Julian und der Hexenrekord. Bodil El Jørgensen
eine zweite Zange aus seinem Umhang, mit deren Hilfe er die Klappe der Mausefalle öffnete.
„Warum benutzt du nicht einfach deine Hände?“, fragte Julian.
„Wie oft soll ich es dir denn noch sagen“, antwortete der Hexenspezialist kopfschüttelnd. „Berühre niemals etwas, wenn du dich in der Nähe einer Hexe befindest. Muss ich noch deutlicher werden?“
„Äh, nein“, nuschelte Julian verlegen. Schließlich kannte er die Antwort nur zu gut. Er hatte einfach nicht daran gedacht. Er schwor sich im Stillen, dass das nie wieder vorkommen würde.
„Na, da haben wir ja ein richtiges Prachtexemplar“, flüsterte Posemuckelmats und befreite eine Maus aus der Falle. Sie huschte schnell in die Dunkelheit und verschwand zwischen den Wohnwagen.
„War die auch verhext?“, fragte Julian, der inzwischen völlig konfus war.
„Natürlich nicht“, brummte der Hexenspezialist ungeduldig. „Das war eine ganz gewöhnliche Maus. Aber nicht mehr lange, und sie wäre verhext worden, wenn wir nicht ...“
Er nahm Julian die Maus (oder richtiger den verhexten Jungen) aus der Hand und steckte sie in die Falle. Dann schloss er die Klappe, schob die Mausefalle zurück unter den Wagen der Hexe und ließ die zwei merkwürdigen Greifer wieder unter seinem Umhang verschwinden. Er rieb sich zufrieden die Hände und zog Julian hinter sich her in den Schatten des kunterbunten Zirkuswagens. Und dort blieben sie eine ganze Weile schweigend nebeneinander stehen und warteten.
Julian sagte nichts, obgleich sein Kopf vor lauter Fragen fast platzte. Stattdessen richtete er seinen Blick genau wie Posemuckelmats stur auf die Tür des Hexenwohnwagens.
Sie mussten nicht lange warten, bis die Tür aufging, und die Hexe sich auf den oberen Treppenabsatz stellte. Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt einen knöchellangen roten Schlafrock, der mit schwarzen Zylindern bedruckt war. Sie ging die Treppe hinunter, bückte sich und zog etwas unter dem Wagen hervor. Die Mausefalle. Julian streckte den Hals.
„Hab ich’s mir doch gedacht“, hörte er Posemuckelmats ganz, ganz leise flüstern.
Die Hexe fischte die Maus (oder besser gesagt den verhexten Jungen) samt einem kleinen Käsewürfel aus der Falle und hatte plötzlich wieder die Flasche mit dem Tropfenzähler in der Hand. Sie träufelte einen Tropfen Hexenschnodder auf den Käse, der augenblicklich zu Pulver wurde. Dann setzte sie die Maus auf die Erde, blies ihr das Pulver in die Augen und sprach eine kurze Formel. Eine grün-violette Rauchwolke hüllte die Maus ein.
Es ging alles sehr schnell. Als der Rauch sich verzog, sahen sie den Jungen, der in der Manege den Silberzauberstab hatte halten dürfen, barfuß neben seinen ausgelatschten Sportschuhen stehen und sich benommen die Augen reiben.
Julian musste sich schwer zusammenreißen, um nicht vor Begeisterung in die Hände zu klatschen. Das war genial. Da glaubte die Hexe, sie würde eine arme Maus in einen Menschen verwandeln, und dabei hatte sie, ohne es zu wissen, den verhexten Jungen wieder in sich selbst verwandelt.
„Sag mal“, sagte die Hexe nachdenklich, aber mit einer gewissen Schärfe in der Stimme. „Hab ich dich nicht schon mal irgendwo gesehen?“
Julian spürte, wie Posemuckelmats hinter seinem Rücken alle Muskeln anspannte. Da breitete sich im Gesicht der Hexe das strahlende Zirkuslächeln aus.
„Sieh zu, dass du zu den anderen kommst!“, forderte sie den Jungen vergnügt auf und zeigte zu dem grünen Wagen mit der Stalltür.
Sie selbst zog sich wieder in ihren Wohnwagen zurück.
„Typisch“, flüsterte Posemuckelmats. „In den Augen einer Hexe sehen fast alle Menschen gleich aus. So wie für uns Menschen alle Tannennadeln gleich aussehen. Glück für uns.“
Der zurückverwandelte Junge zog sich gerade seine Schuhe an. Er sah leicht verwirrt aus. Dann ging er kopfschüttelnd den gleichen Weg zurück, den er gekommen war.
„Typisch“, brummte Posemuckelmats. „Er hat keine Erinnerung daran, was ihm gerade widerfahren ist. Beim großen, allmächtigen Hexenbezwinger! Wenn die Kinder heutzutage in der Schule doch wenigstens die wichtigsten Grundkenntnisse über Hexen mitbekommen würden. Also wirklich! Weil er keine Ahnung hat, dass man in etwas anderes verhext werden kann, merkt er nicht, wenn es tatsächlich passiert. Und darum nimmt er sich auch das nächste Mal nicht in Acht. In unseren Schulen lernt man nichts über Hexen. Gut, dass ich nach der Hälfte der zweiten Klasse von der Schule abgegangen bin!“
Mit diesen Worten trat der große, alte Hexenspezialist mit einem großen Schritt aus dem Schatten. Julian sah ihn mit unverhohlener Bewunderung an. Durch sein geistesgegenwärtiges Eingreifen hatte Posemuckelmats zwei Geschöpfe vor dem schrecklichen Schicksal bewahrt, in jemand anderen verhext zu werden, als sie eigentlich waren. Julian war sich sehr wohl bewusst, dass er soeben ein Beispiel von Hexenspezialistenkunst allerhöchster Güte vorgeführt bekommen hatte.
„Woher wusstest du eigentlich, dass die Hexe die Maus in einen Menschen verwandeln wollte?“, fragte er neugierig.
„Weil ich sie gestern Abend bei genau der gleichen Aktion beobachtet habe“, antwortete der Hexenspezialist leise. „Konnte es aber nicht verhindern. Leider.“ Ein schmerzlicher Zug huschte über sein Gesicht. „Hab mir schon gedacht, dass sie das Ganze heute noch mal wiederholen würde“, fuhr er fort. „Bin schon ewig hinter dieser Hexe her, habe sie aber erst gestern im Städtchen in der Heide aufgespürt und bin ihr hierher gefolgt. Ich würde ja zu gerne wissen, was sie eigentlich im Schilde führt.“
Plötzlich krümmte er sich und flitzte mit verblüffender Geschwindigkeit bis unter das Fenster vom Wohnwagen der Hexe. Julian folgte ihm. Aus dem Innern des Wagens fiel heimeliges, gelbes Licht nach draußen. Julian lief ein Schauer über den Rücken.
„Bist du bereit, wie ein geölter Blitz abzuhauen?“, flüsterte der Hexenspezialist.
Julian nickte.
„Gut. Dann riskieren wir einen Blick. Wollen wir doch mal schauen, was sie gerade so treibt. Sollte sie uns entdecken, nichts wie ab durch die Mitte! Und jetzt: eins, zwei, drei!“
Sie richteten sich beide gleichzeitig auf und spähten durch das Fenster. Julian musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um etwas sehen zu können. Das war wirklich ein edler Wohnwagen. Die Möbel und die Wände schimmerten rot und silbern. Da entdeckte Julian die Hexe. Sie stand halb abgewandt in ihrem Seidenkimono mit den Zauberzylindern vor einem roten Plüschsofa. Darüber hing ein altes Ölgemälde von einem Wanderzirkus, dessen Wagen von Pferden durch eine malerische Sommerlandschaft gezogen wurden. Mit einer schnellen Bewegung drehte sie das Ölbild um, sodass die Rückseite nach vorne zeigte. Julian spürte einen festen Griff um seinen Oberarm.
„Was ist das?!“, flüsterte Posemuckelmats dicht neben seinem Ohr.
„Was?“, flüsterte Julian zurück.
„Die Striche da. Sieht aus wie eine Rechnung oder so was.“
Jetzt sah Julian auch, dass in die hölzerne Rückseite des Bilderrahmens eine Reihe von Strichen eingeritzt waren, insgesamt neun Stück. Und über den Strichen entdeckte Julian eine geheimnisvolle Inschrift, die er nur mit Mühe entziffern konnte: Geschmeiß zu Gewürm und Gewürm zu Geschmeiß, stand da.
Die Hexe hatte die Hand aus der Tasche genommen und musterte ihren Zeigefingernagel, einen sehr langen Zeigefingernagel. Damit ritzte sie einen weiteren Strich auf die Rückseite des Bilderrahmens, direkt neben die neun bereits vorhandenen. Danach ging sie zu ihrem Kühlschrank und nahm eine große Champagnerflasche aus weißem Glas heraus. Julian merkte, wie es Posemuckelmats durchzuckte. Die Hexe hielt die Flasche gegen das Licht und bedachte sie mit einem zärtlichen Blick.
Da sah Julian, dass in der Flasche kein Champagner war, sondern uraltes, abgestandenes Moorwasser, in dem vor Fäulnis Blasen entstanden waren, die gemächlich an die Oberfläche stiegen. Es schwammen sogar ein paar Kaulquappen darin herum.
Julian schüttelte es.
„Hexen ernähren sich ausschließlich