Die Europäische Einigung. Von 1945 bis heute. Gerhard Brunn

Die Europäische Einigung. Von 1945 bis heute - Gerhard Brunn


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13. Januar 2000, S. 82). Ein Jahr später, im September 1929, aber schien es, als sei der Paneuropa-Union der Durchbruch gelungen, als ihr Ehrenpräsident, der französische Außenminister Aristide Briand, eine Völkerbund-Versammlung in Genf nutzte, um eine »Art föderativer Verbindung« der europäischen Staaten vorzuschlagen. Briand bewegte nicht allein der Glaube an die Notwendigkeit einer Gemeinschaft Europas, sondern auch das handfeste nationale französische Interesse an einer Einhegung Deutschlands. Ihn trieb die Sorge um, Deutschland könne mit seiner erstarkten Wirtschaftskraft die Fesseln der in Versailles festgelegten europäischen Ordnung sprengen und als aggressive unberechenbare Macht einen neuen Krieg heraufbeschwören. Dies sollte durch eine institutionalisierte, an Regeln gebundene Zusammenarbeit der europäischen Staaten verhindert werden. Der deutsche Außenminister, Julius Curtius, und die hohen Beamten im Berliner Außenministerium vermuteten solche Absichten und bereiteten dem Plan, der im Jahre 1930 noch präzisiert worden war, mit einer diplomatisch verklausulierten Absage ein Ende. Jedoch nicht nur die deutsche Reichsregierung lehnte ihn ab, auch die übrigen europäischen Staaten waren nicht bereit, darüber ernsthaft zu diskutieren. Dies wäre vielleicht in der Zeit der kurzen Entspannung unmittelbar nach den Locarno-Verträgen von 1925 noch möglich gewesen, aber nach dem Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929/30 war der Spielraum für eine kollektive europäische Verständigungspolitik nicht mehr vorhanden.

      Stärker als in der Politik war die Bereitschaft zu konkreter europäischer Zusammenarbeit bzw. zu regionalen Zusammenschlüssen in der Wirtschaft vorhanden, um auf diese Weise die Probleme der gestörten internationalen Wirtschaftsbeziehungen zu lösen. Die Erkenntnis, dass die Wirtschaft die Ländergrenzen sprenge und auf neue Formen der internationalen Zusammenarbeit angewiesen sei, durchzog die gesamte Integrationsliteratur. In dieser wurden schon alle Theorien und Konzeptionen zu den unterschiedlichen Formen wirtschaftlicher Integration, zu Zoll-, Wirtschafts- und Währungsunionen erörtert, die nach 1945 die Diskussionen bestimmen sollten.

      Aber es gab auch einige konkrete Anläufe. Unter anderem versuchten im Jahre 1921 und erneut 1931 die Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie eine Zollunion zu gründen, ebenso 1930 die skandinavischen Staaten und die Beneluxländer. In Paris entstand 1925 ein Europäischer Zollverein mit nationalen Komitees. Er setzte sich anfangs für die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Marktes, dann aber primär für regionale Zollunionen ein. Emile Mayrisch, der Direktor des luxemburgischen Stahlkonzerns Arbed, organisierte im Rahmen des »Deutsch-französischen Studienkomitees« zahlreiche Gesprächsrunden mit dem Thema, die europäische Wirtschaft durch geregelte Formen der Kooperation aus ihrem Tief herauszuführen. Auf deutscher Seite wurde er intensiv von dem Unternehmer Robert Bosch unterstützt, und beide sind sichtbare Beispiele für ein auf Europa orientiertes gesellschaftliches Milieu, das nach dem Krieg für die Schaffung der europäischen Institutionen bedeutsam werden sollte.

      Mayrisch stand auch als treibende Kraft hinter der »Internationalen Rohstahlgemeinschaft« (IRG) des Jahres 1926. Die IRG war eine grenzüberschreitende private Kartellvereinbarung zur Regelung der Produktionsanteile in der europäischen Stahlindustrie zwischen Luxemburg, Frankreich, Deutschland und Belgien. Obwohl mit der IRG lediglich eine Aufteilung der Marktanteile und keine gemeinsame Verwaltung vereinbart wurde, diente sie Anfang der fünfziger Jahre gelegentlich als Bezugspunkt für die Bemühungen zur Vergemeinschaftung der Montanindustrie. Auch in der Forschung ist sie hier und da als Vorläuferin der Montanunion des Jahres 1951 gesehen worden.

      Waren die Vorteile einer europäischen wirtschaftlichen Kooperation auch offensichtlich, so geschah Ende der zwanziger Jahre das genaue Gegenteil. Das internationale Politiksystem zeigte sich nicht mehr in der Lage, ein auf liberalen Prinzipien beruhendes Miteinander der Nationalstaaten zu garantieren, und die protektionistische Abschottung der Volkswirtschaften wurde die Regel.

      Hitlers Europa

      In den dreißiger Jahren stand Europa dann ganz im Zeichen nationalistischer Radikalisierung. Ein europäischer liberaldemokratischer Staatenbund erschien unrealistischer denn je, wenn auch das Regime Mussolinis internationale Treffen von Faschisten, Nationalsozialisten und Persönlichkeiten der extremen Rechten, gewissermaßen eine Internationale des europäischen Nationalismus, förderte, in denen es darum ging, die Europaidee zur Unterstützung des Hegemonieanspruchs über Europa faschistisch einzufärben. Die Teilnehmer diskutierten ideologische Konstrukte wie »Neue Ordnung«, aber auch »christliches Abendland«, und wenige Jahre später versuchte das nationalsozialistische Regime seinen Krieg im Osten als einen europäischen Verteidigungskrieg zu propagieren.

      In Deutschland verboten die Nationalsozialisten nach dem Januar 1933 alle europäischen Vereinigungen sofort als pazifistisch. In anderen Ländern blieb es beim Versuch kleinerer Restgruppen, die Zeit ohnmächtig zu überdauern. Coudenhove-Kalergi resignierte 1938 und zog sich auf einen Lehrstuhl an der Columbia-Universität in New York zurück.

      Die Warnungen der Europabewegungen der zwanziger Jahre, dass die nationalstaatlichen Egoismen zu einem erneuten Krieg führen könnten, wurden 1939 grausame Wirklichkeit. Die Kriegsmaschinerie des nationalsozialistischen Deutschlands überrollte fast den gesamten Kontinent, und zu der Einsicht der kleinen Elite der Europabewegung, dass die europäischen Staaten zu klein seien für die Meisterung globaler Wirtschaftsprobleme, trat nun die massenhafte Erfahrung, dass sie auch allein auf sich gestellt nicht mehr in der Lage waren, ihren Bürgern Sicherheit vor äußerer Bedrohung zu garantieren.

      Andererseits führte der Krieg die gewaltsame Vereinheitlichung Europas unter nationalsozialistischer Herrschaft vor Augen, die Mobilisierung der Ressourcen für ein einziges Ziel. Damit gab die NS-Herrschaft über fast ganz Europa wiederum Anstöße für ein Denken in kontinentalen Zusammenhängen und regte gleichermaßen Kollaborateure wie Widerstandsbewegungen und Exilregierungen dazu an, über eine organisierte Zusammenarbeit Europas nach dem Kriege nachzudenken.

      Intellektuelle Kollaborateure in den besetzten Ländern Westeuropas interpretierten den Sieg des Nationalsozialismus als Sieg über eine morsche alte Ordnung und den europäischen Partikularismus. Der Nationalsozialismus verkörperte für eine nicht unerhebliche Zahl von Intellektuellen den Fortschritt, der mit Waffen einen großen zukunftsfähigen Wirtschaftsraum Europa schaffe, ein europäisches Europa in Bewegung; sie träumten von einer europäischen Wiedergeburt, einer europäischen Revolution, einer europäischen faschistischen Zivilisation, von einem schöpferischen und vitalen kontinentalen Block.

      Auch die Kollaborationsregierungen der besetzten Länder glaubten an den Aufbau eines neuen Europas, in dem sie einen geachteten Platz erhalten würden. Die Eigenstaatlichkeit ihrer Länder stellten sie nicht in Frage. Ihre Erklärungen und Pläne favorisierten einen Staatenbund mit einem gemeinsamen Wirtschaftsraum und koordinierter Außenpolitik unter deutscher Führung als Weltmacht Europa neben der Sowjetunion und den USA.

      Die intellektuellen wie staatlichen Kollaborateure gaben sich Illusionen hin. Realistischer urteilte der finnische Marschall Mannerheim, der 1939 meinte, die Völker Europas sollten zu »weißen Negern des Dritten Reiches« gemacht werden (zit. nach: Neulen, S. 369). Im intimen Kreis seiner Tischgesellschaften kam Hitler das eine oder andere Mal auf seine Vorstellung eines zukünftigen nationalsozialistischen Europas zu sprechen. Eine supranationale oder konföderale Ordnung Europas mit gleichen Rechten für andere Völker kam für ihn nicht in Frage. Europa sah er rassistisch, es war für ihn »kein geographischer sondern ein blutsmäßig bedingter Begriff«. Er sprach davon, den Westen, die Mitte, den Norden und Osten des Kontinents mit Waffengewalt zu einer großen Einheit zusammenzuschweißen oder zurechtzumeißeln, nicht zu einem deutschen Nationalitätenstaat nach Art der österreichischen Donaumonarchie, sondern zu einem »großgermanischen« Reich. In ihm sollten die Nationen »germanischer Blutsverwandtschaft« zu einem neuen »Staatsvolk, dem germanischen Volke« verschmolzen werden. Mit 150 bis 200 Millionen germanischen Menschen wollte er dies Reich zum unumschränkten Herrn Europas machen, zum Herrn über eine hierarchisch gestufte Staatenwelt von Vasallen- und Sklavenvölkern.

      Als aber 1942/43 die deutschen Armeen an der Ostfront in die Verteidigung gezwungen und zum Rückzug gedrängt wurden und es galt, so viel freiwillige Hilfe wie möglich zur Unterstützung der deutschen Kriegführung zu mobilisieren, nahm die NS-Propaganda in den besetzten Ländern massiv Zuflucht zur Idee der europäischen Solidarität. Gewissermaßen


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