Das Kind vom anderen Stern. Ross Welford
Bei diesen Gedanken werde ich sofort wieder traurig, wodurch es mir seltsamerweise besser geht, dann habe ich nämlich das Gefühl, es wieder wettgemacht zu haben, dass ich nicht unentwegt an sie denke.
Und wenn ich traurig bin, kommen mir meine letzten Worte wieder in den Sinn: Ich hasse dich.
Mam habe ich nichts davon erzählt. Das würde sie nur fertigmachen, und Mam und Dad sind schon fertig genug. Mal ehrlich, Tammy und ich haben uns viel öfter gesagt, dass wir uns hassen, als dass wir uns lieb haben.
Ist ja auch keine Kunst – dass wir uns lieb haben, haben wir uns eigentlich nie gesagt. Warum auch? Das wäre fast so, als würde man es zu sich selbst sagen.
Trotzdem quält es mich, dass das meine letzten Worte zu ihr waren.
Vier Tage zuvor
8. Kapitel
Heiligabend war oben im Moor Schnee gefallen. Alle haben wohl gehofft, dass sich eine dicke Schneedecke über das Dorf legen würde wie im Bilderbuch, aber Fehlanzeige. So ein Postkartendorf ist Kielder auch gar nicht.
Es ist lang gezogen, mit einer Mischung aus alten und neuen Häusern. Eine nette kleine Dorfstraße mit Bäcker, Metzgerei und einem süßen Tante-Emma-Lädchen sucht man vergebens. Wald, See und Sternwarte sorgen im Sommer zwar für haufenweise Gäste, aber im Winter macht das meiste davon dicht, die Teestuben, der Irrgarten und Mad Mick’s Mental Rentals, der Fahrradverleih. Tammy hat Kielder nur noch Schnarchkaff genannt. Sie meinte mal: »Ich passe nicht hierher. Ich bin ein Stadtmensch.« Dabei war Tynemouth, wo wir vorher gewohnt haben, auch nicht gerade New York.
Immerhin gibt es einen Pub hier, den Mam und Dad jetzt betreiben. Der Stargazer liegt ein wenig zurückgesetzt an der Hauptstraße. Am Ende der kurzen Auffahrt hängt ein Kneipenschild, daneben steht ein riesiger Weihnachtsbaum. Die Fenster schmücken bunte Lichterketten, dazu stehen jede Menge Kerzen herum, schließlich ist Mam halb Dänin und die Dänen sind ganz versessen auf Kerzen.
Ich erinnere mich an den Abend bis ins kleinste Detail, obwohl ich ihn lieber vergessen würde. X-mal bin ich alles durchgegangen, mit den Polizisten, mit Mam, Dad, Gran, mit den Journalisten und vor allem in meinem Kopf – immer wieder und wieder.
Hier kommt der Abend »noch einmal von Anfang an«, wie Miss Swann, unsere Musiklehrerin, gern sagt.
Es war fünf nach sechs. Mam war gerade zum Weihnachtssingen in den Pub hinübergegangen. Dad war auch schon drüben, musste sich aber noch verkleiden. Tammy und ich sollten später dazukommen, nachdem wir den alten Leuten im Dorf Weihnachtsgeschenke von Mam und Dad vorbeigebracht hatten. Sheila, Tommy Natrass, die Bell-Schwestern und ein paar andere sollten eine Flasche Wodka mit einem Kärtchen bekommen: Frohe Weihnachten wünschen Mel und Adam vom Stargazer.
Meine Aufgabe war es gewesen, die Flaschen einzupacken.
Tammy kam mit der Tragetasche nach unten, in die ich die in rotes Geschenkpapier eingeschlagenen und mit einer Schleife verzierten Schachteln gelegt hatte. Da kriegten wir uns in die Haare. Es fing damit an, dass Tammy eine der Schachteln in die Hand nahm und sarkastisch sagte: »Super eingepackt!«
»Ich habe mein Bestes gegeben«, antwortete ich.
Das Geschenkpapier war verknittert, überall klebte Tesafilm und die Schleife war schludrig gebunden. Und nun fiel auch noch das Schildchen ab. Geschenke einzupacken ist auch wirklich nicht leicht.
»Ich habe mein Bestes gegeben, Tammy«, äffte sie mich mit Babystimme nach. »Das sagst du immer! Aber du gibst doch nie dein Bestes, oder? Du tust nur so. Du gibst dir gerade so viel Mühe, dass die Leute dir den Spruch abkaufen. Ach, der arme Ethan. Er hat sich so bemüht. Aber ich weiß, was rauskäme, wenn du dein Bestes geben würdest, Ethan. Ich bin deine Zwillingsschwester, schon vergessen? Deine andere Hälfte. Du machst mir nichts vor. Und du hast dir mal wieder null Mühe gegeben, also laber nicht rum.« Wie zum Beweis schwenkte sie ein weiteres schlampig eingepacktes Geschenk, bis auch da das Schildchen abfiel.
»Wo ist dein Kostüm?«, fragte ich, um abzulenken. Wir hatten abgemacht, dass wir uns diesmal als Weihnachtselfen verkleiden würden. Die Kostüme hatten wir noch von unserer Schulaufführung im letzten Jahr.
Tammy verdrehte die Augen. »Oh Mann, du bist so kindisch, Ethan.«
Wenn sie so mit mir redet, könnte ich ausflippen. Bloß weil sie zehn Minuten älter ist als ich, braucht sie sich nicht so aufzuspielen. Ich sah an mir hinunter: gestreifte Strumpfhose, grüne Jacke mit Schnalle und dazu noch ein spitzer Hut, den ich in der Hand hielt.
»Aber wir waren uns doch einig!« Ich wollte nicht weinerlich klingen, was mir leider nicht gelang.
Tammy trug wie immer Jeans, Turnschuhe und einen dicken Fleece-Pulli. Mode ist einfach nicht ihr Ding. Jetzt zog sie sich noch die wattierte rote Jacke über, ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk von Gran.
»Man kann seine Meinung auch ändern. Ups, gerade passiert! Ich hab keinen Bock, mich zu verkleiden und wie eine Sechsjährige durchs Schnarchkaff zu pilgern. Du kannst das ja gern machen, keiner hindert dich. Siehst toll aus!«
»Ich lauf bestimmt nicht als Einziger verkleidet durch die Gegend. Dann zieh ich mich jetzt um«, fauchte ich und stampfte die Treppe hoch.
»Okay, wir sehen uns bei der alten Sheila. Ich fahr los.«
»Wartest du nicht auf mich?«
»Nein, wir sind eh schon zu spät dran. Tschau.« Tammy öffnete die Haustür und trat in die Kälte. Und da habe ich es ihr nachgerufen:
»Ich hasse dich!«
(Insgeheim hoffe ich, dass sie mich nicht gehört hat, aber das hat sie bestimmt, denn ich habe ziemlich laut gebrüllt und die Tür war noch offen.)
Fünf Minuten später war meine Wut schon wieder verraucht, das alberne Elfenkostüm hatte ich auszogen. Vielleicht hat sie recht, dachte ich. Als Kompromiss zog ich den Weihnachtspulli mit der leuchtend roten Rentiernase an. (Ganz klein beigeben wollte ich nun auch wieder nicht.) Ich schloss die Haustür hinter mir und schwang mich aufs Rad, um Tammy einzuholen.
Kurz darauf fand ich am Waldweg ihr Rad im Gebüsch, Vorder- und Rücklicht erleuchteten den mit Frost überzogenen Boden. Von Tammy keine Spur.
Seither habe ich sie nicht mehr gesehen.
9. Kapitel
Wenn die Leute mitkriegen, dass Tammy und ich Zwillinge sind, heißt es manchmal: »Könnt ihr gegenseitig eure Gedanken lesen?« Weil die Frage so bescheuert ist, spielen wir immer ein bisschen Theater. Ich sage: »Klar. Tammy, an welche Zahl denke ich gerade?« Und ganz egal, welche Zahl Tammy nennt, rufe ich: »Stimmt haargenau!«
Auf jeden Fall fanden wir’s witzig. Manche sind auch tatsächlich drauf reingefallen, so wie Tammys neue Freundin Nadia, aber die glaubt sowieso alles.
Also, nein, wir stehen nicht in telepathischer Verbindung. Doch als ich an dem Abend Tammys Rad am Wegrand sah, wusste ich gleich, dass etwas passiert war. Es war wie ein Schlag in die Magengrube. Sofort hielt ich an. Mir lief es eiskalt den Rücken runter, als hätte mir jemand Eiswürfel in den Halsausschnitt geschüttet.
»Tammy?« Anfangs rief ich noch nicht so laut, weil ich zwar irgendwie wusste, dass was passiert war, aber nicht ganz sicher sein konnte. »Tam?«
Der Mond wurde von einer dicken Wolke verdeckt, und ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie dunkel es dann in Kielder