Wer bist du wirklich?. Lilly M. Beck
Die Personalreferentin ist freundlich und nimmt sich viel Zeit für das sogenannte Onboarding. Sie erklärt Vicky die Besonderheiten im Unternehmen und füllt alles Nötige mit ihr aus. Sie beantragt bei der IT Vickys Schlüsselkarte und fragt dann in der Abteilung an, ob sie schon bereit für Vicky sind. Diese notiert fleißig alles Hilfreiche in ihrem Notizbuch; wo was ist und wer Ansprechpartner für was ist. Sie versucht, die Flut an Informationen und neuen Eindrücken zu verarbeiten. Die neue Karte, mit der nun ihre Arbeitszeiten gescannt werden und die gleichzeitig auch den Eintritt für fast alle Räumlichkeiten innerhalb des Gebäudes bedeutet, dient ihr vorerst als Lesezeichen.
So viele neue Dinge prasseln heute auf sie ein. Von der Firmenhistorie und Gebäudegröße über Verhaltensregeln bis hin zu all den neuen Kollegen. Nach der zweiten Stunde versucht Vicky gar nicht mehr, sich die Namen mit den Vermerken zu notieren. Die Outlookdateien und das Intranet werden ihr da sicher dienlich sein. Der einzige Name, der für sie relevant ist, ist Henri Weber. Das ist ihr direkter Vorgesetzter und einer der Chefs des Verlags. Seine Assistentin gibt den Posten zum nächsten Quartal auf. Noch kennt Vicky keinen der beiden, aber Odette hatte ihr schon verraten, dass die zwei immer für Tratsch gesorgt haben. Schon lange wird gemunkelt, dass sie eine Affäre miteinander hätten.
Vicky war zum Vorstellungsgespräch bei seinem Partner eingeladen gewesen, weil Herr Weber zu dieser Zeit geschäftlich im Ausland war. Die Assistentin war damals angeblich krank. Rückblickend waren die Umstände schon verdächtig. Aber Vicky soll‘s egal sein. Sollen die alle miteinander rummachen. Sie will einfach einen Job, um ihre Miete zahlen zu können. Jahrelang hat sie in einer kleinen Buchhandlung als Verkäuferin gearbeitet. Leider muss der kleine Laden nun schließen. Der Onlinehandel hat den kleinen Familienbetrieb einfach gekillt. Sie haben Vicky fairerweise frühzeitig signalisiert, dass sie sich besser nach einer neuen Stelle umschauen sollte. Und keine Woche später hat ihre aufmerksame Freundin dann beim Käffchen unter Kollegen aufgeschnappt, dass sich da wohl bald was ergeben könnte und sofort Vicky vorgeschlagen. Es kommt immer, wie es kommen soll. Ganz sicher. Jetzt ist Vicky hier – und das wird bestimmt noch spaßig werden.
Clara Stein, der Inbegriff einer Vorzimmerdame, beäugt Vicky abwertend von oben nach unten, als sie miteinander bekanntgemacht werden. Clara sieht aus, als sei sie einem Katalog für Assistentinnen entsprungen. Tolle Figur, unglaublich stilsicher, Brille, selbstbewusstes Auftreten. Sie schüchtert nicht nur Vicky total ein. Odette hatte ihr schon verraten, dass Clara in all den Jahren im Unternehmen keinen Anschluss gefunden hat. Vicky grinst, als ihr das Gespräch mit Odette in den Sinn kommt. Wenn das pikante Gerücht wahr ist, hat sie sehr wohl „Anschluss“ gefunden.
Leider hat Clara es im Job ziemlich drauf. Schon nach wenigen Minuten hat sie Vicky mit ihren Fähigkeiten überzeugt. Sie ist deutlich stressresistent und kann mehrere Situationen gleichzeitig ziemlich souverän jonglieren. Telefon, Kalender, Schriftsätze, permanente Anfragen von internen Mitarbeitern, ab und an von Externen, Druckereien, Messen, der Presse und Aufgaben auf Zuruf vom Chef natürlich. Nach kurzer Zeit ist Vicky so eingeschüchtert, dass sie sich sicher ist, dass sie das alles in diesem Tempo niemals beherrschen und nicht lange bleiben wird.
Odette fällt die trübe Stimmung ihrer Freundin beim Mittagessen sofort auf. Vicky schildert ihr kurz die Erlebnisse des Tages und Odette nimmt sie mit raus auf die Terrasse, um abseits der Kollegen den Nachtisch genießen zu können. Vicky hat sich eine Dose Energydrink am Automaten gezogen, um die Müdigkeit etwas in den Griff zu bekommen. Gähnend und niedergeschmettert sitzt sie vor ihrer Freundin.
„Babe, ich glaube, ich schaff das nicht. Wirklich nicht. Ich fühle mich hier total fehl am Platz. Schau mal, wie ihr alle ausseht. Wie aus‘m Katalog und ich daneben wie der letzte Bauerntrampel. Ich check nicht mal die Hälfte von dem, was Clara da macht. Ich glaube fast, das kann nur schief gehen.“
Odette rümpft die Nase und schlägt ihrer Freundin gespielt verärgert aufs Knie. „So ein Quatsch, reiß dich mal zusammen. Du bist übermüdet und kannst gerade gar nicht klar denken. Wahrscheinlich bist du eh noch bei dem Sahnestück von heute Nacht, und wer kann dir das verdenken?“ Sie lächelt wissend. „Bitte, sei so gut, trink deinen Energydrink, atme durch und schreib deinem Lover.“
Vicky lacht. „Du bist einmalig, Babe. Okay. Für heute lasse ich deine Argumente gelten, aber ich…“
„Tztztz, Ruhe. Ich will nix hören. Du hattest mir doch eben zugestimmt. Also. Dann shhht. Schreib Simon und genieß deine Restpause. Ich muss leider wieder hoch. Ich lieb dich.“
Odette küsst Vickys Kopf und nimmt das Tablett mit rein. Im gläsernen Durchgang winkt sie ihr nochmal aufmunternd zu und deutet auf ihr Handy.
„Ja, ja, Mutti“, lacht Vicky nickend und angelt ihr Handy aus der Handtasche.
Das kleine weiße Licht blinkt und ihr Herz macht einen Satz. Sie entsperrt ihr Display und liest in der Vorschau seinen Namen.
Kleines, guten Morgen, ich hoffe, du hast noch ein paar Stunden Schlaf abbekommen, bevor du zu deinem neuen Job gestartet bist. Hoffentlich bereiten dir alle einen schönen Tag und ich darf dich bald wiedersehen?
Vicky grinst. Er ist einfach so charmant. Sie hat direkt beim Lesen seine Stimme in seinem Ohr und weiß genau, wie er was betont hätte, wenn er vor ihr gestanden wäre.
Sie lächelt und sendet ihm eine kurze Sprachnachricht: „Nach diesem Tag kann ich ein paar Drinks bei dir inklusive der Hammer-Aussicht gut gebrauchen, Honey. Verrat mir, wann ich da sein darf?“
Wieder gut gelaunt steckt Vicky ihr Handy weg und nimmt den letzten Schluck von ihrem Energydrink.
Als sie die Glastür zum Assistenzbereich öffnet, sieht sie ihren Chef nur von hinten, wie er bei Clara steht und sich auf den Schreibtisch beugt. Sie sehen sehr vertraut miteinander aus und Vicky überlegt kurz, noch einen Moment zu warten, doch wo soll sie hin? Und die beiden weiter beobachten möchte sie auch nicht.
Clara kichert über etwas, dass Henri gesagt hat. Vicky ist es total unangenehm, da reinzuplatzen, und sie beschließt, sich lieber noch einen Kaffee zu holen. Leider stößt sie beim Umdrehen ungeschickt mit dem Metallverschluss ihrer Handtasche gegen Tür und schreckt das Pärchen auf. Die beiden blicken Vicky finster an.
„Shit“, entfährt es ihr und sie winkt ihnen hektisch durch die Tür zu und formt noch ein „Sorry!“.
Als Vicky ansetzt, um in die Cafeteria zu starten, reißt Clara hinter ihr die Tür auf und ein „Sofort in mein Büro“ vom Chef schlägt ihr entgegen. Langsam dreht Vicky sich um und schaut verschüchtert in Claras steinerne Miene. Die Frau schafft sie echt. Das wird ein Heidenspaß mit ihr. Drei Monate können verdammt lang sein. Vicky ist sich sicher, dass sie niemals so gut werden wird wie sie.
Clara ist ein wahrgewordener Cheftraum, was die Besetzung ihrer Position zu Vickys persönlichen Albtraum macht. Clara hält immer noch die Tür für sie auf und deutet mit dem Kopf auf den Türspalt hinter ihr.
„Man lässt ihn auf keinen Fall warten. Geh schon“, herrscht sie Vicky an.
Diese verstaut schnell ihre Handtasche unter ihrem Schreibtisch und schnappt sich den Stift samt Block und eilt aufgeregt zu Herrn Weber in die Höhle des Löwen. Sie betritt sein Büro und ist erstaunt. Hier wirkt alles so kühl. Die bodentiefen Fenster zeigen die vielbefahrene Allee hinter ihm. Vicky schließt leise die Tür und bleibt in einiger Entfernung stehen. Er sitzt mit dem Rücken zu ihr. Den Kopf schräg gelegt, Beine übereinandergeschlagen, auf eine Seite gestützt.
„Setzen Sie sich bittee, Victoria.“
Sie nimmt Platz und wartet. Eine halbe Ewigkeit passiert nichts und sie beginnt auf den Block zu kritzeln.
„Langweile ich Sie vielleicht?“, fragt er mit arrogantem Unterton.
Vicky rollt die Augen und versucht trotzdem, weiter freundlich zu klingen. „Nein, Herr Weber, natürlich nicht, ich…“
Er dreht sich langsam zu ihr um. „Nein, natürlich nicht.“
Sein Blick fixiert sie und das Blut gefriert ihr in den Adern. Vicky sitzt vor ihm wie das verängstigte Kaninchen