Wer bist du wirklich?. Lilly M. Beck
auf der Stuhlkante vor und zurück. Diese Situation ist ihr mehr als unangenehm.
„Wie läuft denn Ihr erster Tag bei uns? Gefällt es Ihnen?“ Er genießt ihre Unsicherheit.
Vicky überlegt sich kurz eine Antwort und bestätigt dann etwas zu überschwänglich: „Ja. Ja, es ist toll, Herr Weber. Es wird unmöglich werden, Frau Stein zu ersetzen, aber ich…“ Und schon im nächsten Moment ärgert sie sich über ihr Geplapper und fährt nicht fort.
„Das kann doch nicht dein Ernst sein!“, ermahnt sie sich innerlich.
Überrascht von ihrer Ehrlichkeit blickt er sie an. Er hat eine Augenbraue angehoben. „So? Ich glaube, wir schaffen das. Zusammen.“
Sie schaut ihn erstaunt an. Ist das seine Art von Freundlichkeit? Irgendwie ist der Typ ihr unheimlich. Sie nickt.
„Für heute haben wir wohl erst einmal genug Bekanntschaft geschlossen.“
Verwirrt rafft Vicky ihre Sachen zusammen. „Ähm... ja... natürlich.“
Nachdenklich setzt sie sich an ihren Platz und spielt die Unterhaltung in ihrem Kopf noch einmal in Ruhe durch. Waren da Anspielungen zwischen den Zeilen? Hat sie irgendwas übersehen? Er war regelrecht angsteinflößend. Wofür war sie denn nun überhaupt da?
„Fräulein Bauer, ich möchte Sie ja nicht stören bei was auch immer, aber wenn wir hier weiterkommen wollen, müssten Sie langsam mal mitmachen.“ Clara schnippt in die Luft und schaut missbilligend zu Vicky herüber. Alles an ihr signalisiert Abneigung.
Super freundlich nickt Vicky und zieht das „Natüüürlich“ extra übertrieben in die Länge. Sie nimmt den Block und Stift wieder vom Tisch und rutscht mit ihrem Stuhl zu ihrer Kollegin rüber. Clara erklärt ihr, wie sie E-Mails in den verschiedenen Postfächern handhaben soll und sorgt dafür, dass Vicky die Rechte schnellstens dafür erteilt bekommt. Als Vicky sich Notizen dazu machen möchte, sieht sie ihre Kritzeleien von vorhin und erschrickt furchtbar. Das kann gar nicht sein. Sie muss zweimal hinsehen…
Aus dem Durcheinander an Strichen, die kreuz und quer über die obere Ecke verlaufen, blitzt tatsächlich sein Gesicht durch.
Das muss der wenige Schlaf sein. Vicky klappt schnell das Blatt um und benutzt eine leere Seite, um festzuhalten, was sie für das Bearbeiten der Postfächer benötigt. Den restlichen halben Tag sitzt sie neben der Assistentin und versucht das Pensum mitzumachen, das Clara vorgibt. Vor Feierabend pocht ihr so dermaßen der Kopf und sie ist erschöpft. Der Tag war so unglaublich anstrengend. Herr Weber ist seit Stunden in Video-Meetings verschwunden. Vicky ist das ganz recht. Ihr Vorgesetzter verbreitet eine ganz komische Stimmung und so richtig kann sie sich die Zusammenarbeit mit ihm noch gar nicht vorstellen.
Schließlich schickt Clara sie barsch in den Feierabend. Vicky ist mehr als froh, den Arbeitstag hinter sich gebracht zu haben. Am Aufzug in ihrem Stockwerk checkt sie ihr Handy. Odette hat geschrieben und sich nach ihrem Wohlbefinden erkundigt. Und Simon. Er hat auch geschrieben. Er hat auf ihre Sprachnachricht geantwortet, dass er sie abholen werde. Im Aufzug hat sie keinen Empfang. Sie ist aufgeregt.
Als sie mit den anderen Mitarbeitern herausströmt, hält sie nach ihm Ausschau, kann ihn aber nicht ausmachen. Enttäuscht zieht sie das Handy aus der Strickjacke und will ihn anrufen. Sie läuft ein wenig die Straße rauf und hofft, dass er gleich den Anruf entgegennimmt. Tatsächlich hebt er sofort ab.
„Hey, Kleine“, sagt er sanft, und sofort strahlt Vicky übers ganze Gesicht.
„Hey“, haucht sie in den Hörer.
„Geht’s dir gut?“ will er wissen.
Vicky fängt an, von ihrem Tag zu erzählen und plappert frei drauf los. Er lacht herzlich und sie greift sich verschämt an den Kopf.
„Kein Grund, sich zu genieren. Ich mag, wenn du so erzählst“, flüstert er ihr belustigt ins Ohr.
Augenblicklich versteht sie. Sie schaut sich um und entdeckt ihn prompt auf der anderen Straßenseite. Er lehnt lässig an seinem Wagen, die Füße über Kreuz, und grinst sie an. Sie lacht und winkt ihm. Sie achtet auf die vorbeifahrenden Autos und rennt dann über die Fahrbahn. Sie haben beide währenddessen das Handy weggesteckt. Vicky bleibt genau vor Simon stehen und er umfasst direkt vertraut ihre Hüften. Bevor sie sich wegen der Begrüßung Gedanken machen kann, zieht er sie schon fest an sich, streichelt ihre Wange, greift ihren Nacken und küsst sie leidenschaftlich, lasziv, fast schon unanständig. Seine Hände wandern unter ihre Strickjacke und pressen sie am Hintern gegen ihn. Sofort spürt Vicky das Kribbeln zwischen ihren Beinen. Dieses Verlangen.
„Ich will da weitermachen, wo wir aufgehört haben.“
Er haucht das so sexy in ihren Mund, dass sie ihm auf der Stelle die Sachen vom Leib reißen und sich auf der Motorhaube von ihm ficken lassen will. Mehr als ein zustimmendes „Ich will dich“ bekommt sie aber nicht raus.
Simon tauscht ihre Positionen und hebt sie aufs warme Auto. Vicky streicht über seine Wange und küsst ihn sehr zärtlich, während ihr Puls rast und sie kaum Luft bekommt. Seine Hände ruhen an ihrem Hintern und sie schmiegt sich an ihn. Atmet seinen Duft. Diese Mischung aus Leder, Parfum und ihm… Er küsst ihren Hals und sie legt den Kopf dafür schräg. Zwischen zwei Wimpernschlägen meint sie, gegenüber jemanden stehen zu sehen, der sie beobachtet.
„Simon, da…“, macht sie Simon darauf aufmerksam.
Aber als sie beide hinblicken, ist da niemand im Laternenlicht. Es beginnt leicht zu regnen und Simon trägt Vicky auf die andere Seite des Wagens. Er öffnet geschickt die Beifahrertür und stellt sie vor sich ab.
„Mach dir keine Sorgen. Dir passiert nichts.“
Er küsst ihre Stirn, während sie fasziniert zu ihm hochschaut. Aufgeregt steigt sie ein, ohne den Beobachter ein zweites Mal zu registrieren. Den ganzen Tag wurden Schauer angekündigt, vielleicht kamen da auch ihre Kopfschmerzen her.
Verwundert stellt sie fest, dass sie vor dem Club halten. Simon rennt mit ihr durch den kräftigen Regen und hält seine Lederjacke schützend über sie, bis sie sich zusammen am Eingang unterstellen können.
„Was machen wir hier?“, fragt Vicky überrascht.
Simon zuckt mit den Schultern und schließt auf. Im Aufzug drückt er eine besondere Kombination, mit der sie nicht ganz hochfahren, sondern in einem Zwischenstock halten. In seinem Appartement. Er unterbricht den Kuss, als er merkt, dass sie angekommen sind und greift Vickys Hand. Er zieht sie mit sich und stoppt im dunklen Flur. Zwei Türen direkt vor ihnen. Er überlässt ihr die Wahl. Er schaut ihr tief in die Augen, während ihre Hände wieder auf ihren Hüften ruhen.
Er streichelt über ihre Wange und sagt: „Du entscheidest. Links Schlafzimmer. Rechts Küche.“
Vicky grinst ihn an und ihre Augen funkeln. Sie zieht ihn zu sich heran und küsst ihn. Dabei legt sie ihre Tasche ab, lässt ihre Strickjacke fallen, danach ihren Gürtel, und er hilft ihr mit dem Shirt und streift sich selbst auch die Klamotten ab. So hinterlassen sie eine Spur aus Kleidungsstücken, die ins Schlafzimmer führt. Unter Küssen sorgen sie dafür, dass sie am Bett angekommen nichts mehr tragen.
Er grinst sie an. „Du Luder.“
Sie lächelt unschuldig. „Ich weiß gar nicht, was du meinst.“
„So, das weißt du genau“, lacht er und kitzelt sie.
Sie stolpern lachend ins Bett und albern herum, bis er direkt über ihr einen ernsthaften Gesichtsausdruck bekommt und über ihre Wange streicht. „Ich mag dich, Vicky. Ehrlich.“
Sie schaut ihn an und will ihn küssen, als er sein Gesicht wegzieht. Er streichelt weiter ihren Kopf. „Kleine, du bist frei und musst gar nichts. Ich will, dass du einfach hier sein willst.“
Die zig Schmetterlinge in ihrer Magengegend sorgen bei Vicky für ein merkwürdiges Gefühl. „Küsst du mich nun endlich?“
Sie will cool und abgeklärt klingen, aber eigentlich ist es ein Flehen. Die Situation ist ihr nicht vertraut.