Voll die Latte. Axel Formeseyn

Voll die Latte - Axel Formeseyn


Скачать книгу
die eigentlich gar keine richtige Insel, sondern eher eine Halbinsel ist, weil sie nämlich eine Straßenverbindung mit dem Festland hat, den Nordstrander Damm. Einen Bahnhof hat Nordstrand nicht, höchstens einen Hafen, genauer gesagt zwei, aber mit dem Schiff nach Hamburg, das geht nun nicht. Erstens wäre das wohl zu teuer und zweitens ist Papa schließlich bei der Deutschen Bundesbahn und nicht Seemann.

      Unser Zug hat Nordfrieslands Kreisstadt Husum kaum verlassen, da haben wir uns das auch schon mit den mitgebrachten Brötchen und Frikadellen und Capri-Sonnen und Lucky Lukes und Bravos gemütlich gemacht. Das gilt zumindest für Mama und Papa und meine Schwester, denn ich kann hier nicht lange gemütlich rumsitzen und Lucky Luke lesen, wo ich doch so aufgeregt wie nur was bin, schließlich fahren wir gerade zum ersten Mal ins Hamburger Volksparkstadion. Da spielt nämlich HSV, und HSV ist das Superste, was es gibt!

      Schon die HSV- Rocker, die in Friedrichstadt und Heide mit ihren Schals und Fahnen und Jeanswesten voller Aufnäher zusteigen, finde ich ja total super. Papa erklärt mir, dass die Westen „Kutten“ heißen. Woher er das wieder weiß! Aber Papa hin oder her, wenn mal jemand gefährlich ist, dann ja wohl diese HSV- Rocker! So viel steht schon mal fest. Die laufen mit HSV-Schal, -Fahne, und -Kutte und Plastiktüten voller Bier und Schnaps durch den Zug und trinken Dosenbier und rauchen. Stark! Und ich stehe an der Abteiltür und denke so bei mir: einmal in meinem Leben mit HSV-Schal, -Fahne, -Kutte und Dosenbier rauchend durch den Zug laufen, und dann gucken die kleinen Jungs aus ihren Abteilen voller Angst aus der Wäsche! Die würden dann weiter in ihren Lucky Lukes blättern und an ihren Capri-Sonnen nuckeln, während ich Dosenbier trinken und rauchen und durch den Zug gehen würde.

      So geht die Bahnfahrt weiter. Irgendwo zwischen Heide und Itzehoe weigert sich Papa zwar endgültig, mit mir auch ein drittes Mal an den HSV- Rockern vorbei zur Toilette zu gehen, aber nach so ungefähr einer Stunde stelle ich mich dann doch schon einmal vorsichtshalber auf den Flur, um die Flutlichtmasten des Hamburger Volksparkstadions auch ja nicht zu verpassen, denn die kann man von der Strecke Westerland-Hamburg-Altona gut sehen. Meine Schwester behauptet zwar immer, dass die links sind, aber ich weiß das besser, bin ja Fachmann, was ich mit einem hysterischen Schreikrampf, einem lautem „Das Stadion ist reeeechts!“ und lautem Weinen und Fluchen unterstreiche.

      Knapp vierundfünfzig Minuten später liegen sie dann vor mir auf der, wer hat’s denn gesagt, rechten Seite: die vier Flutlichtmasten vom Hamburger Volksparkstadion. Es ist ganz einfach zum Verrücktwerden: Wir sitzen in einem Zug mit den härtesten HSV- Rockern überhaupt und ich habe schon von Weitem das Volksparkstadion gesehen und gleich geht’s zum Bundesliga-Topspiel HSV gegen VfL Bochum! Wie super ist das bloß alles?!

      Nach bummelig zwei Stunden Fahrt kommen wir mit unserem D-Zug in Hamburg-Altona an, wo es gleich erst mal zu McDonald’s reingeht. Den Laden kenne ich bisher eigentlich nur von Maik, meinem besten Kumpel und Nachbarn von Nordstrand. Der war schon mit seinen Eltern drinne und schockt damit schon seit Längerem total rum. Klaro, schließlich haben wir auf Nordstrand überhaupt gar nichts, das so ist wie McDonald’s, außer vielleicht Hans Wurst. Jeden Sonntag fahren wir mit unserem von Papa frisch gewaschenen Auto mit Tempo 20 über die Insel rüber, hören Radio und kehren dann irgendwann auf eine Pommes bei Hans Wurst ein. Der Imbiss heißt Hans Wurst, weil der Besitzer Hans heißt. Hans ist übrigens einmal mit seinem

image

      Imbiss in der Fernsehprogrammzeitschrift Hörzu gewesen. Die Hörzu gehört bei uns genauso dazu wie HSV und SPD. Hör mir auf mit TV Hören und Sehen, Bayern oder CDU. Bei uns zu Hause ist die Welt noch in Ordnung. Zumindest, wenn das um Hörzu, HSV, SPD und Hans Wurst geht.

      Bei McDonald’s steht am Eingang „Hamburger Schnellrestaurant“ dran, was endgültig beweist, wie super der Tag heute ist: Wir fahren mit der Deutschen Bundesbahn, gehen ins Stadion und vorher noch in ein Restaurant! Dem Ganzen die Krone aufsetzen tut, dass da nicht nur die HSV- Rocker von gerade eben aus dem Zug drinne sind, sondern überhaupt ein ganzer Sack voller gefährlicher HSV- Rocker, die sich vor dem großen Spiel mit einer Apfeltasche, einem Erdbeer-Milchshake und einer kleinen Tüte Pommes stärken. Für mich ist das ein Gefühl, als wenn ich mitten in der HSV-Fankurve stünde, mitten in der Westkurve, und zwar nicht so außen, in Block A oder B, sondern richtig in Block E, wo das voll schocken und zur Sache gehen soll. Papa sagt nämlich immer: „In Block E kommst du nicht rein! Viel zu gefährlich, mit den ganzen Rockern!“ Tja, hat Papa gesagt, und nun bin ich schon fast in Block E, ob Papa mir das erlaubt oder nicht. Zwar nur bei McDonald’s und nicht im Stadion, aber immerhin! Wie ich so an meiner Cola schlürfe, denke ich heimlich, lass Papa man quatschen, irgendwann gehe ich auch rein in Block E. Und da ist es ja nur gut, dass ich meine bald-besten Freunde hier schon mal unter die Lupe nehmen kann.

      In der S-Bahn Richtung Stellingen-Volksparkstadion sitzen und stehen bestimmt Tausende von Fußballfans um Mama und Papa und meine Schwester und mich rum, und überall sind Aufnäher und Schals und Dosenbier und es ist ein einziges Rülpsen, Fluchen und „HSV“ -Bölken – sowas von 1a! Ganz im Gegensatz zum Spiel. Ich hab das Gefühl, dass HSV nicht ein einziges Mal auf das Tor schießt, nicht ein einziges Mal kommt HSV-Mittelstürmer Hrubesch – der wegen seiner super Kopfbälle übrigens Kopfballungeheuer genannt wird – mit dem Kopf an eine Flanke von HSV- Verteidiger Kaltz – der wird wegen seiner guten, krummen Flanken übrigens Bananen-Manni genannt – ran und da ist es ja nur logisch, dass die ganze Schose 0:0 ausgeht. Mein Papa ist ja sowieso schnell „mit den Nerven zu Fuß“ und wohl auch darum total sauer und pöbelt HSV-Mittelfeldspieler Hartwig an: „Beweg dich mal, Jimmy!“ Ich weine ein bisschen, weil erst Papa Hartwig anschreit und dann Mama Papa, weil: „Was schreist du hier so rum!“

image

      Meine Schwester, die geht mit mir dann auf der Südtribüne ein wenig spazieren, und irgendwann stehen wir zwei unten am Zaun und ich wedele wie bekloppt mit meiner kleinen HSV-Fahne rum. Ich muss schon sagen, 0:0 hin oder 0:0 her, aber wenn ich an den ersten Blick auf den grünen Rasen denke und an die vielen Zuschauer, immerhin sind hier 17.000 auf einem Haufen, fast so viele, wie Husum Einwohner hat, dann frag ich mich nur eines: Wann ist das nächste HSV-Heimspiel?

      Auf dem Fußmarsch vom Stadion zurück zur S-Bahn-Station Stellingen schaue ich mir, während Papa noch immer über das „primitive Spiel“ und die „brotlose Kunst“ rumpöbelt und Mama mit Papa wegen des ganzen Rumgepöbels schimpft und meine Schwester mit ihrem neuen Walkman beschäftigt ist, die ganzen Aufnäher auf den Kutten der HSV-Rocker an. Und im Zug nach Hause habe ich – ein Glück, dass Mama immer Papier und Stifte zum Malen dabei hat – nichts anderes zu tun, als HSV-Kutten noch und nöcher zu malen, mit den härtesten Rocker-Aufnähern weit und breit drauf: „HSV-Fan-Club Dragons“ oder „Mighty HSV!“ oder „Westkurven-Power“ oder „Number One HSV “, um hier nur die härtesten zu nennen und ohne zu wissen, was „mighty“ heißt oder „Number One“ bedeutet. Ist ja auch egal, denn ich weiß jetzt, dass ich bestimmt schon bald wieder zum HSV fahre und dass das Beste, was mir jemals in meinem ganzen Leben passieren kann, eine HSV-Jacke mit solchen Aufnähern drauf ist!

image

      25. Mai 1983

      HSV – Juventus Turin 1:0

      Ich hab den ganzen Tag draußen Fußball gespielt und mich auf heute Abend gefreut, denn ich darf länger aufbleiben, weil: HSV spielt gegen Juventus Turin im Europapokal-Endspiel! Also flitze ich, nachdem Maik und ich sämtliche Siegesvariationen schon einmal auf dem Nordstrander Fußballplatz vorgespielt haben, schnell nach Hause, springe in die Badewanne rein, spiele noch etwas mit dem Playmobil-Piratenschiff, springe aus der Badewanne raus, ziehe den Bademantel an, Puschen an, Bademantel aus, Schlafanzug an, HSV-Trikot drüber, Mütze auf, gehe noch mal pieschen, greife mir den großen HSV-Schlumpf, den ich neulich beim Husumer Jahrmarkt beim Entenangeln gewonnen habe, und ab geht’s nach unten.

      Mein Onkel aus Schweden ist übrigens zu Besuch. Er ist eigentlich gar kein Schwede, sondern nur vor vielen Jahren dahin ausgewandert. Er und Papa sind noch mal kurz zum Angeln, um uns „einen ordentlichen Fisch aus der Nordsee zu ziehen“,


Скачать книгу