Schweizer Sagen und Heldengeschichten. Meinrad Lienert
der einst als junger Mann die Römer zurückgeschlagen hatte.
Aber die Römer hatten den Anzug der Helvetier schon vernommen. In Eilmärschen rückte ihnen ihr berühmtester Feldherr, Julius Cäsar, entgegen und schlug sie in einer furchtbaren Schlacht bei Bibracte, nicht mit überlegener Tapferkeit, aber mit besseren Waffen und grösserer Kriegskunst. Über hunderttausend Helvetier bedeckten das Schlachtfeld. Die Überlebenden zwang der römische Feldherr, wieder in ihr eben verlassenes Land zurückzukehren, wo sie ihre Städte und Dörfer wieder aufbauen mussten. Aber Kraft und Mut des helvetischen Volkes war für immer gebrochen.
Bald rückten römische Besatzungen und Heere ins Land, die auch die tapfern Walliser und die wilden Rhätier im heutigen Graubündnerland unterwarfen. Diese gingen nach und nach in ihnen auf und nahmen sogar ihre Sprache an, die die Rhätier der wundervollen Bergtäler des Engadin heute noch sprechen. Grosse Städte entstanden, wovon Vindonissa im Aargau und Aventicum im Waadtland die grössten waren. Durch das ganze Land hinauf vom Lemansee bis zum Bodensee und bis ins Hochgebirge des Oberrheins gingen die römischen Türme.
Wenn nun die wilden deutschen Stämme jenseits des Rheins, die Alamannen und Sueben, ins Land der Helvetier einzubrechen drohten, flammte auf dem nächsten römischen Wachtturm am Rhein ein Feuer auf und dann auf dem etwas weiter abliegenden und dann auf dem noch weiter entfernten. Und so gingen nach und nach die Alarmfeuer von einem Wachtturm zum andern himmelan bis zu den Hauptlagern der römischen Soldaten, aus denen diese, sobald sie die Gefahr erkannten, mit Macht auszogen und zum bedrohten Rhein eilten, um die deutschen Völker von dem Fluss, der überall feste Grenzhäge hatte, abzuhalten.
Mehr als zweihundert Jahre beherrschten also die Römer das Land Helvetien, bis eines Tages die Alamannen und Sueben, wie ein langgestauter Bergstrom, über den Rhein hereinbrachen, alles vor sich niederwarfen und das schöne Land in Besitz nahmen. Die römischen und helvetischen Männer schlugen sie fast alle tot, aber ihre Frauen und Kinder liessen sie leben, und heute noch kann man manch einem träumerischen, hellen Kinderäuglein ansehen, dass sein Urahne einstmals zu jenem seltsamen verschollenen Volke gehörte, das einst aus Helvetien auszog, den sonnigen Süden zu erobern.
Die Herkunft der Schwyzer.
Vor alter Zeit begab sich im Lande der Schweden im kalten Norden eine grosse Teuerung und erwuchs daraus eine greuliche Hungersnot, so dass die Leute gar übel daran waren. Sie wussten sich nicht mehr anders zu helfen, als dass sie einen kleinen Teil des Volkes durch den Beschluss der Landsgemeinde zwangen, das Heimatland zu verlassen.
So zogen ihrer an die Fünftausend mit Weib und Kind aus dem mitternächtigen Lande und gelobten sich im Namen Gottes, dass sie sich nie verlassen wollten im Leben und Sterben. Sie gedachten durch alle Länder bis nach Rom zu ziehen, denn sie hatten vernommen, dass dort die Sonne beständig am Himmel stehe, und dass es statt der eisigen Schneekörner den Leuten süsse Früchte auf die Kappen schneie. Ihre Anführer aber waren zwei Brüder, die Swyt und Schej hiessen.
Also zogen sie durch ganz Deutschland und raubten und nahmen alles mit sich, was sie bekommen konnten. Zwar stellten sich ihnen viele Fürsten mit ihren Kriegsleuten entgegen, allein das wandernde Volk hielt sich männlich und schlug so unbändig drein, dass ihm überall der Weg freigegeben werden musste. Bei diesen Kämpfen verloren aber auch die Stämme Swyts und Schejs gar viel Volk. So kam es, dass sie überall, wo sie hinkamen, offene Pfade fanden, denn die Menschen in den Ländern, die sie durchzogen, hatten allenthalben von ihrer wilden Tapferkeit gehört und blieben vorsorglich in ihren wohlbefestigten Städten und Burgen. Diese aber liess das Wandervolk in Ruhe. Sie wollten nur ihren Weg nach Rom offen haben.
Sie kamen durch viel hundert deutsche Gaue bis an den grossen Vodensee, wo vor ihnen auf einmal die hohen Alpen und Schneeberge aufstiegen, die ihnen wie eine ungeheure Mauer den Weg zu versperren schienen.
Doch sie liessen sich nicht aufhalten, umgingen den See, wateten und schwammen über den Rhein und trieben sich durch rauhe Wälder und über Alpenweiden und blaue Seen, bis sie endlich dahin gelangten, wo heute nahebei, im Tale der Alp, das Salveglöcklein Unserer Lieben Frau zu Einsiedeln ertönt. Unerschrocken brachen sie in die dunklen Urwälder ein, bis auf einmal Swyt der Anführer mit seinem Haufen aus einem mächtigen Tannenwald heraustrat.
Da sah er über sich zwei gewaltige, turmartige Berge stehen, und unter sich erblickte er einen ungeheuren Nebelsee, über den das Schneegebirge herschimmerte. Und nun begann es im Nebel zu wallen und zu wogen. Er fing an, aus der Tiefe heraufzusteigen und sich aufzulösen, und siehe, da zeigte sich tief unten ein weites, grünes Tal, und darin lagen ein kleiner, blauer Bergsee und ein grosser, grüner, um den die Schneeberge standen.
Jetzt stiess Swyt in sein Horn, bis auch sein Bruder Schej mit seinem Volk herbeieilte. Alsbald stiegen sie mit all ihren Herden ins Tal herab und streiften bis an den grünen Bergsee, an dem ein einsamer Mann die Fähre hütete, von der aus man über den See und das Schneegebirge nach Rom gelangen konnte. Obwohl das wandernde Volk nun selber vorgehabt hatte, nach Rom zu ziehen, besann es sich jetzt doch eines andern. Die Anführer schauten nochmals zu den zwei Hakenbergen hinauf, die heute Mythen heissen, und dann kehrten sie mit allem Volk zu den grünen Weiden unter die beiden Berge zurück.
Und als sie am Fusse der beiden Riesentürme anlangten, trieben sie die Speere in den Boden und riefen: „Hier wollen wir wohnen in alle Ewigkeit!“
Also liessen sich Swyt und Schej im Tale nieder mit all ihren Leuten. Aber als sie dem Lande einen Namen geben sollten, gerieten die beiden Brüder in Streit, da jeder das Tal nach seinem Namen nennen wollte. Und sie sagten sich voneinander los, und wie sie sich früher geliebt hatten, so hassten sie sich jetzt.
Eines Abends, als das Alpenglühen auf den Schneebergen lag, fielen sie mit den Schwertern übereinander her und kämpften so lange miteinander, bis endlich Schej tot hinsank. Darnach wurde das ganze Tal nach dem siegreichen Anführer Swyt das Land Schwyz genannt, wovon dann in späterer Zeit die ganze Schweiz ihren Namen erhielt.
Das Drachenried.
Im Lande Unterwalden, am Vierwaldstätter See, hauste in unvordenklicher Zeit ein fürchterliches Untier. Ob dem Dörflein Wyl hatte es seine Höhle. Es war ein greulicher Lindwurm, der einen Schuppenpanzer um den Leib und messerscharfe Krallen hatte. Wenn er aus seiner Höhle durch die Luft schoss, sah er aus wie ein ungeheures fliegendes Krokodil. Aus seinem Rachen aber konnte er Feuer speien. Die ganze schöne Gegend um das Dörflein wurde von ihm verheert und in Furcht und Schrecken gehalten, also dass man das Dörflein Wyl zuletzt Ödwyl nannte.
Der Drache verschlang nicht nur das Vieh, sondern auch die armen Hirten. Und wenn ein Hirtenbühlein sich noch so sachte und still mit seinem vollen Milchtanslein den Hecken und Wäldern nach schlich, der Lindwurm sah es gewiss. Auf einmal schoss er heran, und weg war das Hirtenbüblein. Einmal suchten zwei arme Mägdlein Beeren in der Weid. Da schoss der Drache auch herbei und hätte gewiss beide verschlungen, wenn sie sich nicht ins Farnkraut hätten verstecken können. So war denn weder Mensch noch Vieh des Lebens sicher.
Da erbot sich ein ritterlicher Mann, namens Strutthahn, der aus dem Geschlecht der Winkelriede war, den Kampf mit dem Drachen aufzunehmen, wenn man ihn wieder in seine Heimat zurückkehren lasse, aus der er eines unbedachten Totschlages wegen verbannt worden war.
Die Unterwaldner nid dem Wald, die nicht mehr wussten, wie sie sich dess Lindwurmes erwehren sollten, sagten ihm’s feierlich zu.
Jetzt kam der Ritter Strutthahn Winkelried ins Land und ging nach Ödwyl, wo der Drache in seiner Höhle hauste. Er hatte ein Panzerhemd an, und seine Lanze umwand er mit einem Dornbusch.
Plötzlich schoss der Drache feuerspeiend aus seiner Höhle und geradewegs auf den Ritter los. Schon dachten alle Leute, die von weitem aus den Wäldern zuschauten, jetzt sei’s aus mit ihm. Doch Strutthahn Winkelried hielt dem Lindwurm die dornenumwundene Lanze entgegen, und blindlings fuhr dieser in seiner Drachenwut in sie hinein, also dass er nach kurzem heftigem Kampfe daran erstickte.
Jauchzend eilte nun alles Volk herbei. Aber als der Ritter, schweissdampfend, die Lanze aus dem Ungeheuer herauszerrte, rann ihm etwas von dem Drachenblut auf den blossen Arm. Obwohl er’s gleich wieder