Die Legende von Arc's Hill. Michael Dissieux
dem Gehörten Glauben zu schenken. Und doch spürte er, sehr zu seinem Entsetzen, eine plötzliche Furcht in sich aufsteigen, die sich kalt durch seinen Leib fraß und seine Gedanken lähmte.
Die Worte des Wirtes, von deren Wahrheit Mike dennoch nicht überzeugt war, tanzten wie grauenvolle Bilder vor seinen Augen und ließen ihn schaudern. Er fragte sich, wie tief altertümlicher Aberglaube in einem abgelegenen Städtchen wie Arc´s Hill in dessen Bewohnern schlummern mochte. Wie sehr durfte man solchen Worten Glauben schenken?
Ein Blick in die finsteren, nachdenklichen Augen seines Gegenübers, in Verbindung mit dem alten Tagebuch, das Mike im Keller gefunden hatte, versuchte ihn von der immer noch lebendigen Seele dieser seit Generationen überlieferten Sage zu überzeugen. Er spürte, wie sich ein uralter Glaube seinen Weg zur Oberfläche seines Verstandes zu bahnen versuchte.
Doch Mike war aus London in diesen von Gott verlassenen Landstrich gekommen. Einer Stadt, die einmal seine Heimat war und sein ganzes Glück bedeutet hatte. Eine Stadt der Hektik, der grellen Lichter und mit Wissenschaft zu belegender Realität. Daher fiel es ihm trotz der kalten Furcht, die er verspürte, schwer, den Worten des Schankwirtes die gleiche Akzeptanz entgegenzubringen, wie es der Mann mit dem finsteren Blick hinter der Theke augenscheinlich tat.
»Wenn man das Haus der Zeit hatte überlassen wollen …«, sagte Mike schließlich in die Last des Schweigens hinein und drehte sein Glas erneut zwischen den Handflächen. » … warum hat man es dann wieder zum Kauf angeboten?«
Als sich die Blicke der beiden Männer trafen, glaubte Mike in den Augen des Schankwirtes einen Anflug von Hohn aufblitzen zu sehen. Sein Gesicht jedoch blieb ernst.
»Manche Häuser wollen nicht leer stehen«, antwortete der Mann mit unvernehmbarer Stimme.
Dann ließ er Mike alleine und ging zu seiner Zeitung am anderen Ende der Theke zurück. Die Feder wippte leicht, als versuchte sie, Mike zum Abschied zu winken.
Als er an diesem Abend zurück in das alte Haus kam, das er nun als das Grady-Anwesen kennengelernt hatte, drohte ihn die finstere Stille der hohen und kalten Räume wie ein Mantel zu ersticken. Er saß in dem alten Sessel, in dem er am Mittag das Tagebuch gelesen hatte, und hielt ein Glas mit Whiskey in der Hand, den er sich im ›Knights Head‹ gekauft hatte. Er war sich sicher, dass er den wärmenden Alkohol benötigen würde, nachdem ihn die Worte des Schankwirtes derart aufgewühlt hatten.
Auch wenn er immer noch nicht dazu bereit schien, sich zu seiner inneren Unruhe und den rasenden Gedanken zu bekennen, die ihn heimsuchten, seit er die Taverne verlassen hatte.
Der Whiskey tat seine Wirkung, auch wenn die behagliche Wärme in seinem Körper ihn schmerzlich an London und endlose exzessive Nächte der Trauer und Tränen erinnerte. Mike betrachtete die Flasche auf dem Beistelltisch neben dem Sessel und schätzte sich glücklich, in dieser einsamen und unheimlichen Gegend auf ein derartiges Relikt aus der modernen Welt gestoßen zu sein. Es würden keine Abende und Nächte folgen, wie sie in London fast alltäglich gewesen waren. Dessen war er sich sicher. Doch jetzt, da er alleine in dem großen Herrenhaus saß und sich so schutzlos wie noch nie zuvor fühlte, benötigte er den scheinbaren Freund aus der Flasche, an den er sich in den letzten Monaten so sehr geklammert hatte.
Während sich sein Körper von innen erwärmte und selbst die merkwürdigen Worte des ungeschlachten Mannes aus der Taverne ihren Schrecken einbüßten, ertappte sich Mike immer wieder dabei, wie sein Blick zu dem ledernen Buch wanderte, das im Schein einer alten Öllampe neben der Flasche auf dem Tisch lag.
Das Tagebuch des Charles Ward, wie er nun wusste.
Nach den Worten des Wirtes zu urteilen, war sich Mike sicher, dass es sich bei dem Buch um eben jene Zeilen handelte, die Ward vor zwanzig Jahren niedergeschrieben hatte und die, sollte Mike je den Mut aufbringen, weiterzulesen, den beginnenden Wahnsinn des Mannes dokumentieren würden.
Doch Mike weigerte sich beharrlich, dem inneren Drang nachzugeben, das Buch zu nehmen und tiefer in Wards Abgründe einzutauchen. Stattdessen labte er sich mit geschlossenen Augen an dem scharfen Geschmack des Alkohols auf seiner Zunge und genoss das barbarische Brennen in der Kehle, dem die verführerische Wohltat sinnlicher Vereinigung von Alkohol und Trauer in seinem Körper folgte.
Auf diese – zugegebenermaßen – kindliche Art und Weise versuchte er sich, dem seit Generationen gewachsenen Aberglauben des Ortes zu entziehen.
Auch wollte er den skurrilen Aussagen des Schankwirtes keinen Glauben schenken. Zu grotesk erschienen ihm im Dunstnebel des Alkohols die Worte und Gebärden des Mannes.
Man fand derartige altertümliche Sagen und Mythen in jeder kleineren, entlegenen Stadt auf der ganzen Welt vor, so sagte sich Mike und betrachtete das Glitzern des Whiskeys im Lampenschein. Ihn überkam das Gefühl, auf die stille Oberfläche eines funkelnden Sees in der Abenddämmerung zu blicken.
Redeten die einen von Spukhäusern und unsichtbaren Gespenstern, die an die Fundamente alter, geschichtsträchtiger Häuser gebunden waren und die neuen Besitzer der Häuser in den Wahnsinn zu treiben versuchten, so erzählten die anderen von Zaubergeistern und anderen Dämonen, die man des Nachts auf verwaisten Feldern und an einsamen Wegesrändern beobachten konnte.
Keine dieser fabelhaften Geschichten, welche die schlichten Gemüter der Bewohner derartiger Orte beherrschten, konnte bislang wissenschaftlich oder rational begründet werden.
Nicht einmal einigen, in Mikes Augen verwirrten Suchern nach dem Übersinnlichen, die ihr Leben opferten, um in alten Mären und purem Aberglauben den unauffindbaren Wahrheitskern hervorzubringen, war es bisher gelungen, feststehende Beweise vorzulegen.
Eine derartige Legende besaß ihre Wurzeln seit Generationen in der Erde von Arc´s Hill. Und ein jeder, der auf diesem verfluchten Boden wandelte und sich mit den Einwohnern dieses Landstrichs einließ, wurde zwangsläufig vom boshaften Geist der Vergangenheit infiziert, so wie es bei dem Schankwirt offenkundig geschehen war.
Was Mike akzeptierte und kannte, ohne seinen Verstand in Zweifel ziehen zu müssen, waren die Legenden der Großstadt.
Hektik, Lärm und gleißender, künstlicher Schein. Diese modernen und meist maskierten Schauermärchen hatten ihn in dem unerschütterlichen Glauben erzogen, dass sich alles auf der Welt materiell und methodisch erklären ließe, und dass keineswegs Dinge außerhalb jeglicher menschlichen Vorstellungskraft existierten, die man nur mit Dämonen oder Teufeln zu erklären vermochte.
Benommen von der Wirkung des Alkohols und ermutigt von seinen eigenen leugnenden Gedankengängen, ließ sich Mike vom Rhythmus des Regens an den Fenstern ermüden. Noch ehe er sich dem unausweichlichen Gedanken hingeben konnte, sich doch noch Wards Aufzeichnungen anzunehmen, war er auch schon in jenem alten und gewaltigen Sessel eingeschlafen, in dem vielleicht sogar jener dem Wahnsinn anheimgefallene Charles Ward selbst gesessen hatte.
Kaum dass er den Atem der Ruhe und Entspannung in seinem Innern spürte, als er auch schon zurück zu den Pfaden seines illusorischen Traumes wandelte …
Ich stand am Ende jenes endlosen, bizarren Korridors aus allumfassender Dunkelheit, der mich schon einmal gefangen und zu dieser strahlenden Stadt, diesem Elysium epochaler Baukunst, geleitet hatte. Diesmal erschien mir das Dunkel nicht fremd und beängstigend. Stattdessen war ich mir sogar sicher, dass mich Etwas in dieser grabähnlichen Nacht willkommen hieß.
Mein Blick glitt voller Ehrfurcht über das Flammen der blitzenden Dächer und Türme, den blendenden Schein heller, surrealer Bauten und ausladender, makelloser Straßenzüge. Meine Augen folgten dem tanzenden Glitzern klaren Wassers, das den sich schlängelnden Flusslauf unter Brücken und Stegen speiste.
Diesmal entließ mich das Dunkel meines Traumes, ohne mich abermals widerwillig in die schreckliche Realität zurückzuziehen, und ich setzte zum ersten Mal einen Fuß auf die weiße, marmorgleiche Straße, die sich demütig zwischen den ausdrucksvollen Gärten