Voll die Latte. Axel Formeseyn
Mordshunger.
„Mama, darf ich Würmer und Cola?“, frag ich Mama. Mama hat eigentlich die Kartoffeln schon auf dem Herd, schließlich kommen mein Onkel aus Schweden und Papa ja gleich.
„Nimm dir, was du willst“, sagt sie. Mama ist super. Nur frage ich mich, warum sie so komisch dabei guckt. Ich hab doch gebadet! Was will die denn noch?
Es ist nun schon fast acht Uhr und gleich geht das Spiel los.
„Mannomann, die beiden haben bestimmt einen Mordsfisch an der Angel, was, Mama?!“, ruf ich Mama in der Küche vom Sofa aus zu. „Mama!?“
Mama antwortet nicht, aber das ist ja auch nicht so schlimm, schließlich hab ich ja meine Würmer und Cola und gleich gibt es auch noch frischen Fisch, wenn mein Onkel aus Schweden und Papa mit ihrem Mordsfisch nach Hause kommen. Würmer und Cola und dann auch noch ein Mordsfisch und dann auch noch HSV – was für ein Abend!
Das Spiel läuft jetzt und ich vergesse so ein bisschen Würmer, Cola und den Mordsfisch.
„Heute verliert HSV bestimmt, Mama!“, sage ich zu meiner Mama.
„Die verlieren nicht!“, versucht sie mich zu beruhigen.
„Doch!“, rufe ich. Ich will mich nicht beruhigen lassen.
„Nein, tun sie nicht!“ Mama nun wieder.
„Doch“, versuche ich sie zu überzeugen.
„Okay, dann verlieren sie heute eben, wenn du das so genau weißt!“, meint meine Mama, was mich nun wieder völlig schockiert. Wie kann Mama davon ausgehen, dass HSV dieses wichtige Spiel verlieren könnte!? Ich fange ein bisschen an zu weinen und frage mich, warum Mama plötzlich kein HSV-Fan mehr ist.
Mama kommt rein und beruhigt mich, sie hätte es nicht so gemeint. „HSV gewinnt!“ Puh! Mama ist super. Und HSV gewinnt. Und dann darf heute auch noch der große HSV-Schlumpf ausnahmsweise neben mir auf dem Sofa sitzen statt, wie sonst immer, in der Ecke neben dem Fernseher. Hat Mama mir erlaubt, was ich erst nicht so ganz verstehe: „Und wo sollen dann die beiden Angler sitzen, wenn die gleich kommen?“, frag ich Mama.
„Die können stehen.“
Was meint Mama nun wieder damit? Ist ja auch egal. Hauptsache, der Schlumpf hat das schön bequem!
Ich drück mir grad bestimmt zwanzig Würmer auf einmal rein und spül die salzigen Dinger mit Cola runter, da knallt Felix Magath – der wird übrigens, weil er so gut Fußball spielen kann, Mittelfeld-Regisseur genannt – mal voll drauf und schon steht es 1:0 für HSV. Ich und der Schlumpf, der von mir ein paar Mal hoch in die Luft geworfen wird, wir flippen ein bisschen aus vor lauter Freude, und Mama, die flippt in der Küche auch aus, denn auch von da kann ich lautes Geschrei hören. Die hört wohl HSV im Radio.
„Mensch, Mama, du machst ja ganz schön Stimmung in der Küche! Wir hier aber auch! Vielleicht bringen die beiden Superangler ja eine schöne Scholle mit, was, Mama?!“, ruf ich Mama zu, damit die in der Küche mit ihren Kartoffeln und dem Radio nicht so alleine ist. Und dann bölken der Schlumpf und ich auch schon wieder rum: „HSV! HSV!“ Als Felix Magath schon wieder so einen „Super-Pass in die Spitze“ spielt, wie der Mann im Fernseher sagt, da rufe ich in Richtung Küche: „Mama! Magath hat schon wieder so einen Super-Pass gespielt! Total geil!“
Nun guckt Mama plötzlich böse um die Wohnzimmer-Ecke. „Geil? Was sind das denn hier für Ausdrücke?!“
Uiuiui. Dann lass ich das mal lieber bleiben. Dabei hat mir Maik das Wort „geil“ gerade erst beigebracht.
So läuft das Spiel vor sich hin. Und ich und der Schlumpf sitzen auf dem Sofa. Und Mama steht in der Küche. Und irgendwann sind nur noch zehn Minuten zu spielen. Gerade, als ich da so sitze und immer doller die Daumen drücke für HSV, da klopft es an der Tür und das nicht grade leise und wer kommt reinspaziert? Mein Onkel aus Schweden und Papa. Endlich sind sie da. Das Erste, was ich von den beiden mitbekomme, ist ein ganz schön lautes Rülpsen – Papa fragt Mama später, was sie denn an einem beherzten Rülpsen auszusetzen habe – von meinem Onkel aus Schweden, das bestimmt noch bei Maik und denen in der Nachbarwohnung zu hören ist.
Jetzt sind nur noch einige Minuten zu spielen und gleich ist HSV Europapokalsieger – juchhu! Ich halt es vor Spannung nicht mehr aus, da kommen mein Onkel aus Schweden und Papa endgültig ins Wohnzimmer reingestürzt. Von einem Mordsfisch ist weit und breit nichts zu sehen und die beiden sind so super-merkwürdig. Papa ruft irgendwas von wegen „Ausziehen! Alle Mann!“, während mein Onkel aus Schweden andauernd rülpst und wie am Spieß „Ja, dann is Danz op de Deel, Danz op de Deel, jümmers noch een Mal, quer so dörch den Saal!!“ schreit und dann auch noch am Fernsehgerät rumspielt und plötzlich, als sei das nicht alles schon schlimm genug, UMSCHALTET! HSV gewinnt gleich und Juventus Turin drückt auf den Ausgleich und mein Onkel aus Schweden schaltet um.
Ich frag Mama, warum die beiden so komisch sind.
„Du, wenn dein Onkel aus Schweden kommt, ist hier Saufen offenbar Pflicht“, meint Mama und sie erzählt mir, dass sich die beiden dann immer benehmen würden „wie die allerletzten Zyklopen“. Ich will Mama eigentlich gerade fragen, was ein Zyklop ist, weil, das hört sich eigentlich ganz lustig an, „Zyklop“, und ich wäre auch gerne einer, aber da hat mein Onkel aus Schweden mich schon am Wickel, hebt mich hoch, knutscht mich ab und schleudert mich herum. Papa singt: „Wo de Nordseewellen trekken an de Strand, wo de geelen Blomen blöhn in’t gröne Land!“
Ich würde so gerne wissen, ob HSV tatsächlich gewonnen hat, aber vor lauter Durch-die-Luft-geworfen-und-geschleudert-Werden und Rumgegröle und -gesinge kann ich an gar nichts mehr denken, außer daran, dass ich lieber doch kein Zyklop sein möchte. Im Wohnzimmer herrscht mittlerweile das absolute Chaos. Nur der HSV-Schlumpf sitzt ruhig und alleine auf dem Sofa, guckt aber auch irgendwie traurig aus der Wäsche.
Mittlerweile finde ich meinen Onkel aus Schweden und Papa so richtig scheiße und außerdem kommt mir vom lauter Durch-die-Luft-geworfen-und-geschleudert-Werden langsam aber sicher die Tüte Würmer hoch, als plötzlich Maik in der Tür steht. Schon aus dem Flur kann ich ihn rufen hören: „Yeah! Hast du das gesehen!? HSV hat es geschafft!“ Doch als er uns vier so fast ineinander verkeilt im Wohnzimmer sieht, da dreht Maik sich um und sagt noch im Rausgehen: „Äh, ich muss auch mal wieder rüber. Du kannst dich ja morgen mal bei mir melden…“
Als Maik längst verschwunden ist und ich oben im Bett endlich meine Ruhe habe, da denke ich: Zum Glück gewinnt HSV nächstes Jahr wieder den Europapokal. Und dann gucke ich mir das Endspiel aber in Ruhe bei Maik zu Hause an, hundertpro!
28. Juli 1983
HSV – 1. FC Kaiserslautern 5:1
(nicht „in echt“, sondern „im Spiel“)
Maik kommt vorbei und wir laufen sofort los und rauf auf den Fußballplatz. Der liegt eigentlich direkt bei uns im Garten, naja, zumindest fast. Wir wohnen nämlich gleich bei der Schule, was ja eigentlich so super wie nur was ist. Für Mama, weil, die ist Lehrerin an genau der Schule, und für mich na klaro auch, weil: Wenn das zur ersten Stunde klingelt, dann schiebe ich mir noch schnell ein Mettwurstbrot in den Mund rein, greife mir meinen Scout-Ranzen und düse los, zur Schule. Ich muss nicht lange Bus fahren, nicht groß auf das Fahrrad rauf, ich muss einfach aus der Haustür raus und quer über den Schulhof, rein in die Schule. Obwohl: Die schöne Grundschulzeit ist nun leider bald vorbei. Nach den Sommerferien muss ich in Husum zur Schule. Mama und Papa meinen wohl, ich bin neunmalschlau und darum geh ich zum Gymnasium hin oder, wie Maik immer sagt, „zum Gumminasium“, was auch immer er damit meint.
Kann na klaro auch sein, dass Mama bloß keine Lust hat, mich an der Realschule selber zu unterrichten und mich darum auf eine andere Schule schickt. Ich habe in meiner ganzen