Schweizer Sagen und Heldengeschichten. Meinrad Lienert
und im Guckauskämmerchen im sichern Laubbett liegen kann. Denn oft geht es draussen vor den Häusern und Stadeln fürchterlich zu mit Donnern, Dröhnen und Krachen, und es braust, heult, schellt und hornt durchs ganze Land. Wer’s aber hört, bekreuzt sich und macht sich unter die Decke, da er wohl weiss, dass das Friesenvolk über Weg ist.
Nämlich in alten Zeiten war vom Meer her ein Friesenvolk, das Hungersnot und Überschwemmungen aus der Heimat vertrieben hatten, in die schönen Täler des Saanenlandes eingezogen. Und da ihm diese grüne Bergwelt gar wohl gefiel, machte es sich darin heimisch. Die grünen Weiden wurden bebaut und die wilden Tiere in die Bergwälder zurückgetrieben.
Aber ihre alte Heimat konnten die Friesen doch nie vergessen bis auf den heutigen Tag. Darum steigt dies tote Volk oft in gewissen Nächten, besonders um die Winter-Sonnenwende, aus seinen Gräbern, schart sich zusammen und kehrt genau auf dem gleichen Wege, auf dem es einst ins Bernerland gezogen war, heim zu den fernen Ufern der grauen Nordsee. Und in der gleichen Nacht kehrt es auch wieder zurück, sobald es das Rauschen und Branden des Meeres vernommen hat, zurück in seine Grabhügel im bernischen Saanenlande.
Wehe aber jenen, die dem toten Friesenvolk seinen gewohnten Weg, von dem es keinen Finger breit abweicht, verlegen wollten! Häuser und Mauern zerfetzen die erzürnten Geister dann wie Garnknäuel und wischen alles aus ihrem Weg, als führen Lawinen vor ihnen her.
Vor vielen, vielen Jahren wurde einstmals dennoch auf einer Alp ein Viehstall aus Unbedachtsamkeit mitten auf den Friesenweg gebaut. Glücklicherweise waren aber durch Zufall seine beiden Türen gerade da angebracht worden, wo der Friesenweg ein- und ausmündete, also dass der unheimliche Geisterweg mitten durch den Stall gehen konnte. Daher liess der Senn vorsichtig alleweil, sobald das Vieh nach dem Melken wieder in die Nacht hinausgelassen worden war, die Türen sperrangelweit offen. So oft dann der Friesenzug durch den Stall brauste, wurde er doch nie verheert, noch geschah einem der mit Grausen auf dem Heulager liegenden Älpler etwas.
Eines Tages gedachte der Senn seine Lieben im Tale wieder einmal aufzusuchen, da er sie fast den ganzen Sommer über nicht mehr gesehen hatte. Er nahm also die Traggabel auf den Rücken und legte einen Buttersack darauf. Bevor er aber ging, rief er den Meisterknecht beiseite und empfahl ihm dringend, er möchte doch ja nie unterlassen, die Türen des Stalles während der Nacht sperroffen zu lassen, damit das tote Friesenvolk seinen Weg ungehindert durch den Stall nehmen könne, wenn es etwa umgehen sollte.
Als aber der Senn davongegangen und zu Tal gestiegen war, teilte der Meisterknecht den andern Knechten die Warnung des Sennen mit, und da hatten sie zusammen ein grosses Gelächter und verspotteten die Einfalt ihres Herrn. Sie trieben es so weit, dass sie übereinkamen, den Friesenweg zu versperren und daher die beiden Stalltüren zu schliessen. Gedacht, getan. Sie verriegelten beide Türen fest und legten sich danach lachend auf ihr Wildiheulager.
Draussen aber begann es zu winden, erst nur schwach und dann immer stärker, doch sie beachteten es nicht und schliefen ein.
Sie mochten noch nicht lange geschlafen haben, als sie auf einmal ein seltsames Murren wie fernes Donnern aufweckte. Erst glaubten sie an ein heraufziehendes Gewitter, aber durch die Spalten des Gadens schimmerten die Sterne. Und jetzt ward das Murren und Knurren stärker und ward daraus ein unheimliches Rauschen und Rollen. Und nun war es ihnen, sie vernehmen das Getute mächtiger Hörner, Pferdegewieher und Hundegebell und dröhnendes Waffenklirren.
Erschrocken richteten sie sich auf und lauschten. Deutlich hörten sie’s nun dahertraben und etwas wie ein unablässiges Peitschenknallen war ums Dach. Und jetzt fuhr’s an die Türe wie ein furchtbarer. Donnerschlag, von dem der Stall erbebte, und eine Stimme erscholl in der Nacht draussen: „Tüet uf die Tür, wan d’s Friesenvolch wott grad derdür!“ 1
Zu Tode erschrocken kauerten die Knechte auf ihren Heulagern. Aber keiner wagte es, den versperrten Weg freizumachen und die Türe zu öffnen.
Da gab es einen fürchterlichen Krach. Das ganze Stalldach samt den zentnerschweren Dachsteinen wurde emporgehoben, also dass die entsetzten Knechte eine Weile den Sternenhimmel über sich sahen. Doch legte sich das schwere Dach langsam wieder auf den Stall zurück.
Jetzt merkte der Meisterknecht mit Schrecken, dass es ihnen allen bös ergehen möchte, wenn die Türe nicht aufgetan würde. Und da er wohl wusste, dass sein Übermut und sein Ungehorsam die Hauptschuld an dem wilden Toben des Totenvolkes hatten, rief er hinunter in den düstern Stall: „In Gottesnamen tu’ ich auf!“ Zitternd machte er sich vom Wildiheu in den Stall hinab und tat dort die beiden Türen auf, soweit er nur konnte. Dann stellte er sich bebend, halbtot vor Angst, neben den Türeingang.
Kaum war der Durchgang offen, so gingen seltsame Männergestalten an ihm vorüber, die ihn alle um Haupteslänge überragten, und wünschten ihm freundlich guten Abend. Dann aber rauschte schnell wie ein Sturmwind ein ganzes Heervolk an ihm vorbei. Die Krieger waren in flatternde Stierfelle gekleidet, deren Hörner über die flachsfarbenen Locken der Männer drohend hinwegschauten. Auf der Schulter trugen sie lange Speere oder gewaltige Streitäxte, und an ihren Gürteln hingen breite Schwerter. An dem einen Arm aber hatten sie einen riesigen Schild. Kaum waren sie vorbei, so erschienen Reiter, die ihre wildschnaubenden Rosse kaum zu bändigen vermochten. In den geflügelten Helmen der Reiter spiegelten sich die Sterne. Wie der Sturmwind rasten sie durch den Stall. Ihnen folgte noch einmal Fussvolk, und nun rollten donnernd und mit Windesschnelle gewaltige Karren daher, in denen Weiber und Kinder mit goldblonden Haaren sassen. Flinke Jungen und zottige Hunde jagten neben ihnen her. Dann kamen wieder Krieger, und lange, lange ging es so fort und wollte kein Ende nehmen.
Mit Entsetzen und zitternd starrte der Meisterknecht auf den unendlichen Friesenzug. Das Lachen war ihm und den oben schreckensbleich lauschenden Knechten schon lange vergangen. Er konnte sich nicht von der Stelle bewegen. Und als endlich der ungeheuere Zug ein Ende nahm, glühten auch die windumbrausten Zinnen der Schneeberge auf, und es ward Tag.
Da schlich sich der Meisterknecht fröstelnd und schlotternd durch den Stall, stieg wieder aufs Heulager hinauf, wo die Knechte seiner voll Angst harrten. Dort legte er sich hin und erzählte mit tiefer Stimme, was er gesehen. Danach redete er kein Wort mehr. Am Abend war er eine Leiche.
Kaiser Karl der Grosse und die Schlange.
Der hochberühmte Kaiser Karl, der Mehrer des Deutschen Reichs und der gewaltige Feind des Heidentums, kam auch oft über den Rhein in die schweizerischen Vorlande, besonders nach dem weitbekannten Kloster St. Gallen geritten. Oft hatte er da mit den Klosterschülern seine Kurzweil.
Im Kloster lebte damals ein Mönch namens Tanko, der sehr geschickt war. Er soll der erste Glockengiesser des Deutschen Reiches gewesen sein. Ihn beauftragte nun der Kaiser Karl, er möchte für das Kloster eine Glocke giessen. Als nun der geschickte Meister die Glocke fertig hatte, liess er sie unter dem Dach neben der Kirche aufhängen. Da kam bald danach der Kaiser wieder in den Thurgau. Und als er nun eines Tages in die hochgelegene, schöne Stadt St. Gallen einritt, begrüsste ihn von der Klosterkirche her das Läuten der ersten Glocke.
Da freute sich der Kaiser sehr, denn die Glocke klang wie eine Orgel. In seiner Freude schenkte er dem Meister Tanko einen ganzen Zentner Silber, damit er eine Glocke von noch feinerem Klang giesse.
Aber obwohl nun der Mönch gar geschickt war, so war er doch nicht so gottesfürchtig wie seine Mitbrüder. Er behielt das Silber für sich und nahm nur Zinn und Kupfer für den Glockenguss. Als er nun die neue Glocke im Kloster neben der Kirche aufhängen liess, fiel der schwere Klöppel herab und erschlug den frevelhaften Meister auf der Stelle. —
Nun will ich aber ein Stücklein von der Gerechtigkeitsliebe Kaiser Karls erzählen.
Nämlich Kaiser Karl kam auch auf seinen Umzügen durch sein weites Reich in den Zürichgau und nach Zürich. Da hielt er in dem Haus zum Loch neben dem Grossmünster, von dem heute noch sein Steinbild auf die Stadt herabschaut, Hof und sprach Recht. Denn er hatte auf der Stelle, wo die Märtyrer Felix und Regula hingerichtet worden waren, eine Säule aufrichten lassen. An dieser hing ein Glöcklein, das jedermann ziehen durfte, der sich zu beklagen hatte, wenn der Kaiser bei Tische sass.
Eines Tages nun, als Kaiser Karl wieder frohgemut im Hause