Die Europäische Einigung. Von 1945 bis heute. Gerhard Brunn
Bolschewismus« dar. Ein angeblich gemeinsamer rassischer und ideologischer Feind, eine angeblich gemeinsame geopolitische Bedrohung durch »asiatische Völker« musste herhalten, um Freiwillige und Soldaten für die Front sowie Arbeiter für die Kriegsindustrie anzuwerben.
Das Europa der Résistance
Es ist erstaunlich, dass trotz der Pervertierung des Europagedankens durch die nationalsozialistische Propaganda die Widerstandskämpfer in den besetzten Ländern selbst wie die Regierungen im Londoner Exil den Widerstand nicht allein als nationalen Freiheitskampf sahen, sondern auch als einen Kampf für ein Nachkriegseuropa, in dem eine enge institutionalisierte Kooperation die nationalistischen Dämonen bändigen würde. Der Völkerbund hatte den Frieden nicht sichern können, und der Zusammenbruch der nationalstaatlichen Ordnungen nach der nationalsozialistischen Invasion hatte die Schwächen des nationalstaatlichen Prinzips vor Augen geführt, und beides legte einen engen Zusammenschluss der europäischen Länder mit starken internationalen Einrichtungen nahe. So würde man eine dauerhafte Sicherheits- und Friedensordnung schaffen.
Dazu konnten die Politiker im Londoner Exil mitansehen, wie die USA als Kriegslieferant und praktisch alleiniger Anbieter auf dem Weltmarkt ein weltweites militärisches und wirtschaftliches Übergewicht erlangten, das alle Maßstäbe der europäischen Staaten sprengte und deren Wettbewerbsfähigkeit prinzipiell gefährdete. Den europäischen Politikern im Londoner Exil ging es daher in erster Linie um die Selbstbehauptung ihrer Länder nach dem Krieg, als sie auf Pläne zu regionalen oder umfassenderen Zusammenschlüssen aus den zwanziger Jahren zurückgriffen. Am 15. Januar 1942 unterzeichneten die jugoslawische und griechische Exilregierung in London ein Konföderationsabkommen mit der Verpflichtung zu gemeinsamen außen-, wirtschafts- und verteidigungspolitischen Institutionen. Acht Tage darauf folgten die polnische und tschechische Exilregierung mit einem ähnlichen Abkommen. Parallel dazu warb der Außenminister der belgischen Exilregierung, Paul-Henri Spaak, für einen politischen, militärischen und wirtschaftlichen Zusammenschluss der Beneluxstaaten mit Frankreich, und im Sommer 1943 gab der Führer des französischen Exils, Charles de Gaulle, den Auftrag, den unter anderen von Jean Monnet propagierten Plan einer »Föderation des westlichen Europa« eingehend zu untersuchen. Ein Jahr zuvor schon hatte der Führer des polnischen Exils, General Sikorski, in London Gesprächsrunden organisiert, in denen die Möglichkeit einer »Europäischen Gemeinschaft« der ost- und westeuropäischen Staaten ausgelotet werden sollte. Die Gesprächspartner stimmten weitgehend überein, dass es wünschenswert sei, Teile der einzelstaatlichen Souveränitätsrechte an gemeinsame überstaatliche Institutionen abzugeben, aber sie mussten erkennen, dass 1942/43 die Zeit für europäische Entwürfe der Nachkriegsordnung vorbei war. Das Schicksal Europas würde von den beiden Supermächten entschieden werden. Die USA, die ja auch in Ostasien dauerhaft Frieden stiften mussten, hatten nicht eine europäische, sondern eine Weltfriedensorganisation (UNO) im Sinn, und die Sowjetunion wollte eine Vorherrschaft in Osteuropa errichten. Mit den Vorhaben der beiden Mächte war eine europäische Föderation nicht vereinbar. Das erkannten die Exilregierungen. Sie folgten den Vorstellungen des amerikanischen Präsidenten Roosevelt und unterstützten seinen Plan, eine Weltorganisation als Instrument universaler kollektiver Friedenssicherung zu schaffen.
Allerdings blieb im französischen Einflussbereich bis 1944 eine europäische Lösung im Gespräch. Weil aber de Gaulle seine Anstrengungen unverhohlen darauf konzentrierte, ein von Frankreich geführtes Westeuropa unter Ausschluss Großbritanniens zu schaffen, konnten die Beneluxländer nicht zustimmen. Sie einigten sich auf eine kleine Lösung und vereinbarten im September 1944 eine Zollunion.
Die Exilpolitiker erörterten konkrete Projekte. Dagegen hatten die Europapläne der im Untergrund agierenden Widerstandsbewegungen, wie hätte es anders sein können, einen allgemeinen Charakter, sie waren »idealer«, schwärmerischer. In vielen Varianten traten die Verfasser für eine Abkehr von der europäischen Vorkriegsordnung ein, von einem kreuz und quer durch Grenzen geteilten Europa, dessen Schwäche und dessen Zusammenbruch sie erlebt hatten. In diesem Sinne verfassten Widerstandsgruppen unabhängig voneinander in der Tschechoslowakei, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Polen oder Jugoslawien Absichtserklärungen, nach dem Krieg eine Union der europäischen Staaten herbeizuführen. Die Motive und theoretischen Überlegungen der Autoren waren dabei trotz ihrer vielfältigen ideologischen Differenzierungen erstaunlich gleichartig.
Besonders aktive Befürworter für die Reform der europäischen Staatenwelt fanden sich in Italien. Alberto Rossi und Altiero Spinelli, der bis an sein Lebensende einer der aktivsten und prominentesten Streiter für einen europäischen Bundesstaat blieb, verfassten als politische Häftlinge auf der faschistischen Gefängnisinsel Ventotene in der ersten Jahreshälfte 1941 ein Manifest, in dem sie forderten, die nationalstaatliche Aufteilung Europas zu beenden und durch eine föderative Ordnung zu ersetzen. Die Italiener übernahmen nach ihrer Flucht in die Schweiz auch eine aktive Rolle bei mehreren dortigen Treffen von Widerstandskämpfern. Im Juli 1944 verabschiedeten Vertreter des Widerstands aus neun europäischen Ländern eine weitgehend von Spinelli ausgearbeitete Erklärung, auf die sich nach dem Krieg eine ganze Generation von Vorkämpfern für ein Vereinigtes Europa beziehen sollte. Mit eindringlicher Klarheit beschrieb sie die Notwendigkeit eines Zusammenschlusses der Staaten Europas.
Wie die Unionsprojekte der Exilpolitiker, so liefen auch die idealistischen Einigungspläne ins Leere, weil in der Weltfriedensordnung der USA, der Sowjetunion und Großbritanniens für ein Vereinigtes Europa kein Platz war. Außerdem standen die Widerstandsbewegungen mit ihren europäischen Visionen z. B. in Frankreich in Konkurrenz zur kommunistischen und gaullistischen Widerstandsbewegung, die »Europa« entweder als ein Anliegen des Kapitalismus oder der Kollaboration verdammten. Von daher ist verständlich, dass die Europäische Einigung in den Programmen der nach dem Krieg wieder auferstehenden nationalstaatlichen Parteien nur einen ganz geringen Raum einnahm.
Noch entscheidender für die Marginalisierung der Einigungspläne waren die Vorhaben der drei großen Mächte USA, UdSSR und England. Stalin stellte sich gegen jeden Zusammenschluss von Staaten in der ihm zugestandenen ost- und mitteleuropäischen Einflusszone. Der amerikanische Präsident Roosevelt seinerseits verfolgte sein Konzept einer Weltfriedensorganisation, der UNO, unter der Führung der drei großen Mächte, die hauptverantwortlich den Krieg gegen Deutschland und Japan führten. Die Alliierten würden Deutschland gemeinsam überwachen und wieder aufbauen, und in dieser Zeit würde Europa zu einer Ordnung finden, die dem Kontinent die »Normalität« zurückgeben könne. Eine europäische Organisation oder europäische regionale Zusammenschlüsse trügen nach Roosevelts Meinung den Keim zukünftiger Kriege in sich. Eine globale Organisation schien ihm das einzig wirksame Mittel zur Sicherung des Weltfriedens zu sein, und Europa hatte hinter der einen Welt zurückzustehen. Daneben hatte die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion Priorität. Roosevelt kam dem Sicherheitsbedürfnis Stalins entgegen und garantierte der Sowjetunion einen Einflussbereich in Osteuropa, um im Gegenzug von Stalin die Zustimmung zu der weltweiten Friedensorganisation und der Mitarbeit der SU zu erhalten.
Die Politik der USA, den Frieden über eine enge Zusammenarbeit der drei großen Mächte und mit Hilfe der neuen Weltorganisation (UNO) dauerhaft zu sichern, setzte sich durch. Die politischen Akteure in den wieder auferstandenen europäischen Nationalstaaten unterstützten die Politik der globalen Friedenssicherung und setzten europäische Einigungspläne nicht auf die politische Tagesordnung. Bis zu ihrer Wiederaufnahme aber sollte es nur zwei Jahre dauern.
Die Entdeckung Europas durch die USA
In den Jahren 1944/45 kehrten die Exilpolitiker überall dorthin zurück, wo die deutschen Besatzungstruppen zum Rückzug gezwungen wurden. Zusammen mit Widerstandskämpfern und Menschen, die in die »innere Emigration« gegangen waren, sahen sie ihre vorrangige Aufgabe darin, nationalstaatliche Demokratien wiederzuerrichten oder neu zu schaffen, mit den Kollaborateuren abzurechnen, ihre vom Krieg schwer geschädigten Länder wieder aufzubauen und, sofern sie Kolonialmächte waren, sich aus »nationalem Interesse« um die Erhaltung der Kolonialreiche zu bemühen. Die enormen Probleme der wirtschaftlichen Normalisierung versuchten sie im nationalen Rahmen zu lösen, obwohl ihre Länder nicht fähig waren, im Alleingang die Kriegsfolgen zu überwinden und ihren Platz im internationalen Handelsaustausch wieder zu finden. Insgesamt hatte sich