Das Kind vom anderen Stern. Ross Welford

Das Kind vom anderen Stern - Ross Welford


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gut auf Iggys Mutter zu sprechen. Sie hält Bienen. Und hat sich von Iggys Vater scheiden lassen, glaube ich zumindest.

      Trotzdem muss ich zugeben, es ist irgendwie nett von Iggy vorbeizukommen, auch wenn es nicht seine Idee war. Wobei ich nicht sonderlich gern angle …

      Suzy reckt mir den Kopf entgegen, damit ich sie kraule. Gehorsam versenke ich die Finger tief in ihrem weichen Gefieder. Ehrlich gesagt, die Sache mit Suzy ist mir ebenfalls suspekt. Wer bitte schön hält sich schon ein Huhn als Haustier?

      Während ich Suzy noch am Hals kraule, überlege ich: Was soll schon groß schiefgehen?

      Also stecke ich den Kopf ins Wohnzimmer, um mich abzumelden. Dad ist zum Telefonieren in die Küche gegangen und Mam starrt stumpf zum Fernseher, der gar nicht läuft. Gran schnarcht ein bisschen. Im Zimmer ist es viel zu heiß, die Asche im Holzofen glüht weiß und hellrot.

      »Ich geh mal ’ne Weile raus, Mam«, sage ich. »Bisschen frische Luft schnappen.«

      Sie nickt, aber ich weiß nicht, ob sie mir überhaupt zugehört hat. In Gedanken ist sie die ganze Zeit bei Tammy.

      Tammy, meiner Zwillingsschwester, die wie vom Erdboden verschluckt ist.

      3. Kapitel

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      Das Absperrband ist noch da: POLIZEIABSPERRUNG. BETRETEN VERBOTEN. Es ist quer über den Weg gespannt, wo Tammys Fahrrad lag, aber die Polizei hat den Waldweg und den schmalen Uferstreifen schon ein Dutzend Mal abgesucht. Jetzt ist keiner mehr da. Ich bin seit Heiligabend nicht mehr hier gewesen, und als wir uns der Stelle nähern, schnürt sich mir die Kehle zusammen.

      »Kommst du klar?«, fragt Iggy. »Tut mir leid, daran hab ich gar nicht gedacht … der See und so …«

      »Schon okay.« Man könnte auch noch anders ans Wasser kommen, aber das wäre von hier ein Umweg.

      Wir lassen unsere Räder oben im Wald und steigen die steile Uferböschung hinab. Dabei denke ich unentwegt: Da ist Tammy vielleicht auch gelaufen …

      Schließlich gelangen wir an den schmalen Uferstreifen. Iggy redet pausenlos von einem riesigen Hecht, der sich in der Nähe des Wehrs herumtreiben soll, wo sich das überschüssige Wasser aus dem Stausee sammelt.

      »Wenn es draußen richtig kalt ist, zieht es die Hechte in flachere Gewässer … Mit einem Laserköder lässt der sich hundertpro anlocken … die Angelschnur hat eine Tragkraft von 40 Kilo …«

      Genauso gut könnte Iggy in einer Fremdsprache mit mir reden, aber ich mache mit, weil ich einfach nur froh bin, mal an was anderes als an Tammy zu denken.

      Obwohl es mitten am Nachmittag ist, wird es schon dunkel. Weit und still liegt Kielder Water vor uns – in der Dämmerung hat der See eine tieflila Farbe angenommen. Mir verschlägt es den Atem. »Wow«, raune ich leise.

      Iggy stellt sich neben mich und blickt übers Wasser.

      »Glaubst du, dass sie noch am Leben ist, Tait?«

      Puh! Wie kann er bloß so direkt sein? Im ersten Moment ärgere ich mich, aber dann wird mir klar, dass er im Grunde das fragt, was alle gern fragen würden. Nur schleichen die anderen wie die Katze um den heißen Brei herum oder schweigen aus Angst, das Falsche zu sagen.

      Ich seufze. Diese Frage hat mir bisher noch keiner gestellt, deshalb bin ich überrascht, wie überzeugt ich bin. »Ja. Das spür ich genau. Hier.« Ich greife mir an die Brust. »Wir sind doch Zwillinge.«

      Iggy schiebt die Unterlippe vor und nickt bedächtig, als würde er es verstehen, aber das kann bloß ein Zwilling.

      »Psst«, mache ich. »Sei mal still.«

      Ich hoffe darauf, dass ich wieder dieses Heulen höre, so wie an dem Abend, als Tammy verschwand. Doch die einzigen Geräusche kommen von den winzigen Wellen, die alle paar Sekunden ans Ufer schwappen, und von dem leuchtend orangen Kanu, das rhythmisch gegen den weit in den See hineinragenden Holzsteg rumst.

      Als wir auf den Steg treten, ächzen die alten Planken unter unserem Gewicht. Iggy packt seine Anglertasche aus.

      Ich glaube, das letzte Mal war ich mit Tammy auf dem Steg. Zum Steinweitwurf. Im Grunde geht es dabei nur darum, wer den Stein am weitesten in den See werfen kann. Aber wir haben natürlich Regeln: nur gleich große Steine, fünf Runden zum Sieg und so weiter. Dummerweise gewinnt Tammy fast immer. Im Werfen ist sie richtig gut.

      Iggy brabbelt unbeirrt vor sich hin …

      »So. Da haben wir also zwei achtfach geflochtene Angelschnüre, je 100 Meter lang mit Stahldrahtverstärkung … vier Drillingshaken, zehn Zentimeter lang … eine kurze Rute und meine gute alte Hechtrolle, dazu einen Johnson-Laserköder.«

      Iggy, dessen Schulnoten man als schwankend bezeichnen könnte, hätte in Anglerlatein sicher eine Eins plus! Dann zieht er noch ein kleines Päckchen aus der Tasche. Er öffnet die Plastikfolie und hält mir den Inhalt unter die Nase. Bei dem Gestank wird mir kotzübel.

      »Was ist …?«

      »Hühnchen. Habe ich im Mülleimer hinterm Pub gefunden.« Und schnell schiebt er noch nach: »Ist ja nicht geklaut, wenn’s im Müll lag!«

      Während er auf dem Steg kniet und seine vierteilige Steckrute montiert, geht er noch mal alles mit mir durch, obwohl er es mir schon unterwegs erklärt hat.

      »Die Hähnchenbrust ist der Köder. Wir fahren etwa dreißig Meter raus und werfen ihn mit der Boje ins Wasser.« Iggy zeigt auf eine rote fußballgroße Boje im Kanu. »Der Köder darf nicht zu tief sinken. Deshalb hängt er an der Bojenleine und der Angel. Wir paddeln ans Ufer zurück und warten. Der Hecht kommt, wittert das köstliche Fleisch …« Iggy macht es vor, kneift die Augen zusammen und zieht die Nase kraus. »Und kann einfach nicht widerstehen! Bäm! Er schnappt zu und hängt am Haken. Wir sehen die Boje auf und ab hüpfen, ziehen ihn an Land, wo du schon das Handy bereithältst, um Fotos zu machen. Dann lassen wir ihn wieder frei und radeln zurück zu Ruhm und Reichtum, ein Foto im Hexam Courant springt allemal dabei raus!«

      Wird schon schiefgehen, rede ich mir ein, als wir das Kanu beladen. Beim Einsteigen schwappt mir das eiskalte Wasser in die Turnschuhe, das sich im Boot angesammelt hat. Suzy folgt uns, ich könnte wetten, dass sie mir einen seltsamen Blick zuwirft. Nachdem sie einmal kurz am vergammelten Hähnchen gerochen hat, nimmt sie Abstand und lässt sich am anderen Ende des Kanus nieder.

      Zu Mam habe ich nicht gesagt, dass wir aufs Wasser wollen, denn bis eben wusste ich es ja selbst nicht. Ich habe also ein reines Gewissen. Aber trotzdem …

      »Iggy? Haben wir … ähm, zufällig Rettungswesten dabei?« Ich komme mir blöd vor, erst recht, als Iggy mich voller Verachtung anschaut. »Vergiss es«, schiebe ich schnell nach. »Ich kann ja schwimmen.«

      Wir machen das Kanu los und paddeln schweigend auf den See hinaus.

      Irgendwie ist mir übel, vielleicht von der Schaukelei. Oder von dem toten Huhn. Der Gestank klebt mir an den Händen, seit ich es gerade mitsamt der Boje über Bord geworfen habe.

      Als ich mich vorbeuge, um mir die Hände im eiskalten Wasser zu waschen, schrecke ich mit einem Aufschrei zurück. Das Kanu schwankt.

      »Hey! Pass doch auf!«, ruft Iggy empört.

      Habe ich mir das nur eingebildet? Ja, bestimmt.

      Ich beuge mich noch mal vor. Es ist bloß ein Baumstamm. Einer der Äste sieht aus wie ein Arm. Und in meiner Fantasie wurde daraus ein Körper, der im Wasser treibt, natürlich dachte ich sofort an Tammy. Aber sie ist es nicht. Nur ein Baumstamm unter Wasser.

      »Wollen wir umkehren?« Ich gebe mir Mühe, ganz locker zu klingen.

      Wir paddeln zurück, die schwere Leine hängt im Wasser.

      Dann warten wir auf dem Steg. Und warten. Ich schaue nach oben,


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