Das Frühstück der Langschläferin: Ein Unterhaltungsroman auf Leben und Tod!. Tor Åge Bringsværd

Das Frühstück der Langschläferin: Ein Unterhaltungsroman auf Leben und Tod! - Tor Åge Bringsværd


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Teufel mit ihr«, sagte Robbins und wischte sich den Schweiß ab.

      Hazel fror.

      Es war dunkel geworden, und es ging ein feuchtkalter Wind.

      In den umliegenden Gebäuden flammten mehr und mehr Lichter auf. Unmerklich veränderte Manhattan sein Gesicht. Graue Fassaden legten sich ein Reklame- und Souvenirlächeln zu, hüllten sich in ein glitzerndes Postkartengewand. Die Fenster bildeten unregelmäßige Lichtmuster auf den dunklen Silhouetten und ließen die Wolkenkratzer wie riesige Lochkarten aussehen.

      Doch Felix Bartholdy verließ seinen Platz nicht.

      Obwohl es bald unmöglich für ihn war, die Zahlen, die er schrieb, zu lesen.

      »Du kannst hier nicht länger sitzen bleiben«, sagte Hazel sanft. »Du wirst krank. Es ist zu kalt, um hier oben zu sitzen. Es ist nach neun – schon fast zehn.«

      Felix gab keine Antwort.

      Es dauerte lange, bis er etwas sagte. Und hatte er endlich den Mund aufgemacht, verstand man in der Regel nicht, was er meinte.

      Sie gab trotzdem nicht auf.

      »Morgen können wir wieder raufgehen«, sagte sie. »Und dann kannst du weiterzählen. Aber jetzt mußt du dich ein wenig ausruhen. Komm.« Sie strich ihm mit der Hand über die Wange. »Mein Junge«, flüsterte sie, »versteh doch, du kannst nicht länger hier Sitzenbleiben. Das ist lebensgefährlich. Du hast ja auch nichts an ...«

      Warum empfinde ich eine solche Zärtlichkeit für ihn? dachte sie. Für einen Fremden ... für einen Menschen, den ich noch nie gesehen habe und mit dem mich eigentlich nichts verbindet ... Wäre sein Name nicht auf der Brieftasche gestanden, würde sie nicht einmal wissen, wie er hieß ... Felix Bartholdy ... Sie hatte seine Taschen durchsucht: Ein Schlüsselbund mit drei Schlüsseln, eine Schachtel Kopfwehtabletten, eine Packung Zigaretten (grüne Dunhill) und Zündhölzer. In der Brieftasche: 240 Dollar, eine Quittung der Buchhandlung Brentano und ein zerknülltes Foto von ihm zusammen mit einer jungen, blonden Frau (ziemlich gutaussehend) und einem älteren Mann mit Kaiser Josephs-Bart. Das Bild war auf einem Badestrand aufgenommen und schien vier bis fünf Jahre alt zu sein.

      Das war alles.

      Keine Adresse. Nichts, was auf seinen Beruf oder seine Beschäftigung hinwies.

      Er hatte keinen Ring – das hatte sie als erstes festgestellt –, ohne daß das irgend etwas bedeuten mußte.

      Es war schwer zu sagen, wie alt er war. Ende dreißig, Anfang vierzig? Er war groß und hager, das Gesicht asketisch: Gerade Nase, schmale Lippen, buschige, zusammengewachsene Augenbrauen. Der drei Tage alte Stoppelbart ließ seine Haut grau und kränklich erscheinen. Alles an ihm wirkte apathisch und gleichgültig. Alles mit Ausnahme der Augen ... die Augen waren dunkel. Glühten tief drinnen wie Kohlestückchen.

      Ist es, weil er so hilflos erscheint? dachte sie. Ist es deshalb? Ist es, weil er wie ein schutzloses Kind aussieht? Sind es meine Muttergefühle, in die ich mich verliebt habe? Kultiviere ich meine eigene Zärtlichkeit? Eine Zärtlichkeit, deren Existenz ich vergessen hatte ...

      Hazel wickelte ihn fester in die Decke.

      Er dankte ihr nicht. Schaute nicht einmal auf. Zählte einfach weiter. Schweigend. Riß kleine Fetzen von der gestrigen New York Times – der Sonntagsausgabe. Schrieb seine Zahlen. Sie hob einen der Zettel auf ... 260 415 ... Seine Zweier waren schön. Sie waren ihr schon aufgefallen. Wie Schwäne.

      »Ich werde dich nicht länger stören«, sagte sie und küßte ihn auf die Stirn. »Und ich werde dich nicht zwingen, aufzuhören ... Ich gehe hinunter und hole noch Decken für dich. Dann frierst du jedenfalls nicht.«

      260 430 schrieb Felix. 260 431 – 32 – 33 ...

      Wie weit er wohl kommen wollte? fragte sich Hazel. Hat er ein Ziel? Eine magische Zahl ... eine ferne Glückszahl? Und warum eilte es so?

      Leise richtete sie sich auf und ging zur Speichertreppe.

      Felix Bartholdy trieb weiterhin Wörter und Sätze aus seinem Kopf. Trieb die Buchstaben wie Schafe und Kälber vor sich her, sammelte sie in großen Herden.

      Es dauert jetzt nicht mehr lange, sagte er zu sich.

      Er spürte, wie der Kopf leichter und leichter wurde.

      Er spürte, wie die Leere zunahm.

      Klare, kühle, wohltuende Leere.

      Ruhe.

      Der Abstand zwischen den Wörtern wurde immer größer.

      Sie waren nicht mehr so leicht zu erspähen. Einige von ihnen versuchten sich aus dem Staub zu machen. Versuchten sich zu verstecken. Aber die Zahlen waren gnadenlos. Felix ließ sie Ketten bilden. Ließ sie jeden Stein umdrehen. Verlangte, das Gelände zu durchkämmen. Kein Buchstabe darf entwischen! rief er ihnen zu. Hört ihr, kein einziger Buchstabe!

      Und was ist mit den Zeichen? fragte 260 504. Was mit Punkten, Kommas und Gedankenstrichen?

      Sie auch! sagte Felix Bartholdy. Weg damit! Zeigt keine Gnade!

      Aber sie sind doch gewissermaßen Verwandte ..., sagte 260 511.

      Weg damit! schrie Felix Bartholdy und hielt sich die Ohren zu. Hört ihr!

      Ein Zitat! kreischte plötzlich das kleine Einmaleins.

      Wir haben ein Zitat entdeckt!

      Gratuliere, sagte 3,14. Wir dachten, es gäbe keine Zitate mehr.

      Das dachten wir auch, sagte das kleine Einmaleins, aber hier ist eines!

      Das ist dann hoffentlich das letzte? sagte Felix Bartholdy.

      Absolut, sagte das kleine Einmaleins.

      Das können wir beschwören, sagte die Quadratwurzel aus 11 780. Danach herrscht nur noch eine weite Leere. Zahlen und eine weite Leere.

      Entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß das letzte Überbleibsel ... daß das letzte, was wir austreiben, ein Zitat ist und kein eigener Gedanke, sagte Felix Bartholdy. Ich dachte, Zitate würden zuerst verschwinden. Ich gehe davon aus, daß es sich um ein bekanntes Zitat handelt ...

      Bin ich nicht in der Lage zu beurteilen, sagte das kleine Einmaleins. Ich kann nicht lesen. Für mich sehen alle Buchstaben gleich aus.

      Laß mich, sagte 260 619 und machte sich an den ersten Hauptsatz.

      Nein, laß es selber reden, sagte 260 620 und versetzte dem Zitat einen Tritt. Wer bist du? Heraus mit der Sprache! Wer hat dich geschickt?

      Georg Büchner, sagte das Zitat jammernd.

      Georg Büchner? sagte Felix Bartholdy verwundert. Den habe ich ja fast nie gelesen.

      Aus der Novelle »Lenz«, stöhnte das Zitat. Aber meine Lieben ... seid ein bißchen rücksichtsvoll, denkt daran, ich bin 140 Jahre alt.

      Wir machen da keine Unterschiede! sagte 260 635 hart. Wenn du schon so unverschämt bist, dich im Kopf von Menschen festzusetzen, bist du auch für die Konsequenzen verantwortlich. Heraus mit dem, was du zu sagen hast! Mach schon!

      »Er ging gleichgültig weiter«, sagte das Zitat mit zittriger Altmännerstimme, »es lag ihm nichts am Weg, bald auf-, bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte.« Die Wörter verblaßten, sobald sie ausgesprochen waren. Vergilbten und waren weg. Und bei »Kopf« fiel Felix Bartholdy in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

      4

      Fay Hideway hatte keinen Silikonbusen. Das sah nur so aus. Und wenn sie einen gehabt hätte? You have only one life to live, why not live ist as a blonde? Oder: Alle haben gefüllte Zähne. Ist ein gefüllter Busen etwa unnatürlicher? »Natürlich nicht«, sagten zwei von Fays Freundinnen, die mitten in einer zwölfmonatigen Kur mit acht »Schußserien« waren und nebenbei jobben mußten (steuerfrei), um die Arztrechnung bezahlen


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