Julian und der Hexenrekord. Bodil El Jørgensen

Julian und der Hexenrekord - Bodil El Jørgensen


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sah ihm voller Neid hinterher, als der Junge der Zauberkünstlerin den Stab zurückgab und sich wieder an seinen Platz begab.

      „Jetzt kommen bestimmt die Clowns“, sagte Julians Mutter. „Das hört man an der Musik.“

      In dem Augenblick sah Julian aus den Augenwinkeln etwas, was ihn mit einem Ruck von seinem Platz aufspringen ließ.

      Ein paar Reihen hinter ihm und seiner Mutter huschte eine lange Gestalt flink wie ein Wiesel durch die Zuschauerreihe zum Ausgang. Soweit Julian es in der Eile erkennen konnte, trug die Gestalt einen langen, schwarzen Umhang. Julian kannte nur einen Menschen auf der Welt, der so einen Umhang trug. Sein Herz machte einen Doppelsalto. Was um Himmels willen hatte Posemuckelmats in diesem Zirkus zu suchen? Der große, alte Hexenspezialist hatte ja wohl kaum Zeit für so eine Art von Zeitvertreib. Julian sah ein, dass er sich geirrt haben musste, und sank in seinen Sitz zurück.

      „Da sind sie!“, flüsterte seine Mutter begeistert und stupste ihm mit dem Ellenbogen in die Seite.

      Die Clowns stolperten in einer linkischen Gangart in die Manege. Julian konnte gar nicht anders, als lachen. Ein Clown war besonders komisch. Die Zuschauer grölten vor Lachen, als er aufgeregt mit den Armen wedelte und auf der Stelle auf und ab hüpfte. Dann stolzierte er mit so gekonnt tollpatschigen Bewegungen weiter, dass man hätte meinen können, er hätte erst am Morgen desselben Tages laufen gelernt. Bei jedem zweiten Schritt stolperte er über seine eigenen Füße, vergaß, die Arme nach vorn zu nehmen, und landete direkt mit dem Gesicht in den Sägespänen. Das sah so echt aus, wie nur ein Clown es hinkriegte. Inzwischen war ihm sein Hut vom Kopf gefallen, seine rote Nase saß schief im Gesicht, und die Schminke war völlig verschmiert. Und jetzt ließ er sich auch noch auf den Hintern fallen und begann in bester Clownsmanier zu heulen, wobei er unbeholfen mit den Armen wedelte.

      Julian und seine Mutter purzelten vor Lachen fast von ihren Stühlen.

      Der Clown kam wieder auf die Beine, laut schluchzend und unter größten Mühen, und wackelte mit unsicheren Schritten an den Rand der Manege, wo er sich mit den Händen abstützte, genau dort, wo in der dritten Reihe Julian und seine Mutter saßen. Um sie herum toste der Beifall. Das Gelächter wollte gar kein Ende nehmen. Julians Mutter hatte ihre Brille abgesetzt, weil sie vor lauter Lachtränen beschlug.

      Da hob der Clown den Kopf und schaute Julian in die Augen. Für den Bruchteil einer Sekunde begegneten sich ihre Blicke. Es durchzuckte Julian. In den Augen des Clowns lag eine so abgrundtiefe Trauer, dass es Julian einen Stich ins Herz versetzte. Er vergaß ganz zu atmen. Dieser Ausdruck in den Augen erinnerte ihn an jemanden. So hatte Trampedak, die verhexte Schiffsratte, damals auch geguckt, als Julian ihn das erste Mal getroffen hatte. Das war die Trauer, die daher rührte, dass man jemand anders sein musste, als man eigentlich war. Julian streckte den Hals, aber der Clown hatte sich bereits abgewandt. Mit einem seltsamen Gefühl sank Julian auf seinen Stuhl zurück.

      Die Zirkusstimme der Zirkusdirektorin füllte erneut das Zelt.

      „Einen Extra-Applaus für den Clown Jakobi und seine Freunde. Meine Damen und Herren, das ist Clownerie von Weltklasse!“

      Während die Zuschauer wie von Sinnen Beifall klatschten, torkelte der traurige Clown aus der Manege. Die beiden anderen Clowns folgten ihm auf die ihnen eigene, tollpatschige Art.

      Jetzt war es Zeit für das große Finale, für das alle Zirkusartisten noch einmal in die Manege gelaufen kamen. Um sie herum explodierten Rauchbomben in allen Farben des Regenbogens und die Trompeter bliesen, was das Zeug hielt. Aber Julian bekam kaum etwas mit von dem Finale, weil er von einem Kribbeln im Nacken abgelenkt wurde.

      Sobald die Vorstellung zu Ende war, sprang er von seinem Platz auf und strebte auf den Ausgang zu.

      „Du hast es aber eilig“, sagte seine Mutter und folgte ihm.

      Kurz darauf standen sie vor dem Zelt zwischen lauter gut gelaunten und aufgekratzten Menschen. Julian sah sich in alle Richtungen um. Und dann sah er ihn zum zweiten Mal. Den Zipfel von etwas Schwarzem, das sich kurz bauschte, ehe es am äußeren Rand der Menschenansammlung verschwand.

      Julian griff nach der Hand seiner erstaunten Mutter und drückte sie.

      „Geh ruhig schon mal nach Hause“, sagte er. „Ich komme später nach.“

      Seine Mutter sagte, dass sie schon mal einen Kakao aufsetzen wollte. Sie winkte Julian zum Abschied zu, aber der rannte bereits in die andere Richtung davon, dorthin, wo er glaubte, dass der Umhang verschwunden sei.

      Der silberne Zauberstab

      Julian fand sich hinter dem großen Zirkuszelt zwischen lauter bunt bemalten Wohnwagen und Käfigen auf Rädern wieder. Er lief hin und her und schaute sich gründlich um. Aber er konnte nirgendwo einen schwarzen, bauschenden Umhang entdecken. Trotzdem gab er nicht auf. Einmal kam ihm einer der Artisten entgegen, dann lief ein Mann im Arbeitsoverall an ihm vorbei, aber keiner schenkte ihm Beachtung. Die Wohnwagen um ihn herum warfen im Schein der Fackeln unheimliche Schatten. Je weiter er sich vom Zirkuszelt entfernte, desto größer wurden die Abstände zwischen den Fackeln und desto dichter rückten die Schatten zusammen. Er ging langsamer und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Plötzlich fuhr er erschrocken zurück. Vor ihm riss sich ein Schatten aus den übrigen Schatten los und bewegte sich direkt auf ihn zu. Julian wurde eiskalt. Dann sperrte er erstaunt die Augen auf, als er sah, dass der Schatten eine lange, schwarz gekleidete Gestalt war. Es war niemand Geringerer als der große Hexenspezialist Posemuckelmats. Er hatte mucksmäuschenstill dagestanden und war mit den Schatten der Herbstnacht verschmolzen, eine Kunst, die er bis zur Vollkommenheit beherrschte, und die ihn für das menschliche Auge unsichtbar machte.

      „Posemuckelmats!“, rief Julian aus.

      Der große, alte Hexenspezialist hielt den Zeigefinger vor die Lippen. Wie üblich trug er neben seinem langen, schwarzen Umhang einen großen, schwarzen Hut. Sein eines Auge war mit einer schwarzen Augenklappe verdeckt. Und er hatte nur ein Ohr, das aber dafür so groß war wie ein Kaffeefilter. Er sah immer aus wie eine merkwürdige Kreuzung aus Seeräuber und Zauberer.

      Julian wäre vor lauter Wiedersehensfreude am liebsten in die Luft gesprungen. Aber dann merkte er, dass der große Mann mit dem schwarzen Umhang ihn im Schein der flackernden Fackeln scharf musterte.

      „Sieh mal einer an“, sagte er schließlich. „Wenn das nicht der kleine Schmachtlappen ist, der mir beim Kampf gegen die Hexe aus dem Zaubermoor geholfen hat! Was machst du denn hier?“

      „Ich war in der Zirkusvorstellung“, setzte Julian an. „Und da ...“

      Posemuckelmats bohrte seinen langen Zeigefinger in Julians Bauch. „So ein Luftikus“, sagte er streng und bedachte Julian mit einem durchbohrenden Blick seines sichtbaren Auges. „Wetten, dass du dich seit unserem letzten Treffen nur rumgetrieben hast!“

      Jetzt wurde Julian aber langsam ernsthaft sauer.

      „Ich hab mich nicht rumgetrieben“, schnaufte er. „Ich hab jeden Tag geübt, so lange wie möglich reglos in einer unbequemen Haltung stehen zu bleiben, mindestens drei Mal pro Tag. Und ich kann die vier geheimen Hexenregeln auswendig und werde sie niemals vergessen!“

      An dieser Stelle streckte Julian seinen Zeigefinger aus und pikste energisch zurück. Er musste den Arm ziemlich weit nach oben strecken, um an Posemuckelmats’ Bauch zu reichen. Und so standen sie voreinander, der merkwürdige Mann und der hartnäckige Junge, und piksten sich gegenseitig mit den Zeigefingern in den Bauch, während sie sich um die Wette anfunkelten.

      „Lass hören“, befahl Posemuckelmats streng.

      „Die erste geheime Hexenregel lautet: hexenspucke trennt dinge. Die zweite geheime Hexenregel heißt: hexenschnodder pulverisiert dinge. Die dritte geheime Hexenregel: hexenblut macht unsichtbares sichtbar. Und die vierte geheime Hexenregel heißt: hexentränen machen geschehenes ungeschehen“, rappelte Julian wie aus der Pistole geschossen und klar und deutlich herunter, ohne ein einziges Mal Luft zu holen.

      „Hm“,


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