte aufrechten Hauptes und festen Ganges mit seinem Büblein am Hut auf der Stange vorbeischreiten.

      Da sprangen die beiden Wächter vor, streckten ihre Lanzen aus und liessen den Schützen nicht weiter. Und als er in ihre vorgehaltenen Spiesse griff und unwillig fragte, warum sie ihn nicht seines Weges gehen liessen, antworteten sie, er habe dem Hut nicht die schuldige Reverenz erwiesen und müsse nun mit ihnen zum Landvogt kommen, um als ein Verräter an der kaiserlichen Majestät seine Strafe zu gewärtigen. Der Hut sei vom Landvogt an die Stange gehängt worden, um den Sinn und Geist des Volkes zu prüfen, und er hätte sich vor ihm verneigen sollen wie vor dem Kaiser selbst.

      Aber der Tell drückte ihre Spiesse zur Seite und sagte, er beuge sich vor niemand als vor Gott und lasse sich von ihren zwei Eisenstangen nicht aufhalten. Die Knechte rangen mit ihm, und sein Knabe rief um Hilfe, also dass die Leute von Altorf von allen Seiten herbeieilten, unter ihnen auch Walter Fürst, der Grossvater des kleinen Walter.

      Eben wollte Tell den zwei Waffenknechten die Spiesse entreissen, da liess sich ein Pferdegetrappel vernehmen, das rasch die Dorfgasse heraufkam. Und auf einmal ritt Gessler, der Landvogt, heran mit seinem bewaffneten Tross und Gefolge. Als er nun bei dem aufgesteckten Hute stand, fragte er die Knechte, was sie mit diesem Manne hätten. Da schrie einer der Wächter: „Herr, er hat vor dem Hute das Haupt nicht geneigt!“

      Jetzt blickte der Landvogt Gessler mit unheilverkündenden finstern Augen auf den Schützen Tell. Er kannte ihn gar wohl und hasste ihn, weil er nicht lange vorher einem Unterwaldner Bauer, der den frevelhaften Untervogt der Burg Rotzberg erschlagen hatte, über den sturmgepeitschten See half und ihn so vor seinen Verfolgern errettete.

      „Warum hast du dem Hut nicht Respekt bezeigt?“ fragte er jetzt barsch den Schützen. Nun versuchte sich Wilhelm Tell zu entschuldigen und sagte: „Vergebt mir, Herr! Es geschah aus Unverstand, denn wäre ich klug, so hiesse ich nicht der Tell.“

      Doch der Landvogt hatte Böses vor. Er dürstete danach, diesen aufrechten Mann, den er heimlich auch fürchtete, zu verderben. Und also fragte er ihn: „Tell, hast du Kinder?“ — „Ja, zwei, Herr,“, antwortete der Schütze. — „Welches ist dir das liebste?“ fragte Gessler weiter. „Es sind mir beide gleich lieb, Herr,“ sagte Tell, der Unheil zu merken begann. Da erblickte der Landvogt neben dem Schützen den kleinen Walter. Und jetzt sagte er, voll Bosheit lächelnd: „Tell, ich weiss, dass du ein berühmter Schütze bist. Du triffst ja die Gemse im Sprung, den Vogel im Flug. Wohlan, ich will dir nun ein Ziel geben, wo du deine ganze Schützenkunst zeigen kannst. Habe acht, dass du’s nicht verfehlst. Du sollst einen Apfel vom Haupte deines Kindes schiessen. Verfehl ihn ja nicht, sonst ist dein Leben verwirkt.“

      Da schrie alles Volk auf. Die Frauen rangen jammernd die Hände und die Männer ergrimmten. Auch der Schütze Tell erbleichte und sagte: „Herr, es kann nicht Euer Ernst sein, solch Unmenschliches von mir zu verlangen. Wie sollte ich von meines Kindes Haupt einen Apfel schiessen können? Erlasst mir den Schuss, Herr, lieber will ich gleich sterben.“ Und er riss sein Wams auf und bot die Brust den Waffenknechten hin, dass sie ihn erstechen möchten.

      Doch der harte Landvogt Gessler sprach: „Entweder tust du den Schuss, oder du und dein Kind, ihr beide müsst zusammen sterben.“

      Als sich Wilhelm Tell nun nach seinem Büblein umschaute, sah er, dass es die rohen Waffenknechte schon an einen Baum gebunden hatten. Auf seinem flachshaarigen Scheitel aber lag ein Apfel. „Schiess nur, Vater,“ rief der kleine Walter, „ich fürchte mich nicht!“

      Da sank der bäumige Gemsjäger in die Kniee vor Jammer und blickte mit stummem Entsetzen zum Landvogt auf. Doch der schaute ihn mit bösen, schadenfreudigen Augen an. Jetzt packte Tell die Armbrust, nahm zwei Pfeile heraus und steckte einen in den Göller. Aber Walter Fürst, der Grossvater des kleinen Walter, trat jetzt zum Landvogt und beschwor ihn bei seinem Seelenheil, von seinem schrecklichen Verlangen abzustehen Er kniete sogar vor ihm nieder und hob flehend die Hände zu dem Tyrannen auf, der ihn aber kalt und höhnisch ansah.

      Auf einmal schrie eine Weiberstimme aus dem Volk: „Der Apfel ist gefallen, der Apfel ist gefallen!“ Und hundertstimmig jubelte es das Volk nach: „Der Apfel ist gefallen!“

      Während der Landvogt auf den alten Landammann Walter Fürst hörte, hatte Wilhelm Tell rasch die schwere Armbrust gespannt, den Pfeil darauf gelegt, gezielt und geschossen. Da flog der Pfeil, und der Apfel war gefallen.

      Aufjauchzend stürmte der kleine Walter auf seinen Vater zu, der noch fassungslos und wie im Traum am Boden kniete und die Armbrust krampfhaft in Händen hielt. Ein Knecht aber hatte den Apfel aufgehoben und zeigte ihn nun dem Landvogt Gessler. „Wahrhaftig,” sagte der, „der Apfel ist mitten durchgeschossen; es war ein Meisterschuss, ich muss ihn loben.“

      Aber als der Tell, der langaufatmend und bebend vor Freude sein Kind ans Herz geschlossen hatte, sich erhob und mit dem jubelnden Volk abziehen wollte, fragte ihn plötzlich der Landvogt: „Höre, Tell, sag’ an, warum stecktest du den zweiten Pfeil in den Göller, bevor du den Schuss tatest?“ — „Herr, es ist so des Schützen Brauch,“ sagte dieser, der den Vogt und sein böses Herz durchschaute. Aber der Landvogt runzelte die Stirne und sagte: „Tell, bekenne nur die Wahrheit ohne Furcht, du sollst deines Lebens sicher sein. Warum stecktest du den zweiten Pfeil in den Göller?“

      Jetzt stellte sich der Tell bolzengerade vor den Landvogt hin, sah ihn furchtbar an und rief, ihm den Pfeil entgegenstreckend: „Wohlan, Herr, da Ihr mir mein Leben zugesichert habt, will ich Euch die Wahrheit sagen: Hätte ich mit dem ersten Pfeil meines lieben Kindes Haupt getroffen, mit dem zweiten hätte ich Euer wahrlich nicht gefehlt!“

      Der Landvogt erschrak innerlich sehr, denn nun erkannte er, wie ihn der Tell hasste, den er so schrecklich gequält hatte. Aber er liess sich nichts merken und sagte kalt: „Das Leben habe ich dir zugesichert, Tell, ich will es redlich halten. Aber da ich deinen bösen Willen gegen mich erkannt habe, will ich dich dahin führen lassen, wo weder Sonne noch Mond dich mehr bescheinen, auf dass ich vor dir Ruhe habe. Ergreift ihn!“

      Sogleich packten die Waffenknechte den Schützen Tell und banden ihm, unter den Verwünschungen und unter dem Aufjammern des umstehenden Volkes, die Hände auf den Rücken. Dann rissen sie ihn von seinem Büblein los und schleppten ihn ins Herrenschiff nach Flüelen, um ihn über den Waldstättersee ins finstere Burgverliess nach Küssnacht zu bringen. Gessler selbst bestieg mit seinem Gefolge den Herrennauen.

      Bald stiess des Landvogts Schiff ab, und noch lange schaute das entrüstete Volk nach seinem roten Dache. Im Nauen aber lag der Schütze Tell inmitten der Waffenknechte, und umsonst schaute er mit sehnsüchtigen Augen, wie die heimatlichen Gestade allmählich verschwanden, und umsonst blickte er sich nach der vorn im Schiff liegenden Armbrust um. Niemals mehr sollte er das Licht der Firnen sehen, niemals mehr das Schwirren seines sichern Pfeiles im Bergwalde hören.

      Als sie aber ein gutes Stück über den See gefahren, sah man auf einmal das ewig lebendige Schneestaubwölkchen, das am Firnenhaupt der Grossen Windgälle hängt, stärker aufstieben. Auch kam ein unheimliches Summen und Knurren, wie das Murren des Volkes an der Maienlandsgemeinde, von den Firsten und Graten der Berge. Der Himmel ward tiefblau, als wollte er sich auftun, und die Bergwälder schienen nahe, als könnte man sie mit den Händen greifen. Und jetzt kräuselte sich der See; ein paar heftige Windstösse pfiffen um die Bergwände, und plötzlich tobte der Alpenwind, der wilde Föhn, von den Bergen herab und fuhr schnaubend, jauchzend und pfeifend daher, den See also aufpeitschend und aufjagend, dass die gehetzten Wellen wie wilde, wutschäumende Tiere auf das Herrenschiff lossprangen.


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