Wege des Todes - Skandinavien-Krimi. Kirsten Holst
dass es sie noch gibt.«
Der Sohn biss sich auf die Lippe.
»Wie heißt sie, deine ... Tochter?«
»Karen. Karen Jensen. Sie trägt den Nachnamen ihrer Mutter. Sie hieß Aase«, fügte der Alte hinzu und plötzlich schien ein anderer Ton in seine Stimme zu kommen, aber der Moment war so kurz, dass der Sohn es sich vielleicht nur einbildete. »Zu einem bestimmten Zeitpunkt habe ich überlegt ... aber zum einen glaube ich nicht an Scheidungen und zum anderen ... nun ja, ich hatte ja dich und damals habe ich noch immer gehofft, dass ...«
»Lebt sie noch? Die Mutter, meine ich?«
»Nein.« Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Sie ist vor ungefähr einem Jahr gestorben.«
»Weiß das Mädchen, dass ...«
»Dass ich ihr Vater bin? Wohl kaum. Ihre Mutter war sehr verbittert. Was ich ihr nicht verdenken kann.«
»Aber wenn niemand weiß ...«
Der Alte lächelte nachsichtig. »Aber es weiß jemand. Ich bin im Kirchenbuch als Karen Jensens Vater eingetragen. Ich habe natürlich auch bezahlt, eine einmalige Summe, mein Anwalt hat alles geregelt, mach dir also keine falschen Hoffnungen.«
»Heißt das, dass diese ... dass sie genauso viel erbt wie ich? Dass sie die Hälfte bekommt?«
»Genau.«
»Das ist doch verrückt. Du wirst ein Testament machen müssen.«
»Warum?«
»Um ihr Erbe zu begrenzen. Das kann man, das weißt du mit Sicherheit. Sie braucht nur ihren Pflichtteil zu bekommen. Es ist doch Wahnsinn, einem völlig fremden Mädchen mehrere ... Millionen zu hinterlassen.«
Der Alte warf ihm einen säuerlichen Blick zu. »Soweit ich weiß, gibt es andere wildfremde Mädchen, die – und ohne den Segen der Kirche – mindestens genauso viel bekommen haben, deshalb verstehe ich nicht, warum du dich so aufregst. Wenn die Firma Carl F. Bruun und Sohn noch existieren würde, wäre das etwas anderes. Dann hätte ich schon längst die nötigen Maßnahmen getroffen, um die Firma nicht teilen zu müssen, aber das ist nicht länger aktuell und jetzt bleibt es so, wie ich gesagt habe.«
»Du willst also einem wildfremden Mädchen ...«
»Sie ist fünfunddreißig.«
»Dann sagen wir eben einer wildfremden Frau, und ihr willst du dein halbes Vermögen vererben!«
»Die Reste davon, ja.«
»Einem unehelichen Kind, dass du dir mit einem billigen Frauenzimmer zugelegt hast.«
Der Alte richtete sich im Bett auf. »Pass auf, was du sagst. Ich kann noch immer ein Testament aufsetzen und ich verrate dir, dass ich nur eine Frau gekannt habe, auf die der Ausdruck, den du eben gebraucht hast, passt – nämlich deine Mutter.«
Der Sohn schwieg, während ein Wangenmuskel zitterte.
»Ja, aber warum?«, fragte er schließlich. »Warum?«
»Weil sie meine Tochter ist. Möglich, dass sie grässlich ist, ich weiß es nicht, ich kenne sie, wie gesagt, nicht. Aber jedenfalls hat sie mich nie enttäuscht. Deshalb bleibt es dabei.« Der alte Mann schloss die Augen. »Sei so nett und geh jetzt. Du ermüdest mich. Und du brauchst nicht öfter hierher zu kommen. Ich glaube nicht an deine Sohnesliebe, deine Besuche sind mir keine Freude und dir bestimmt auch nicht. Du kommst doch nur aus bloßer Konvention.«
Der Sohn stand auf. In seinem Gesicht arbeitete es.
»Aber Vater ...«
Der alte Mann öffnete die Augen und sah ihn kalt an.
»Geh!«, sagte er. »Kannst du mich nicht wenigstens in Frieden sterben lassen?«
Carl Bruun junior setzte sich in seinen neu erworbenen BMW 735. Das größte Schnäppchen aller Zeiten. Erst gut drei Jahre alt, nur ein Vorbesitzer und das für 365.000 Kronen. So gut wie geschenkt für das Geld, aber so etwas konnte der Alte nicht verstehen.
Er steckte den Schlüssel ins Zündschloss, doch dann kam er ins Grübeln und sah eine Weile mit leerem Blick auf die nasse Fahrbahn.
Zwölf Millionen!
Er hatte mit zwölf Millionen gerechnet.
Natürlich brauchte er Geld.
In dem Punkt hatte der Alte Recht.
Die Agentur war ein Flop gewesen. Kundenstamm inklusive. Es hatte nach dem besten Geschäft aller Zeiten geklungen. Er hatte Büroräume gemietet und eine Sekretärin eingestellt, die die laufende Büroarbeit erledigen und die Bestellungen entgegennehmen sollte. Von den Massen von Kunden. Sie verdiente nicht einmal ihren eigenen Lohn, sondern strickte von morgens bis abends Pullover, wenn sie nicht – der Telefonrechnung nach zu urteilen – Telefonate mit der Familie und Freunden in Timbuktu oder Rio führte oder wo zum Teufel das Weib auch anrief. Und dann waren da die Büromiete und die Ausgaben für die Hardware und diesen Wirtschaftsprüfer, der ihm mit feierlicher Stimme geraten hatte, die Eigentumswohnung zu verkaufen. Er hätte ja noch das Sommerhaus. Okay, er hatte verkauft. Er war quasi obdachlos und was hatte es genutzt? Nichts, gar nichts. Er hatte noch immer Schulden von über einer Million und sie wuchsen mit jedem Tag, der verging. Verdammt noch mal, er musste doch auch leben.
Zwölf Millionen!
Er hätte seine Schulden bezahlen und die Agentur vergessen können; richtig angelegt, hätte der Rest genug gebracht, um anständig zu leben. Vielleicht in Spanien, in Portugal oder auf den Kanarischen Inseln. Da sparte man auch Geld durch die Wärme. Das elende Sommerhaus schluckte Öl wie andere ihren Whisky. Eine Minute Wärme pro Zentiliter.
Der Alte wusste nicht, dass die Eigentumswohnung verkauft war.
Der Alte wusste auch nicht, dass er sich den BMW gekauft hatte.
Er brauchte nicht alles zu wissen.
Aber vielleicht wusste er es trotzdem.
Er hatte es immer verstanden, anderer Leute Geheimnisse auszugraben.
Seine eigenen Geheimnisse hatte er offenbar geheim halten können.
Zwölf Millionen!
Der Alte hielt ihn für einen Idioten, aber man brauchte weder ihn noch das Staatsexamen in Mathematik, um sich ausrechnen zu können, dass die Hälfte von zwölf Millionen sechs Millionen waren.
Sechs Millionen und eine lausige alte Villa, nein, die Hälfte einer lausigen alten Villa. Und dann kamen noch Erbschaftssteuer und Teilungsgebühren und weiß der Teufel, was noch hinzu, sodass er bestimmt nur noch vier Millionen haben würde, wenn seine Schulden erst bezahlt waren, und wer konnte schon von vier Millionen anständig leben, es sei denn, man fand ein bombensicheres Geschäft?
Ein bombensicheres Geschäft?
Vielleicht ließ sich mit dem Hurenkind reden.
Vielleicht sah sie zudem noch gut aus.
Nein, zum Teufel, sie war seine Schwester, das ging also nicht. Zwar nur seine Halbschwester, aber trotzdem.
Karen Jensen.
So hieß sie also. Und ihre Muter hieß Aase.
Vielleicht war Karen Jensen für ein Joint Venture zu haben.
Aber wenn nicht, dann ...
Karen Jensen.
Warum hatte er den Vater nicht gefragt, wo sie wohnte?
Wo sie geboren worden war?
Hier im Land musste es Tausende Karen Jensens geben.
Aber verreist war der Alte nie.
Er konnte sich noch an seine Schritte auf dem Gartenweg erinnern. Jeden Abend um 18.30 Uhr, pünktlich auf die Minute.
Es lag also nahe, dass sie hier aus der Stadt war.
»Sie