Die Europäische Einigung. Von 1945 bis heute. Gerhard Brunn

Die Europäische Einigung. Von 1945 bis heute - Gerhard Brunn


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Kräfte nie wieder gegeneinander richten, sondern sie zusammenführen zu einer neuen Kultur des Zusammenlebens. Und diese Idee besteht fort, ja, angesichts der Tendenzen zur Renationalisierung der Politik ist sie notwendiger denn je. Die Möglichkeit eines neuen Nationalismus ist die wesentliche Gefahr, mit der sich Europa nach der großen Wende konfrontiert sieht.« (Genscher, S. 394.)

      Der Zustand Europas und des Projekts der Europäischen Einigung am Beginn des 21. Jahrhunderts sind angemessen nur vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung seit 1945 zu verstehen. Dieser Entwicklung widmet sich die folgende Darstellung. Sie handelt von dem »Projekt Europa«, von den damit verbundenen wirtschaftlichen und politischen Interessen und Zielsetzungen der Teilnehmerländer und ihrer Zusammenführung im Einigungsprozess. Beabsichtigt ist eine chronologische politische Entwicklungsgeschichte der heutigen Europäischen Union, der Haupt- und Nebenwege und Sackgassen der Integration, der Entstehung und Aufeinanderfolge der europäischen Organisationen, ihres schrittweisen Ausbaus und ihrer Anreicherung mit einer immer größeren Aufgabenfülle und immer mehr Politikbereichen. Es versteht sich von selbst, dass die Darstellung im vorgegebenen Rahmen nur die großen Linien nachzeichnen kann, manche Aspekte nur am Rande berührt und andere überhaupt nicht behandelt. Dies betrifft u. a. die Gemeinschaft(en) als Akteur sowohl in Bezug auf die Innenpolitik(en) der europäischen Organisationen, die Agrar- oder Strukturpolitik u. a. m., als auch in Bezug auf die Außenpolitik(en), die Europäische Politische Zusammenarbeit etwa im KSZE-Prozess oder in der Jugoslawienkrise.

      Die bisherige Geschichtsschreibung zur Europäischen Integration ist von unterschiedlichen Schulen geleistet worden. Bis zur Mitte der achtziger Jahre hat die idealistische Sichtweise von der Wirksamkeit eines »grand design« die Darstellungen bestimmt, und noch heute zeugen gängige Buchtitel wie Europa machen, Der Aufbau Europas oder Geschichte einer großen Idee von der ungebrochenen Vorstellung, dass der Integrationsprozess von der Vision missionarischer aufgeklärter Eliten gesteuert worden sei. Sie hätten die Lehren aus den mörderischen Kriegen, der wahnwitzigen Übersteigerung des Nationalismus, der Selbstzerstörung Europas und seinem drohenden Absturz in die Bedeutungslosigkeit gezogen und sich an den Aufbau eines Vereinigten Europas begeben. Das ferne Ziel eines europäischen Bundesstaats vor Augen, aber bei einzelnen Schritten und Teilergebnissen pragmatisch zu Kompromissen bereit, hätten sie sich mit Leidenschaft und Geduld auf direktem Weg oder auch auf Umwegen kontinuierlich darum bemüht, Stück für Stück ein wirtschaftlich und politisch geeintes, supranationales Europa, eine politische Union Europas, im Idealfall einen Europäischen Bundesstaat zu schaffen.

      »Realistische« Historiker stellten diese Sichtweise nach der Öffnung der Archive in Frage. Die »realistische« Geschichtsschreibung sieht in der Europäischen Integration lediglich ein neuartiges Instrument im Dienst einer ganz traditionellen nationalen Außenpolitik der beteiligten Staaten, ein Instrument, mit dem die Regierungen im Interesse ihres Machterhalts zu Hause, auf europäischer Ebene die Durchsetzung »nationaler«, vorwiegend von der Wirtschaft vorgebrachter Interessen aushandeln. Die politische Geschichtsschreibung sieht hinter der Integration u. a. das Interesse der kleinen Staaten, über europäische Institutionen die Mitsprache in internationalen Angelegenheiten zu steigern, und das Interesse der größeren Staaten, mit der Unterstützung der Partnerländer in der internationalen Politik mit größerem Gewicht auftreten zu können und schwindende oder verlorene Bedeutung zurückzugewinnen. Beispielsweise habe, so lautet eine der neueren Interpretationen, die europäische Politik der Bundesrepublik Deutschland ab den siebziger Jahren in erster Linie dem egoistischen Ziel gedient, zu einer großen Macht aufzusteigen.

      Die Quellen sind so eindeutig, dass es töricht wäre zu leugnen, dass massive, von welchem Akteur auch immer formulierte, »nationale« Interessen in jeder Phase des Integrationsprozesses und bei jedem einzelnen Schritt eine erhebliche Bedeutung gehabt haben. Weil es den Partnern immer wieder gelang, im Zeichen des »Projekts Europa« ihre Interessen zusammenzuführen und weitgehend zufrieden zu stellen, kam die von Robert Schuman in seiner Botschaft vom Mai 1950 angesprochene »Solidarität der Tat« zustande, die sich freilich vorwiegend technokratisch und bürgerfern realisierte. Die Solidarität der Tat ermöglichte das Bauwerk der Europäischen Gemeinschaften. Die »schnöden« Interessen wurden einerseits mit der »Idee Europa« immer wieder aufs Neue ideell überhöht und legitimiert, andererseits war die Realität der Idee unabdingbar als gemeinsamer Fluchtpunkt der Einzelinteressen. Mit der »Idee Europa« verbanden sich Vorstellungen von einem gemeinsamen Schicksal, von gemeinsamen Werten und Traditionen, und das erleichterte es, die Interessen als komplementäre und miteinander zu vermittelnde Interessen wahrzunehmen.

      »Europa« nur aus der Interessenperspektive zu sehen hieße, an der Oberfläche zu bleiben, die im Integrationsprozess bearbeiteten Probleme nicht als Indikatoren oder Teilmanifestationen für tiefer liegende Langzeitphänomene zu begreifen und die Tiefenstruktur oder, um ein Interpretationsmodell Braudels aufzugreifen, im kurzfristigen Integrationsgeschehen die »longue durée«, die lange Welle der historischen Veränderung, nicht wahrzunehmen. Hier kommen wir wieder auf die idealistische Geschichtsschreibung zurück. Sie hat die langfristige Unterhöhlung der Funktionsfähigkeit des kleinteiligen europäischen Staatensystems als Ganzes und die zunehmende Unfähigkeit jeden Staates, seine wichtigsten Staatszwecke – Sicherheit und Frieden, Schutz vor Agressoren, wirtschaftliches und soziales Wohlergehen – zu erfüllen, richtig diagnostiziert. Nur hat sie den Fehler begangen, diese langfristigen Veränderungen, deren einzelne Elemente im zeitgenössischen Diskurs auch regelmäßig angesprochen wurden, als unmittelbar handlungsleitende Motive der »Gründungsväter« zu verstehen.

      Das organisierende Prinzip, die Leitthese der Darstellung, ist, dass dem Integrationsprozess langfristige historische Trends zugrunde liegen, dass er aber durch kollektive strategische Entscheidungen in Gang gesetzt und in seinen aufeinander folgenden Phasen vorangetrieben worden ist. Die Wahl der Akteure, Europäische Gemeinschaften aufzubauen, bezog sich auf die »Idee Europa«, aber eine klare Vorstellung vom konkreten Ziel des Einigungsprozesses gab es trotz der in der Öffentlichkeit häufiger verwendeten Begriffe »Europäische Föderation«, »Europäischer Bundesstaat« oder gar »Vereinigte Staaten von Europa« ebenso wenig wie eine zielbestimmte Aufeinanderfolge der Etappen. Die einzelnen Schritte erfolgten stets als Reaktion auf den Druck internationaler politischer Konstellationen und nationaler Interessen. Sie wurden mit Hilfe von Strategien (Kooperation, Deregulierung und Supranationalität) umgesetzt und mündeten in eine Dynamik des Auf- und Ausbaus von Institutionen und der Übertragung bisheriger nationaler Zuständigkeiten auf diese.

      Internationale Konstellationen, welche die einzelnen Schritte bestimmten, waren u. a. der Kalte Krieg, der 1947/48 zu den ersten europäischen Institutionen führte, oder 1950 der Koreakrieg, der auf amerikanischen Druck den Anlass gab, Deutschland in einen gemeinschaftlichen institutionellen europäischen Rahmen einzufügen. Die wirtschaftliche desintegrierende Krisensituation der siebziger und frühen achtziger Jahre nach dem Zusammenbruch des internationalen Währungssystems von Bretton Woods, nach der Ölkrise und dem Paradigmenwechsel vom Interventionsstaat zum Neoliberalismus drängte die Gemeinschaft ebenso dazu, die Mechanismen der Zusammenarbeit zu verstärken, wie die Furcht, technologisch hinter die USA und den neuen Wirtschaftsriesen Japan zurückzufallen. Der Zusammenbruch des Ostblocks, die deutsche Einigung und die gewaltige Erweiterung der Union nach 1989 gaben einen neuen Impuls zur Verfestigung und Vertiefung.

      Die nationalen Interessen geboten es 1947, zusammenzuarbeiten, um in den Genuss der Marshallplangelder zu gelangen. Die Montanunion diente Frankreich dazu, die Bundesrepublik Deutschland, speziell deren Schwerindustrie, zu kontrollieren, und der Bundesrepublik diente sie als Einlasskarte in die westeuropäische Staatengemeinschaft. Die Römischen Verträge von 1957 sollten den weiteren wirtschaftlichen Aufschwung sichern, Deutschland als wirtschaftliche Macht einhegen und sein ökonomisches Potential für die Partnerländer nutzbar machen. Die Erweiterungen der siebziger und achtziger Jahre waren eine Antwort auf Englands Furcht, wirtschaftlich und politisch international ins Abseits zu geraten, und das Bestreben der südeuropäischen Staaten, ihre gerade gewonnenen Demokratien abzustützen. Die Wirtschafts- und Währungsunion sollte der Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedsstaaten in einer globalisierten Wirtschaft dienen und außerdem die Hegemonie der DM verhindern.

      Idealtypisch gesehen, bedeutet »europäische Integration« die immer engere wirtschaftliche,


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