Mörder im Hansaviertel. Frank Goyke

Mörder im Hansaviertel - Frank Goyke


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      Barbara Riedbiester hockte vor einem Aktengebirge, das einem Besucher von der Tür her den Eindruck vermittelt hätte, sie verschanze sich dahinter. ›Alles eine Frage der Perspektive‹, dachte sie. Sie verschanzte sich keineswegs, sondern siebte aus der Unmenge von Material all das aus, was sie für die morgige Tatortbegehung brauchen würde – alle Akten konnte sie schon deshalb nicht mitnehmen, weil sie nur einen Vormittag Zeit hatte. Wichtig war zunächst einmal alles, was den Tatort betraf, den sich Barbara Riedbiester und ihr Kollege Jonas Uplegger noch einmal anschauen wollten, ohne dass die geringste Chance bestand, etwas zu finden, das mit dem Mord in Zusammenhang stand, denn seither waren fast 14 Jahre vergangen.

      Immer wieder einmal hatte der Chef der Rostocker Mordkommission den in der Presse als Biendorfer Waldmord bezeichneten Fall auf die Tagesordnung gesetzt, aber der Waldwegemörder, wie er ebenfalls von den Medien getauft worden war, war immer noch nicht ermittelt. Inzwischen hatte es sich im Rahmen der Anglisierung der deutschen Sprache durchgesetzt, solche ungeklärten Fälle als Cold Cases zu bezeichnen, sogar in Polizeikreisen selbst. Vor allem Filme hatten dazu beigetragen. Die Allgemeinheit glaubte auch, bei der Polizei würden die Profiler ermitteln, während die entsprechenden Abteilungen »Operative Fallanalyse« hießen und keine Ermittlungshandlungen durchführten – Operative Fallanalyse war natürlich eine sperrige und wenig eingängige Bezeichnung. Sie seufzte. In einer Welt, in der es keinen Unterschied zwischen Lüge und Wahrheit mehr gab, glaubten die Leute dennoch daran, dass Fernsehfilme die Realität abbildeten. Mehr noch, sie schufen eine Realität, die für viel realer gehalten wurde als die Wirklichkeit, die die Menschen umgab – und die ja vielleicht nur der Traum eines schlafenden Gottes war, eines seinen ewigen Rausch ausschlafenden Gottes, um genau zu sein. Barbara seufzte erneut. Sie hatte das Gefühl, alles um sie herum würde sich zunehmend in Absurdität auflösen. Früher hatten manche Leute die DDR als Absurdistan bezeichnet, durchaus zu Recht. Aber die jetzige Welt war ein Absurdistan hoch drei.

      Doch wie hieß es so schön? »So what?« Barbara Riedbiester hatte unlängst eine Solderhöhung erhalten und bekam nun 4500 Euro im Monat, darüber konnte sie sich weiß Gott nicht beklagen. Im Gegenteil, das war ein hübsches Sümmchen für eine alleinstehende Person, von der sie einiges zur Seite legen konnte, und inzwischen wusste sie auch, wofür sie sparte: für sich.

      Durch die angelehnte Tür trat Jonas Uplegger zu ihr in das Dienstzimmer, das sie sich teilten. Daran hatte der Umzug von der zugigen Polizeiruine in der Blücherstraße in die Ulmenstraße nichts geändert. In dem Altbau von 1920 hatte wohl schon immer die Polizei residiert, und Barbara Riedbiester erinnerte sich noch an die Zeiten, als hier das Volkspolizei-Kreisamt Rostock seinen Sitz hatte. Inzwischen hatte man das Gebäude saniert und um einen langgestreckten Neubau an der Hansastraße erweitert, in dem die Kriminalpolizeiinspektion Rostock mit ihren 120 Mitarbeitern untergebracht war, mittenmang die Hauptkommissare Riedbiester und Uplegger. Die Fenster waren dicht, die Möbel fielen nicht mehr auseinander, die Technik funktionierte – nach all den Leidensjahren in dem heruntergewirtschafteten Bau in der City kam sich Barbara noch immer wie im Paradies vor. Nur die Kollegen waren keine Engel geworden, und wer blöd gewesen war, der war es auch geblieben. Leider gab es, jedenfalls aus ihrer Sicht, viel zu viele blöde Polizisten, aber es gab ja auch blöde Ärzte, blöde Nachbarn und blöde Hundebesitzer – nur nicht so viele!

      »Na, Kollege! Brauchen Sie Nachschub?« Barbara schob vier Ordner an den Rand ihres Schreibtisches.

      Uplegger war damit beschäftigt, die Akten in den Hof zu tragen und dort im Kofferraum eines Dienstwagens zu verstauen. Er war alles andere als blöd, trotzdem konnte sie ihn zurzeit nur schwer ertragen, denn er erlitt, wie sie es gern nannte, seit Wochen eine Co-Schwangerschaft. Vor etlichen Jahren hatte er sich in eine Zeugin verguckt, eine Lehrerin am Ostseegymnasium Evershagen namens Kerstin Lindner, und wie immer er es auch angestellt hatte, inzwischen lebten sie zusammen. Es schien eine sogenannte große Liebe zu sein, und nun erwarteten sie auch noch »was Kleines«.

      Barbara, inzwischen mit den Risiken einer späten Schwangerschaft bis zum Überdruss vertraut, sah ihm an der Nasenspitze an, dass er gerade mit Kerstin telefoniert hatte. Das Schlimme war, dass mit der Geburt erst in sieben Monaten zu rechnen war, Barbara also sieben Monate wochentäglicher »Lageberichte von der Schwangerschaftsfront« bevorstanden – und so bösartig war sie nicht, ihm eine Frühgeburt an den Hals zu wünschen. In schwachen Momenten allerdings …

      »Ich mache Feierabend«, sagte Uplegger und klemmte sich je zwei der Ordner unter beide Arme. »Mehr als die Tatort- und Spurenakten können wir sowieso nicht durchackern.«

      »Wir schaffen nicht mal die«, erwiderte Barbara. »Es ist nur mein Perfektionismus, dass ich uns belade wie Lastesel. Oder mein Komplettierungswahn.«

      »Wir müssen’s ja nicht schleppen.« Uplegger war bereits an der Tür. »Ich hole morgen den Wagen und stehe acht Uhr vor Ihrem Haus.«

      »Wie abgemacht. Grüße an Kerstin.«

      »Danke. Werde ich ausrichten. Schönen Feierabend!«

      »Dito.« Barbara betrachtete noch einmal die Akten-Alpen, griff nach drei Ordnern, die sie bereits beiseitegelegt hatte, und schob diese in eine Ikea-Tragetasche namens FRAKTA, die 71 Liter fasste und sich ausgezeichnet zum Transportieren von vielen Ordnern eignete – für bloß drei war sie viel zu groß. Einen schönen Feierabend würde Barbara nicht haben, da sie sich vorgenommen hatte, daheim die wichtigsten Fakten zum Waldwegemord zusammenzutragen. Sowohl sie als auch Uplegger hatten seinerzeit der Sonderkommission angehört, die den Namen der getöteten Frau getragen hatte, aber sie beide hatten den Tatort nie gesehen. Sie kannten ihn nur aus der Lichtbildmappe. Da sie den Cold Case wieder einmal aufwärmten, war es an der Zeit, sich vor Ort umzuschauen, um ein Gefühl für ihn zu bekommen.

      Es war kurz vor halb sechs, als Barbara auf dem Parkplatz die hintere Fahrertür ihres erst ein Jahr alten fahrbaren Untersatzes öffnete und FRAKTA auf den Rücksitz stellte. Ein neuer Wagen war schon lange fällig gewesen, aber wie immer bei größeren Anschaffungen hatte sie sich nicht entscheiden können; das hatte sich bei ihr nicht geändert. Ansonsten hatte sie ihr Leben vollkommen umgekrempelt: Seit fast acht Jahren trank sie keinen Tropfen Alkohol mehr, und sie hatte beachtliche 19,5 Kilogramm abgespeckt. Damit war sie immer noch mehr als vollschlank, aber immerhin.

      Barbara schloss die hintere Autotür, öffnete die Fahrertür und stieg ein. Sie war sich durchaus bewusst, dass sie diese großartige Leistung nicht nur sich selbst, sondern auch anderen verdankte, nämlich der Polizeipsychologin Christiane Grünberg, die inzwischen leider nicht mehr in Rostock arbeitete, sowie dem »Trockendock«, einer Selbsthilfegruppe für Alkoholiker. Hier hatte Barbara zunächst gelernt, ihre Krankheit anzunehmen und sich selbst als Alkoholikerin zu begreifen – und sich so zu nennen. Aber ein noch viel größeres Wunder war geschehen, sie hatte eine Freundin gefunden! Eine beste Freundin wie Barbara sie zuletzt in ihrer freudlosen Grevesmühlener Kindheit gehabt hatte.

      Barbara verließ den Parkplatz und bog nach rechts in die Maßmannstraße. Immer wieder einmal fragte sie sich, wer dieser Maßmann wohl gewesen sein mochte. Zur DDR-Zeit hatte die Straße Leninallee geheißen, aber als das Quartier in den Zwanziger- oder Dreißigerjahren erbaut worden war, das wusste sie, war diese Straße nach Maßmann benannt worden und hatte nach der Wende den alten Namen zurückbekommen. Doch: Who the fuck was Maßmann? Ab und zu nahm sie sich vor, ihn zu googeln, doch rasch vergaß sie es wieder.

      Nachdem Kriminalhauptkommissarin Riedbiester in die Lübecker Straße eingebogen war, stand sie im Stau.

      Fast zwei Stunden hatte Liselotte Hagemeister warten müssen, bis sich eine Polizeistreife in die Schliemannstraße bequemt hatte. Die beiden Polizisten waren jung und durchaus attraktiv: der eine blond mit einem Dreitagebart, der andere dunkel und womöglich sogar ein Ausländer. Dass es so gutaussehende Polizisten in Rostock gab, war der ehemaligen Lehrerin bisher entgangen. Der Anblick war also erfreulich, nicht aber die Art, wie die beiden eine alte Dame behandelten.

      »Seit Montag, sagen Sie?«, fragte der Dunkelhaarige.

      Frau Hagemeister lauschte nach einem Akzent, hörte aber keinen. Nun schon zum dritten Mal erklärte sie, dass ihre Nachbarn Dorothee und Michael Klaas am Montag in einen etwa dreimonatigen Segelurlaub


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