Die Legende von Arc's Hill. Michael Dissieux
als Frevel und unwürdig einer jeden menschlichen Seele, angesichts der majestätischen, fast kosmisch zu nennenden Eleganz dieser schweigenden Stadt.
Ich erblickte Blumen, deren Schönheit ich noch nie zuvor in meinem Leben zu Gesicht bekommen hatte; in Palastgärten, die eine eigene, wundersame Welt darstellten, einem gewaltigen, nahezu perfekten Gemälde gleich, in alle nur erdenkliche Farben getaucht. Die Paläste selbst waren monumentale Schlösser, wie sie sich der phantasievollste Geschichtenerzähler nicht ersinnen konnte, und von derart auserwähltem Reiz, dass mir die reine Anwesenheit meines unwürdigen Geistes im Schatten dieser Bauten als höchste Blasphemie erschien. Die Eingänge dieser Prachtbauten waren kolossale, kupferne Pforten, von reich verzierten weißen Säulen gestützt und mit handgeschnitzten Ornamenten verfeinert. Breite, ausladende, blendendweiße Treppengänge führten zu diesen Portalen. Mein unwürdiger, in seiner Fähigkeit begrenzter Verstand vermochte nur einen Hauch der Andeutung zu erahnen, welch prächtige Säle und Hallen sich jenseits der Einlässe verbargen. Scheinbar leer und schweigend, und doch angefüllt mit Leben, das lange Zeiten schon der Stunde des Erwachens harrte und so gegenwärtig erschien, wie die kühle Luft dieser seltsamen und fantastischen Stadt.
Doch waren diese Prachtburgen nicht das Ziel meiner nächtlichen Traumreise.
Ich schritt voran durch eine atemberaubende Stille, von einem Willen gelenkt, der nicht mein eigener schien. Vorbei an Herrenhäusern und prächtigen, uralten Fassaden mit schwerem Gebälk und blendenden Marmorsäulen, an blühenden, edengleichen Gärten, und dem glitzernden Fluss entlang, der sich verlockend und distanziert zugleich flüsternd durch dieses traumerdachte Paradies schlängelte.
Als ich den terrassenförmigen Berg erreichte, blickte ich empor zum gottesgleichen Tempel, der auf dem höchsten Balkon thronte, unnahbar und eigen, und eins erschien mit dem Weiß und Blau eines nahezu perfekten Himmels.
Wie unwürdig ich doch war …
Wie unbedeutend und klein …
Mit den Schritten eines Fremden begann ich den Aufstieg auf einem schmalen Pfad, der sich in Serpentinen um die Anhöhe wand und sich aus den Niederungen der Straßenzüge hinaufzog zum Thron der Stadt.
Dort musste ein Gott leben, dachte ich in demütiger Ehrerbietung. Nur ein Gott war würdig, einen derartigen Thron zu besteigen.
Mein Atem ging schwer, und mein Herz schlug hart in meiner Brust; das einzige Geräusch, das sich seinen Weg in meinen Traum suchte. Und doch verspürte ich nicht den Schmerz der Erschöpfung.
Dann endlich stand ich davor. Der Tempel war ein gewaltiger, von Schönheit und Wohlgestalt, von Licht erfüllter Quell all jener Freuden und Versuchungen, denen man sich nur in den geheimsten Winkeln des Bewusstseins hinzugeben vermochte.
Mächtige, mit seltsamen Hieroglyphen veredelte Säulen und Pfeiler erstreckten sich in schiere Unendlichkeit. Breite, weiße Stufen luden mich ein, sie zu ersteigen und zu einer hellen, eisenbeschlagenen und mit Gold und Kupfer veredelten Pforte zu gelangen, die einen Spalt offen stand und den Blick in ein Halbdunkel aus Unendlichkeit freigab. Demütig trat ich näher, verließ den blendenden Schein eines Tages, der mir so unwirklich erschien wie der Traum, der mich hierher geführt hatte. Ich schritt durch den Spalt der offenen Pforte, die mir so gewaltig wie das Zelt des Himmels anmutete … und fand mich in einer weiten, grenzenlos erscheinenden Halle wieder. Eine eigene, fantastische Welt, deren Beschreibung es dem menschlichen Verstand an Worten mangelte. Ich spürte, wie ich an die Grenzen meines Bewusstseins und Daseins stieß.
Inmitten dieser Halle, die der Himmel selbst hätte sein können, erblickte ich eine Gestalt.
Es war das erste Wesen, das erste Anzeichen von Leben, dem ich in dieser stillen und schlafenden Stadt begegnete. Es stand da, umgeben von gewaltigen Säulen und Fresken und Reliefs, die sich in die Unendlichkeit zu erstrecken schienen und sich in Dunkelheit verloren.
Wir sahen uns an – Sekunden, Ewigkeiten – es existierte keine Zeitspanne in diesem Traum.
Ich spürte die kolossale Macht, die von dieser Gestalt ausging, ich konnte den Willen, den Geist der Kreatur, mit jeder Faser meines Körpers fühlen.
Ich wusste nicht zu sagen, was es war. Ob ein Mensch oder gar ein göttliches Wesen, das dem Sitz und der Umgebung angemessen erschien. Denn alles, was ich erblicken und an das ich mich außerhalb meines Traumgebildes erinnern konnte, war lediglich der Schattenriss des Wesens. Es erschien mir wie ein Geist; durchscheinend und ohne jegliche feste Kontur, und doch so präsent, dass ich mich in Anbetracht der gewaltigen Stärke, die dieses Wesen auf sich vereinte, nicht in der Lage sah, meinen Blick von der Gestalt abzuwenden.
Dort, wo ich das Antlitz des Geschöpfes vermutete, bildete ich mir ein, Augen zu erkennen. Blicke, die mich trafen und meine innersten und geheimsten Gedankengänge erforschten.
Ich spürte seine Gegenwart tief in meiner Seele, eine Berührung, kalt und heiß gleichermaßen. Und doch fiel ich einem Trugschluss anheim, denn da war nichts, das ich als greifbar hätte bezeichnen können. Mal glaubte ich die Umrisse eines Menschen zu erkennen, dann sahen meine Augen die Konturen einer hageren, hoch aufgerichteten Kreatur mit langen Fangarmen und einem widerlichen Schädel, dann wiederum die Gestalt eines Tieres, das sich auf die Hinterbeine aufgerichtet hatte.
Während all dem – all der Sekunden oder Stunden oder gar Jahre – sah ich mich außerstande, mich zu bewegen, meinen Standort zu wechseln oder gar das Geschöpf aus dem Auge zu entlassen.
Dann sprach das Wesen zu mir.
Deutlich hörte ich eine Stimme in meinem Kopf. Ein leises, herrliches Flüstern, ein Raunen, von einer Ebene, weit jenseits allen Denkens und höher, als es selbst der Himmel hätte sein können …
… doch ehe mich der Sinn jener gesungenen und geflüsterten Worte erreichte, wurde ich auch schon von einer schwarzen, harten Faust gepackt und in die Eiseskälte finsterster Nacht gezogen.
Fort vom hellen Glanz der riesigen Tempelhalle.
Fort vom verführerischen Schweigen jener traumerfundenen Stadt mit ihren Palästen und Gärten und Straßen und Brücken und dem glitzernden, silbernen Fluss …
… und fort von dem übersinnlichen Geschöpf, dessen Worte sich in der Leere der Dunkelheit verloren, ehe sie mich erreichten …
… zurück in die von Regen geschwängerte, kalte Nacht und dem, was ich Leben nannte.
Die Traumvisionen waren nur schwerlich zu halten und nichts, das man hätte greifen können. Keine Bilder, keine Stimmen. Nicht einmal die schlierigen Fetzen der Dunkelheit, die ihn zu der prachtvollen Stadt führten, besaßen Substanz.
Fast erschien es Mike, als bestünde eine stabile und doch unsichtbare Grenze zwischen jener Welt, die sein Geist des Nachts erschuf, und der Trostlosigkeit seiner altbekannten Realität, die ihm so viel weniger verlockend anmutete, als seine nebulöse, verschwommene Einbildung eines Traumes.
Alles, was sich in seinem Verstand manifestiert hatte, war lediglich dieses ferne, kaum wahrnehmbare und fremdartige Flüstern, das ihn aus der Ehrfurcht gebietenden Stadt entlassen hatte, bevor es seinen Geist erreichen konnte. Nicht mehr als der Hauch eines sanften Windes über frühmorgendlichen Wiesen, wenn die Halme raschelten und das Blattwerk der Wälder seinen monotonen Gesang anstimmte.
Es waren Worte gewesen. Eine Stimme, die jenes schattengleiche Wesen an Mike hatte richten wollen, bevor ihn die Dunkelheit jäh in die erbärmlichen Fänge leiderfüllter Realität zurückgezogen hatte.
Was war es gewesen, das ihm dieses Geschöpf hatte mitteilen wollen? Welche Worte … welche Botschaft? War Mike auserwählt worden, sie als das vielleicht erste menschliche Wesen vernehmen zu dürfen?
Während der graue Abend sich allmählich in tiefste Dunkelheit wandelte, verschwendete er keinen Gedanken daran, sich um die anfallenden Arbeiten zu kümmern, die seiner harrten in den verwaisten Räumen des alten Hauses. Stattdessen hatte er ein Feuer im Kamin entzündet und sich zurück in den antiquierten