Das Kind vom anderen Stern. Ross Welford
Brust legt, glaube ich für einen Moment, dass sie die Geste der Herzler macht, aber natürlich tut sie das nicht.
Sie blickt mich eindringlich an und sagt: »Ta-mii.«
Mehr nicht, bloß diese beiden Silben.
Und wieder: »Ta-mii.«
Rasch vergewissere ich mich, dass mich niemand beobachtet, halte meinen PM hoch und filme. Mit den Exponaten zu kommunizieren, ist zwar nicht ausdrücklich verboten, aber man wird auch nicht dazu ermuntert.
Ta-mii. Ist das ihr Name?
Ich wiederhole die Silben, obwohl ich mich mit den Lauten schwertue.
»Ta-mii«, sage ich.
Sie nickt und verzieht das Gesicht, als wollte sie lachen und gleichzeitig weinen. Ich begreife nicht, warum. Menschen sind seltsame Wesen.
Wie sie lege auch ich eine Hand aufs Herz und sage meinen Namen. Das Menschenmädchen versucht, ihn zu wiederholen, aber es klingt kein bisschen nach meinem Namen. Beim nächsten Versuch geht es schon etwas besser. Ich probiere ein wenig hin und her und spreche meinen Namen dann so aus, dass sie ihn vielleicht wiederholen kann.
»Helly-ann«, sage ich und ihr Mund verformt sich ganz langsam zu einem Lächeln.
Sie blinzelt ein paarmal und spricht mir nach. Unwillkürlich muss auch ich lächeln.
Dann blickt sie wieder ernst und sie sagt zwei weitere Silben: »Ii-sen.«
Plötzlich ertönt aus dem Lautsprecher über mir eine Stimme: »Ihre Zeit ist um. Gehen Sie weiter. Hinter Ihnen hat sich eine Schlange gebildet, auch andere wollen das neue Exponat besichtigen. Beanspruchen Sie nicht mehr als die Ihnen zustehende Zeit. Der Nächste.«
Das Menschenmädchen sieht mir nach, dann zieht es sich in die hinterste Ecke seines Geheges zurück und setzt sich auf den Boden. Da rücken auch schon zwei neue Besucher an.
»Ta-mii«, sage ich vor mich hin, während ich an dem HM vorbeigehe, der am Rand des Ausstellungsraums steht.
»Das ist Ihr drittes Mal hier, wenn ich mich recht erinnere«, sagt der HM. »Und dann kommunizieren Sie auch noch mit den Exponaten? Ich behalte Sie im Auge.«
Natürlich sagt er das nicht laut. Das braucht er auch gar nicht, sein scharfer Blick genügt.
So läuft das bei uns. Alle halten sich an die Regeln. Keiner tanzt aus der Reihe.
Auf dem Weg zu meinem Podhaus muss ich mich zusammenreißen, um nicht weinend zusammenzubrechen. Die Leute hier weinen nicht, und lachen tun sie übrigens auch nicht.
Stattdessen wiederhole ich in Gedanken immer wieder ihren Namen: Ta-mii. Ta-mii. Ta-mii.
Zu Hause spiele ich den Teil der Aufnahme ab, die ich von dem Menschenmädchen gemacht habe, als es seinen Namen und diese anderen Laute von sich gegeben hat.
Was ist denn Ii-sen? Das hat sie doch gesagt: Ii-sen.
Vielleicht finde ich es irgendwann heraus.
Denn ich werde Ta-mii zur Erde zurückbringen.
Das wird gefährlich. Wenn ich scheitere, werde ich für den Rest meines Lebens in Tiefschlaf versetzt.
Und wenn es mir gelingt? Dann werde ich es wahrscheinlich fürs nächste Exponat wieder tun müssen.
Das ist der Fluch, wenn man Gefühle hat.
ETHAN
2. Kapitel
Meine Zwillingsschwester Tammy wird jetzt schon seit vier Tagen vermisst. Als es an der Tür klingelt, denke ich also erst mal, es ist die Polizei oder wieder irgendein Journalist.
»Ich geh schon«, sage ich zu Mam und Dad.
Gran ist in ihrem Trainingsanzug im Lehnstuhl neben dem Weihnachtsbaum eingeschlafen, ihr Mund steht offen. Die Lichter am Baum sind schon seit Tagen nicht mehr angeknipst worden.
Als ich die Tür öffne, steht da Ignatius Fox-Templeton – Iggy genannt, weil es kürzer ist und nicht so schräg klingt – in Wintermantel, Schiebermütze und Shorts (obwohl draußen Schnee liegt). In einer Hand hält er eine Angel, unter den anderen Arm hat er Suzy geklemmt, sein zahmes Huhn. Überm Rücken trägt er eine große Tasche und sein verrostetes Rad liegt neben ihm auf dem Boden.
Eine Weile sehen wir uns einfach bloß an. Iggy und ich sind keine besten Freunde oder so was. Und zuletzt hatten wir ein ziemlich unangenehmes Erlebnis. Das war Heiligabend, als Tammy verschwunden ist. (Ich hätte seiner Mutter mit dem Klavierdeckel beinahe alle Finger gebrochen. Sie fand’s aber gar nicht so schlimm.)
»Ich, ähm … ich dachte … ob du vielleicht, na ja, ob du … ähm …« So ist Iggy normalerweise gar nicht, aber er ist ohnehin nicht im normalen Sinn normal, und überhaupt ist im Moment gar nichts normal.
»Wer ist es denn?«, ruft Mam matt.
»Schon gut, Mam. Ist nichts!«, rufe ich zurück.
Mam geht es immer schlechter. Keiner von uns schläft zurzeit gut, aber ich fürchte, dass sie überhaupt nicht schläft. Unter den Augen hat sie blaugraue Ringe, als wäre ihre Wimperntusche verlaufen. Dad hat sich in die Arbeit im Pub gestürzt und Suchtrupps organisiert, aber allmählich gehen auch ihm die Projekte aus. Alle sind so versessen darauf, uns zu helfen, dass für uns am Ende nichts anderes übrig bleibt, als untätig rumzusitzen und vor lauter Sorge ganz verrückt zu werden. Sandra, die bei der Polizei für Familien wie unsere zuständig ist, meint, das wäre »zu erwarten gewesen«.
Ich wende mich wieder Iggy zu.
»Was willst du?« So unfreundlich wollte ich gar nicht klingen.
»Hast du … ähm, hast du Lust, angeln zu gehen?«, fragt er fast flüsternd. Seine Augen blinzeln rasch hinter den dicken Brillengläsern.
Falls ihr keine Ahnung habt, wie schräg ich das gerade finde, müsst ihr wissen, dass meine Welt seit Tagen nur noch aus quälenden Sorgen und vielen, vielen Tränen besteht, aus geschäftigen Polizisten und Journalisten, die uns mit Kamera und Notizblock belagern; aus Leuten vom Dorf, die Essen anschleppen, obwohl wir im Pub doch selbst eine riesige Küche haben (in der sich inzwischen zwei Shepherd’s Pies und eine überdimensionale Baisertorte türmen); aus Sandra, Dad und Mam, die das alles gemeinsam mit Gran zu managen versuchen; und auch noch aus Tante Annikka und Onkel Jan, die gestern aus Finnland eingeflogen sind, um … ja, um was eigentlich? Wahrscheinlich um für uns da zu sein.
All das, weil Tammy seit vier Tagen wie vom Erdboden verschluckt ist. Und nichts mehr so ist, wie es war.
Mein erster Gedanke, als Iggy hier so auftaucht und mit mir angeln gehen will, ist also: Hast du sie noch alle?! Aber dann dämmert es mir.
»War das Sandras Idee?«, frage ich. Die Haustür halte ich so weit wie möglich zu, damit die Kälte nicht reinkommt.
Iggy nickt freimütig. Sandra und er kennen sich schon eine ganze Weile. Bei ihm zu Hause ist immer was zu tun für eine Familienverbindungsbeamtin. Das ist die offizielle Bezeichnung für ihren Job.
»Ja, Sandra meinte, vielleicht willst du mal raus. Um auf andere Gedanken zu kommen. Eine kleine Abwechslung und der ganze Mumpitz.«
Mumpitz. Typisch Iggy. Er hat keinen besonders ausgeprägten Dialekt, wie die anderen hier, wobei er auch nicht sonderlich gehoben spricht. Mir kommt es vor, als könnte er sich nicht entscheiden, wie er klingen will, und benutzt deshalb seltsame Wörter als Lückenbüßer.
»Da bin ich also!« Iggy hält seine Angel hoch. »Besser gesagt, da sind wir also.« Mit dem Kinn deutet er auf Suzy.
Ich weiß nicht so richtig, was ich von Iggy halten soll. Dad kann ihn nicht leiden, denn kurz nachdem wir hergezogen sind, hat er Iggy dabei