Das Frühstück der Langschläferin: Ein Unterhaltungsroman auf Leben und Tod!. Tor Åge Bringsværd

Das Frühstück der Langschläferin: Ein Unterhaltungsroman auf Leben und Tod! - Tor Åge Bringsværd


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      Wepner war immer noch nicht groggy.

      Und das Publikum tobte.

      Virolainen dachte an Daidalos – an den, der nicht abgestürzt ist.

      Ikaros kennt jeder. Kaum einen hat man so besungen, beschrieben, bemalt, bespielt, bewundert wie ihn. Doch wer hat schon von seinem Vater gehört – wer kennt schon Daidalos?

      Dabei war es Daidalos, der die Flucht aus dem Labyrinth plante. Daidalos hat die Flügel konstruiert. Mit Wachs zusammengefügte Flügel ...

      Und was machte Ikaros? Sein Grips reichte nicht einmal zum Lesen der Gebrauchsanweisung.

      Sie flohen gemeinsam, schwangen sich wie kühne Falken in die Lüfte. Daidalos warnte den Sohn davor, zu hoch zu fliegen. Aber Ikaros vergaß alles, sobald er abgehoben hatte und die Luft unter den Flügeln spürte.

      Wir können davon ausgehen, daß Daidalos ihm nachgerufen hat, doch damals gab es keine Funkverbindung – und Ikaros stieg höher und höher. Im Glücksrausch? Unsinn! Der Junge hatte Panik! Schlicht und ergreifend. Wie so viele, wenn das, was sie erträumen und ersehnen, endlich Wirklichkeit wird. Wenn das Abenteuer dem Alltag die Hand gibt.

      Und Ikaros stieg so hoch, daß die Sonne das Wachs, das die Flügel zusammenhielt, schmolz. Wir wissen, wie es ausging. Er stürzte ab. Starb. Fiel in das Meer, das später nach ihm das Ikarische genannt wurde.

      Und Daidalos? Ist nach ihm nichts benannt worden? Auch er flog.

      Ohne daß das Wachs schmolz, ohne daß ihn die Flügel im Stich ließen. Er erreichte sein gestecktes Ziel. Siegte. Und wurde vergessen ...

      Tragödien und Unglücksfälle sind immer der beste Stoff – damals wie heute.

      Virolainen zauderte.

      Wie Daidalos und Ikaros war auch er in einem Labyrinth gefangen. Wie sollte er den Weg hinaus finden?

      Die zwei Griechen waren durch eine Öffnung im Dach geflohen ... Aber würden ihn die Flügel tragen?

      Und – war er ein Daidalos ... oder ein Ikaros?

      Erst in der 15. und letzten Runde gelang es Ali, Chuck Wepner fertig zu machen. 19 Sekunden vor Schluß schlug er den Herausforderer zu Boden. Wepner hing kniend in den Seilen, und das Publikum im Saal und auf der Leinwand verschmolz zu einem universalen und allumfassenden Jubel. Wie ein heidnisches Frühlingsfest, dachte Nigel Harris. Als würde Osiris von den Toten auferstehen.

      Ali bleibt »king of the heavyweights« und wird um 1,5 Millionen Dollar reicher.

      Der Ringrichter Tony Perez zählte rasch bis zehn und ersparte es damit der Jury, die Punkte zu addieren, sicher eine populäre Entscheidung.

      Eine Million, dachte Nigel Harris, als er und Harold Robbins sich willenlos und wie nach einem Orgasmus mit dem Strom aus dem Kino schieben ließen, vorbei an ekstatischen Rufen (»He’s the greatest!«) und triumphierenden Remplern in die Seite, spöttischem Gelächter, herausfordernden Blicken und seligem Lächeln, vorbei an Menschenklumpen um eifrige Souvenirverkäufer: Bilder von Ali, Fotos von Ali, Ali-Puppen, Ali am Schlüsselbund, Ali als Glücksbringer im Auto, Ali-Fähnchen ... Eine Million, dachte Nigel Harris. Wieviel ist eigentlich eine Million? Er war einen Meter und achtzig groß. Wäre er eine Million mal so groß, würde er 1800 Kilometer in die Luft ragen. Eine Schmeißfliege ist acht Millimeter lang. Vergrößert um eine Million würde sie ein 8 Kilometer langes Ungeheuer! Die behaarten Beine würden über 100 Meter dick sein ...

      »Eine Million Tage sind 2700 Jahre«, sagte Nigel Harris laut. »Das ist viel Geld. Viel Geld dafür, daß man einen Mitmenschen niederschlägt.«

      Harold Robbins warf ihm einen bösen Blick zu. Er war offensichtlich knapp davor, etwas Unfreundliches zu knurren, doch auf der Unterlippe stoppte die Zunge und schlüpfte wieder hinein. Statt dessen packte er Nigel Harris am Arm. »Da«, flüsterte er. »Siehst du sie dort drüben? Die mit den zwei Japanern? Die von Yin und Yang Flankierte?«

      Nigel Harris folgte Robbins Finger.

      »Das ist Fay!« sagte Harold Robbins. »Ich habe dir doch von ihr erzählt. Eine von denen, die mit Hazel zusammenwohnt.«

      »Ich kann mir schließlich nicht all deine Frauenbekanntschaften merken«, sagte Nigel. »Wir kennen uns jetzt gerade ein paar Stunden.« Und das ist mehr als genug, fügte er im stillen hinzu. Mehr als genug. Eigentlich schon viel zu lange.

      »Aber du erinnerst dich doch an Hazel, von der ich erzählt habe. Hazel Knocklewood! Meine Sprechstundenhilfe.« Robbins zog Nigel hinter sich her. »Jetzt mach schon mit!« flüsterte er. »Sei ein Kumpel, verdammt nochmal!« Er schlug einen schrägwinkeligen Kurs ein, daß sie mit aller ballistischen Wahrscheinlichkeit irgendwo in der Mitte des Bürgersteiges kollidieren mußten.

      Vera Farrow hatte einen Traum.

      Sie träumte, daß es Dienstag früh war und die Zeit auf einmal anfing, rückwärts zu laufen. Die Uhrzeiger bewegten sich von links nach rechts. Die Leute auf dem Weg zur Arbeit hielten an, grüßten einander höflich und gingen wieder nach Hause, gaben ihren Frauen den Abschiedskuß, frühstückten zum zweiten Mal, wuschen sich unter den Armen und legten sich zu Bett. Als sie erwachten, war es Montag abend. Und so ging es weiter.

      Alte, abgerissene Kalenderblätter hingen wie ein Schwarm Schmetterlinge im Zimmer, warteten geduldig, bis sie an der Reihe waren, glätteten sich dann eines nach dem andern, fielen leise wie Kirschblüten herunter und hefteten sich lautlos wieder an den Block.

      Die Zeit hatte begonnen, rückwärts zu gehen.

      Wo Häuser gebaut wurden, fing man statt dessen an, sie abzureißen.

      Der Postbote kam jeden Tag und verlangte alte Briefe zurück.

      Die Müllabfuhr füllte jeden Montag die Mülltonnen.

      Der Zeitungsausträger holte jeden Morgen die Zeitung.

      Die Möbelhändler fuhren herum und kauften alle Stühle und Tische, die sie einmal verkauft hatten, zurück.

      Sie und Virolainen wurden sich immer fremder.

      Jeder Beischlaf war ein Abschied.

      Schließlich kannten sie sich nicht mehr.

      Und sie wußte, daß das Flugzeug bald rückwärts am Kennedy Airport aufsteigen und ihn zurück nach Helsinki in sein Reihenhaus bringen würde, wo Frau und Kinder auf der Treppe stehen und ihm winken, bevor er hineingeht und die Tür unwiderruflich hinter sich schließt. Und sie selber würde weiterleben – alle ihre 28 Jahre von vorne – ohne ihn jemals wiederzusehen ...

      Vera Farrow erwacht mit einem Ruck.

      Es ist dunkel im Zimmer.

      Und Virolainen ist nicht mehr da.

      Es wäre einigermaßen übertrieben zu sagen, daß Fay Hideway erfreut war, sie zu sehen. Aber hat Harold Robbins das gestört? Keine Spur.

      »Stur bleiben!« flüsterte er Nigel Harris zu. »Stur bleiben und nicht abwimmeln lassen.«

      Auch den beiden Japanern schien die Sache eher unangenehm zu sein. Doch Harold Robbins war der reinste Sonnenschein. »Hazels Freunde sind meine Freunde«, dröhnte er. »Und Freunde von Hazels Freunden sind ebenso willkommen. Wie wollen wir den weiteren Abend verbringen? Ich lade euch ein!« Und Fay flüsterte er vertraulich zu: »Könnten wir nicht einfach noch Hazel anrufen?«

      »Die Nacht ist jung«, sagte Nigel Harris in verbindlichem Plauderton zu einem der Japaner.

      5

      »To wake, and not to know where, or who you are, not even to know what you are – whether a thing with legs and arms, or a beast, or a brain in the hull of a great fish – that is a strange awakening«, meint Tanith Lee in The Birthgrave. Und damit hat sie sicher recht.

      Stell’ dir eine Welt vor, bevölkert von wandernden Wassersäulen – und du hast ein ziemlich gutes Bild von Mutter Erde. Der Mensch


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