Julian und der Hexenrekord. Bodil El Jørgensen
Posemuckelmats und Julian duckten sich, weil die Hexe sich plötzlich zu ihnen umdrehte.
„Und jetzt ab durch die Mitte!“, flüsterte Posemuckelmats und rannte los.
Julian war ihm dicht auf den Fersen. Kurz darauf erreichten sie den Rand des Platzes, wo ein paar Männer dabei waren, das Zirkuszelt abzubauen. Sie grüßten sie freundlich.
Posemuckelmats lief mit ausladenden Schritten und bauschendem Umhang durch den späten Herbstabend. Er wollte zu der verfallenen Hütte am Rand des Zaubermoors. Während er lief, brummte er nachdenklich vor sich hin.
„Eine Flasche mit bitzelndem Moorwasser“, murmelte er. „Das will mir gar nicht gefallen. Hexen trinken ausschließlich bitzelndes Moorwasser, wenn sie einen ganz besonderen Grund zum Feiern haben ...“ Er schüttelte nachdenklich den Kopf.
Julian folgte Posemuckelmats auf dem Fuß. Immer wenn der große Hexenspezialist einen Schritt machte, musste er zwei machen.
„Und dann diese eigenartige Rechnung auf der Rückseite des Bildes“, brummelte Posemuckelmats weiter vor sich hin. „Zehn Striche. Zehn von was? Es ist immer ein schlechtes Zeichen, wenn Hexen anfangen zu zählen. Aber was zählt sie?“
Posemuckelmats blieb ohne Vorwarnung stehen, sodass Julian gegen seinen Rücken rannte. Aber der große, alte Hexenspezialist merkte überhaupt nichts von dem Zusammenstoß. Er stand wie vom Blitz getroffen da.
„Großer, allmächtiger Hexenbezwinger!“, murmelte er. „Könnte es sein ... Ja, das könnte durchaus sein ... Sollte mich nicht wundern, wenn es ... wenn es ...“
„Wenn was?“, fragte Julian, der einmal um Posemuckelmats herumgegangen war, um nachzusehen, weshalb er stehen geblieben war
„Wenn es dabei um einen Hexenrekord ginge“, sagte der große, alte Hexenspezialist langsam.
Dann packte er Julian an den Schultern und schüttelte ihn durch.
„Was stand über den Strichen? Stand da nicht was?“, fragte er ungeduldig.
Posemuckelmats konnte ja nicht lesen, weil er in relativ jungen Jahren die Schule verlassen hatte.
„Geschmeiß zu Gewürm und Gewürm zu Geschmeiß“, antwortete Julian. „Klingt, als hätte es mit Insekten zu tun.“
„Insekten?“, schnaubte der Hexenspezialist aufgebracht. „Du Dummbeutel! Hast du den Kopf voller Buttermilch, oder was? Geschmeiß zu Gewürm und Gewürm zu Geschmeiß, das ist ein klassischer Hexenrekord! Einer der allerschlimmsten. Oh, großer, allmächtiger Hexenbezwinger, hab ich’s doch geahnt.“
„Äh, was ist ein Hexenrekord?“, fragte Julian.
„Hexen sind ganz wild auf Rekorde“, brummte Posemuckelmats abwesend. „Es gibt unendlich viele. In ganz unterschiedlichen Disziplinen. Genau, wie es bei den Menschen Rekorde im Stabhochsprung oder Tortenwerfen oder Tiefseetauchen gibt. Geschmeiß zu Gewürm und Gewürm zu Geschmeiß ist einer der gemeinsten Rekorde. Hexen bezeichnen Menschen als Geschmeiß und Tiere als Gewürm, weißt du. Und um den Geschmeiß-zu-Gewürm-und-Gewürm-zu-Geschmeiß-Rekord zu schlagen, muss eine Hexe, soweit ich weiß, an einer bestimmten Anzahl von aufeinander folgenden Tagen einen Menschen in ein Tier und ein Tier in einen Menschen verhexen.“
Posemuckelmats’ Stimme hörte sich sehr niedergeschlagen an. Er gab einen tiefen Seufzer von sich und schüttelte traurig den Kopf.
„Zehn“, fuhr er fort. „Zehn Striche auf der Rückseite des Ölgemäldes. Das kann nur eins bedeuten. Sie ist auf dem besten Weg, den Geschmeiß-zu-Gewürm-und-Gewürm-zu-Geschmeiß-Rekord zu brechen. Jeder Zweifel ausgeschlossen. Sie führt Buch darüber, wie weit sie gekommen ist. Die Nummer mit dem silbernen Zauberstab und der Mausefalle hat sie bestimmt in jedem Ort durchgezogen, in dem der Zirkus gastiert hat. Und sie hat garantiert vor, das Spielchen noch weiter fortzuführen. Die dressierten Mäuse bei ihrem Auftritt in der Manege, die Art, wie sie im Kreis herumlaufen. Ich hätte es gleich merken müssen. Das ist durchaus kein ungewöhnliches Verhalten für verhexte Menschen.“
„Die Clowns waren auch eigenartig“, sagte Julian. „Besonders der Clown Jakobi.“
Posemuckelmats hatte das Zirkuszelt noch vor der Clownsnummer verlassen. Jetzt erzählte Julian ihm ausführlich von dem traurigen Clown.
„Typisches Verhalten für verhexte Tiere“, brummte Posemuckelmats, nachdem er sich Julians Bericht bis zu Ende angehört hatte. „Sie sind extrem unsicher auf den Beinen. Hoffnungslos tollpatschig. Sind es einfach nicht gewohnt, auf zwei Beinen zu gehen Und vor allen Dingen sind sie sehr, sehr traurig.“
Eine Weile sagte keiner von ihnen etwas.
„Verflixt und zugenäht!“, platzte der Hexenspezialist wütend heraus und hob eine geballte Faust gegen den dunklen Herbstabendhimmel. „Man sollte einer Hexe das Handwerk legen, ehe sie zu hexen anfängt. Aber so eine raffinierte Hexentarnung! Eine herumreisende Hexe ist beinahe unmöglich aufzuspüren. Selbst für einen derart sensiblen Hexensensor wie meinen“, sagte er und fasste sich ans Ohr, wo sein legendärer Hexensensor saß.
„Zehn von jedem“, sagte Julian leise.
„Neun von jedem“, korrigierte Posemuckelmats ihn. „Die Hexe glaubt, es wären zehn. Aber nach diesem Abend sind es nur noch neun.“
Das war ein geringer Trost.
Julian sah das verzweifelte Gesicht des Clowns Jakobi vor sich. Beklommen dachte er an die neun Menschen, die dazu verdammt waren, als Mäuse weiterzuleben, und an die neun Mäuse, die für den Rest ihres Lebens dazu verdammt waren, als Menschen weiterzuleben. Er schielte zu Posemuckelmats hinüber und glaubte zu erkennen, dass ihm gerade genau das Gleiche durch den Kopf ging.
„Hexen werden so lange böse Pläne schmieden, bis die Welt irgendwann nur noch von verängstigten und traurigen Wesen bevölkert ist“, murmelte der Hexenspezialist düster. „Wenn ihnen nicht vorher jemand das Handwerk legt!“
Einen Augenblick stand er in Gedanken versunken da, den Rücken gestreckt und das eine Auge in weite Ferne gerichtet. Ein Windstoß fuhr unter seinen Umhang, sodass er sich stolz hinter ihm bauschte. Der große, alte Hexenspezialist war ein beeindruckender Anblick.
„Zumindest wissen wir jetzt, was die Hexe im Schilde führt und was wir zu tun haben, um das zu verhindern. Das ist ein nicht zu verachtender Vorteil, wenn man es mit Hexen zu tun hat.“
Er drehte Julian um und stupste ihn in den Rücken.
„Und jetzt ab nach Hause und ins Bett“, sagte er streng. „Wir brauchen morgen all unsere Kräfte. Wir treffen uns um die Mittagszeit an der großen Kreuzung auf der Landstraße, die nach Süden führt. Und dann begeben wir uns auf Zirkustournee.“
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